Read the book: «Sand und Asche»

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Peter Gerdes

Sand und Asche

Langeoog-Krimi


Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals »Ostfriesische Krimitage«. Die Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © chrisaram2 / pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6466-9

Widmung

Für J. K.

1.

Sie spürte es brennen. Sie spürte sich brennen. Endlich.

Feuer. Verzehrendes Feuer, reinigendes Feuer. Sie seufzte erwartungsvoll bei dem Gedanken, dass dieses Feuer alles verbrennen würde, was nicht wirklich zu ihr gehörte. All das, was nur an ihr hing wie kiloschwere Kletten, das an ihrem Selbstbewusstsein saugte wie eklige Egel, das um sie herumwallte wie Fett gewordene Häme. Das gute, das herrliche Feuer würde ihr wahres Ich aus diesem widerlichen Kokon herausschälen. Herausbrennen. Herrlich. Endlich.

O loderndes Feuer. O göttliche Macht.

Wo kam das jetzt auf einmal her? Sie grinste. Kaiser Nero in Quo vadis, diesem schwülstigen Hollywoodschinken, den sie sich in der Schule hatte anschauen müssen. Peter Ustinov als fette Witzfigur. Nero, der Rom verbrennen ließ, der das verkommene Alte beseitigte, um Platz für das herrliche Neue zu schaffen. Die Römer hatten ihn erst vergöttert, dann gefürchtet, schließlich hatten sie ihn für verrückt erklärt.

Was wussten denn die!

Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr ganzes Zimmer hing voller Spiegel, zwei davon reichten bis zum Boden. Keiner davon war fest montiert, denn die anderen durften sie nicht sehen. Wenn sie richtig stand, konnte sie ihren Körper von allen Seiten zugleich betrachten. Nackt, ungeschönt, schonungslos. Aufgelöst in Facetten, in Fragmente zersplittert, in Stücke gebrochen. In Teile, die so viel mehr waren als das Ganze.

Ihren Körper so zu betrachten, war eine furchtbare Qual, der sie sich trotzdem immer wieder aussetzte. Weil das nötig war. Weil sie es einfach tun musste. Weil sie sich immer wieder darin bestärken wollte, unbarmherzig zu sein gegenüber ihrer eigenen Unvollkommenheit. Das Unerträgliche musste immer aufs Neue ertragen werden, damit man es nicht ewig ertragen musste.

Natürlich kannte sie ihre Schwachstellen gut. Die schwabbeligen Hüften, den fetten Po, diese viel zu dicken Oberschenkel, diese monströsen Titten. Niemandem sonst war dieser Anblick zuzumuten. Deshalb trug sie auch immer Kleidung, die diese Katastrophe kaschierte, so gut es eben ging. Weite, fließende, locker fallende Klamotten, die nichts zeigten, nichts betonten oder hervorhoben, sondern alles verhüllten, was zu verhüllen war.

Sie wusste selbstverständlich genau, dass das nicht wirklich funktionierte. Dass alle anderen Menschen sie trotzdem als das wahrnahmen, was sie war: ein fetter, klopsiger Trampel, ein Monstrum, das es eigentlich nicht verdient hatte, in der Gegenwart anderer, wirklicher Menschen geduldet zu werden. Jeder sah das, jeder wusste das. Aber man schien ihren Versuch, die Belästigung der Umgebung durch ihre widerwärtige Erscheinung so gut es ging zu mindern, doch anzuerkennen. Jedenfalls insoweit, als niemand mit dem Finger auf sie zeigte, dass sie nicht öffentlich verlacht, geschmäht und davongejagt wurde. Man benahm sich ihr gegenüber rücksichtsvoll. Aber die vielen versteckten Blicke, die sie registrierte, ohne dass jemand das bemerkte, zeigten ihr doch immer wieder, was Sache war. Rücksicht war eben nur eine milde Form der Verachtung.

Und sie selbst hatte für sich, für ihren Körper, nicht einmal Rücksicht übrig.

Sie stöhnte. Das Feuer in ihr brannte heiß, so heiß, dass sie keuchen musste, um ihm genügend Atemluft zuzuführen. Sauerstoff, den es brauchte, um sein gnädiges Zerstörungswerk gründlich zu verrichten.

Heiß brannte es, aber nicht heiß genug. Sie kannte die Vorschriften, aber diejenigen, die diese Vorschriften verfasst hatten, kannten ganz bestimmt nicht sie. Konnten nicht wissen, welch herkulische Aufgabe es hier zu verrichten und zu vollenden galt. Also weg mit den Vorschriften. Das Feuer musste heißer brennen, musste immer wieder aufs Neue angefacht und genährt werden. Nachschub an Brandbeschleunigern sollte ja ohnehin heute noch kommen. Wozu also sparen?

O loderndes Feuer. O göttliche Macht.

Sie griff nach den Tabletten.

2.

»Mehr Drama, Baby!«

Der Kerl grinste so breit, dass es Stephanie die Sprache verschlug. Was bildete sich dieser Provinzkasper denn bloß ein? Hielt er sich etwa für eine bleichgesichtige Ausgabe von Model-Coach Bruce Darnell? Von wegen. Eine Lachnummer! Eine Billigkopie! Bestimmt war er noch nicht einmal schwul.

Sie drehte ihm den Rücken zu.

Aber eigentlich passte dieser affektierte Stenz ganz gut zu dieser ganzen Veranstaltung, dachte Stephanie, während sie krampfhaft versuchte, in den schmalen, etwas zu groß ausgefallenen High-Heels, aus denen ihre Füße bei jeder unbedachten Bewegung herauszuschlüpfen drohten, einen vernünftigen Performance-Schritt hinzubekommen. Scharf hingestochen und doch elegant, selbstbewusst und doch fraulich. So hatte sie es gelernt. Die Kurse waren teuer genug gewesen. Daddy sollte sein Geld nicht umsonst ausgegeben haben.

Selbstbewusst und doch fraulich. Als ob das ein Gegensatz wäre!

»Steffi, bist du endlich so weit? Du musst da raus!«

Wieder dieser teiggesichtige Conférencier, dieser Mode-Maestro von eigenen Gnaden. Dabei hing doch auch er an Daddys Kohle-Tropf. Verdammt, wenn sie das alles vorher gewusst hätte! Aber jetzt war es zu spät, jetzt musste sie da durch. Und das hieß erst einmal: da raus.

Hinaus auf den Laufsteg. Zur Premiere als Model. Himmel, wie lange hatte sie davon geträumt!

Daddy hatte so geheimnisvoll geguckt, als er ihr den Termin verraten hatte. Vorgestern erst: »Lampenfieber muss kurz und heftig sein.« Jubelnd war sie ihm um den Hals gefallen, hatte einen Freudentanz um ihn herum aufgeführt und weitere Details aus ihm herauszuquetschen versucht. Aber Daddy war diesmal hart geblieben, hatte nur den Kopf geschüttelt und gelächelt: »Musst du alles noch gar nicht wissen. Erfährst du alles noch früh genug.« Und dabei war es geblieben. Alles geschah immer so, wie Daddy es wollte.

Nur einen Zusatz hatte er noch gemacht: »Sieh zu, dass du deine Kleidergröße bis dahin hältst. Nicht noch dünner werden, hörst du, Engel?«

Was Daddy nur immer redete! So clever wie er war, von einigen Dingen hatte er absolut keine Ahnung.

Offenbar auch nicht davon, was eine richtige Modenschau war. Sonst hätte er ihr bestimmt nicht zugemutet, ihr Debüt ausgerechnet in einer Turnhalle zu geben! Sich in einer miefigen Umkleide zu stylen und auf ihren Auftritt vorzubereiten! Was für eine Demütigung. Das würde sie ihm nie vergessen. Natürlich hatte er recht damit, dass es in ihrer kleinen Heimatstadt Leer keine wirklich passende Location gab. Das sogenannte Theater, in Wahrheit nur eine größere Aula mit dem Charme der 60er Jahre, eignete sich nicht. Alle anderen Säle waren zu klein oder falsch geschnitten. Und als Daddy ihr mit der Viehhalle gekommen war – »Den Geruch kriegen wir schon raus, und da gibt es gut zweitausend Sitzplätze!« –, hatte sie sich nur noch die Ohren zugehalten. Fleischbeschau in der Viehhalle! Am Ende gab es dort auch noch Brandzeichen.

Trotzdem, viel besser war eine Sporthalle auch nicht. Obwohl es die größte weit und breit war. Zudem die einzige mit Hochtribüne.

»Wird’s bald?«

Stephanie wirbelte herum, einen saftigen Fluch auf den Lippen. Fast wäre sie dabei umgeknickt. Um ihr Gleichgewicht kämpfend, stieß sie sich ihre linke Hand an einem eisernen Kleiderhaken. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schmerzensschrei. Teiggesicht kam mit einem bösen Blick davon.

»Also dann, los jetzt.«

Sie stöckelte schlingernd um ein paar Holzbänke herum, zwischen mobilen Kleiderständern hindurch, an improvisierten Schminktischen vorbei. Zugegeben, der Aufwand, der hier getrieben wurde, war ziemlich groß. Die Deko alleine musste Zigtausende gekostet haben. Und den Namen des Modeschöpfers, dessen Kreationen hier präsentiert wurden, hatte sie auch schon einmal gehört. So gesehen, konnte sie Daddy vielleicht doch keinen Vorwurf machen. Mühe gegeben hatte er sich, auch seine Beziehungen spielen lassen. Vom Geld ganz zu schweigen. Daddys Geld war wie ein Universalschlüssel, und er scheute sich nicht, diesen Schlüssel zu benutzen.

Was aber alles nichts daran änderte, dass dies hier eine Turnhalle war. Wenn auch eine große. Es war doch ein neuer Festsaal in Leer geplant, warum war der denn noch nicht fertig? Stephanie stampfte mit dem Fuß auf. Fast wäre sie dabei lang hingeschlagen, aber zum Glück war ein Türrahmen in Reichweite.

In dem Gang von den Umkleidekabinen zur Halle herrschte hektisches Getriebe. Andere Mädchen und junge Frauen in teils abenteuerlich anmutenden Roben eilten hierhin und dorthin, einige stöckelnd und stolpernd, andere barfuß, hochhackige Folterinstrumente in der Hand. Rufe übertönten die Musik, die aus der Halle drang. Applaus rauschte herüber, an- und abschwellend wie Brandungswogen. Plötzlich spürte Stephanie ihren Herzschlag bis in die Mundschleimhäute hinein. Turnhalle oder nicht, es war so weit. Ihr erster Auftritt als Model stand unmittelbar bevor.

Jemand packte sie von hinten am Arm, riss sie halb herum. Die kleine, faltige Frau mit dem Maßband um den Hals und dem Nadelkissen am Handgelenk. »Kind, so kannst du doch nicht hinaus. Los, Füße zusammen! Steh gerade!«

Stephanie spürte, wie sich die Frau hinten an dem Kleid zu schaffen machte, das sie trug, einer Orgie aus blauer Seide und Flitter, schulterfrei und eng anliegend wie ein Schlauch. Größe 34 natürlich. Sie war hineingeschlüpft, ohne einen Gedanken an die Passform zu verschwenden. Größe 34 passte ihr immer, sofern die Länge stimmte.

Die Frau zupfte und zerrte, raffte mit geschickten Fingern Stoff zu verdeckten Falten zusammen, steckte Nadeln so präzise, dass Stephanie das kalte Metall fühlte, ohne gestochen zu werden. Die Seide schmiegte sich an wie eine zweite Haut, formte den Schwung von Taille und Hüfte nach.

»So, jetzt ist es nicht mehr zu weit. Aber bleib gerade!« Die Schneiderin gab ihr einen Klaps auf den Po, als gelte es, ein Zirkuspferd in die Manege zu schicken. »Viel Glück. Los!«

Zu weit? Größe 34 zu weit?

Jemand riss eine große Tür auf, und sie trat hindurch, plötzlich ganz sicher auf den Füßen, präzise und doch elegant, wie sie es gelernt hatte. Adrenalin war eben doch ein Teufelszeug.

Sie durchquerte einen dämmerigen Vorraum, der durch schwarze Tuchbahnen von der übrigen Halle abgetrennt war, erklomm eine kleine Treppe, umrundete die versetzt aufgehängten Hälften eines schweren Vorhangs. Gleißende Helligkeit und tosender Beifall empfingen sie. Ja. Das, genau das war der Moment.

Sehen konnte sie nicht viel; das Scheinwerferlicht errichtete Mauern aus tiefer Schwärze rund um den grell erleuchteten Catwalk. Nur die ersten Reihen kleiner, runder Tische direkt unterhalb des Laufstegs waren schemenhaft zu erkennen, aber sie spürte, dass die ganze große Halle voller Menschen war. Hinter den Tischchen für die VIPs mussten Stuhlreihen dicht an dicht stehen, das hörte sie an der Intensität des Applauses, der ihr entgegenbrandete. Auch von oben. Richtig, die hoch gelegene Seitentribüne. Hatte sie in dieser Halle nicht früher einmal Handball gespielt? Das musste in einem anderen Leben gewesen sein.

Haltung. Arme. Schritte. Lächeln. Kopf wenden. Alles kam automatisch. Vergessen alle Unsicherheit, das Schlingern und Straucheln. Dies war der Laufsteg, und sie mitten darauf. Sie hörte ihren Namen aus den Lautsprechern, hörte die Vorstellung des Kleides, das sie trug, ohne auf den Wortlaut zu achten. Sie war ganz Körper, Bewegung, Anmut, Ausstrahlung. Erneut wurde der Beifall stärker. Ringsherum flammten Blitzlichter auf, und sie badete darin, fühlte ihren Körper in diesen Strahlen noch elastischer, noch biegsamer werden. An die Turnhalle dachte sie nicht mehr. Das hier, das war es, was Daddy für sie gewollt hatte. Und was sie selbst wollte. Jetzt war sie sich sicher.

Und da war Daddy! Er saß ganz weit vorn, an einem der runden Tischchen, die vom Rampenlicht des Laufstegs noch gestreift wurden. Er strahlte und winkte ihr zu. Was sollte das sein, ein Test? Natürlich winkte sie nicht zurück. Sie war doch kein kleines Mädchen auf einer Schulbühne. Sie war jetzt ein professionelles Model.

Drehung, jetzt verharren, Arme ausschwingend, Beine leicht gespreizt. Lächeln nicht vergessen. Dann weiter, bis zum Ende des Catwalks. Wieder eine Drehung, langsamer diesmal, kurz verharren, Kopf herumschwenken. Das Lächeln kam jetzt schon automatisch. Erneutes Blitzlichtgewitter. Einzelne Rufe durchdrangen den Beifall. Sie klangen begeistert. Es durchrieselt sie heiß. Davon hatte sie geträumt.

Zurück. Und die dritte Drehung auf halber Strecke nicht vergessen.

Da war Daddy wieder. Er war aufgestanden, hantierte mit irgendetwas Glänzendem herum. Wollte wohl ein Foto machen. Waren hier denn nicht schon genügend Fotografen an der Arbeit? Aber so war Daddy eben. Wenn du willst, dass etwas ordentlich gemacht wird, dann mach es selbst.

Jetzt rutschte ihm der Fotoapparat weg. Er bückte sich, erwischte das Ding gerade noch, ehe es aufs Hallenparkett knallte. Von wegen alles selber machen! Manchmal …

Plötzlich schwankte sie. O Gott, die High Heels, schoss es ihr durch den Kopf. Aber die Schuhe waren es nicht. Hatte jemand sie geschubst? Ihr war, als hätte sie einen Schlag gegen ihren Oberkörper gespürt. Aber hier oben auf dem Laufsteg war doch niemand außer ihr.

Brennend heiß wurde es jetzt, als hätte ihr jemand glühende Eisenstangen zwischen die Rippen und in den Oberarm gerammt. Dort begann es feucht zu werden.

Ihr Körper vollendete die eingeleitete Drehung ohne ihr Zutun. Der Rand des Laufstegs näherte sich, passierte ihr Gesichtsfeld, entfernte sich wieder. Eins der runden Tischchen fiel krachend um, und sie begriff nicht, warum sie plötzlich darunter lag. Roter Wein aus berstenden Gläsern und Karaffen durchnässte sie. Köpfe mit runden, stummen Mündern drängten sich vor die gleißenden Scheinwerfer. Das Licht erlosch.

3.

Sonnenschein, eine leichte Brise, gedämpftes Brandungsrauschen, Möwengeschrei, lebhaft plappernde Menschen um ihn herum, ein bunter Strandkorb direkt vor seiner Nase – und das, obwohl er sich nicht etwa am Strand befand, sondern mitten im Ortszentrum: Lüppo Buss war mit seiner Entscheidung, Polizist auf der Insel Langeoog zu werden und zu bleiben, wieder einmal vollkommen zufrieden. Um nicht zu sagen glücklich. Ja, doch. Seit er vor einigen Wochen aus dem Dienstgebäude an der Kaapdüne aus- und zusammen mit Nicole in die schöne Etagenwohnung am Hasenpad eingezogen war, konnte er sich mit diesem Begriff, den er eigentlich hoffnungslos kitschig fand, durchaus anfreunden.

Außerdem, was hieß schon kitschig. Waren das Strandkörbe mitten in der Fußgängerzone etwa nicht?

Andererseits, was hieß auf Langeoog schon Fußgängerzone. Die war hier genau genommen überall, denn Autos waren streng verboten. Nicht einmal Busse oder Taxis gab es, stattdessen Fahrräder, Elektrokarren und Pferdefuhrwerke. Na gut, für die Erhaltungsarbeiten an der sturmflutgefährdeten Seeseite gab es ein paar Traktoren und andere Motorfahrzeuge, und für Notfälle stand auch ein motorisierter Krankenwagen bereit. Ansonsten aber herrschte Autofreiheit – Freiheit nicht etwa für das Auto, sondern Freiheit davon. Was für die Menschen hier ein Stück wirklicher Freiheit war. Davon war Lüppo Buss überzeugt.

Dabei hatte er heute überhaupt nicht frei. Sondern Dienst. Ob sich die Kollegen auf dem Festland während ihrer Dienstzeit auch so fühlten? Lüppo Buss verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, reckte die muskulösen Schultern und grinste. Sein Mittagessen in der Kupferpfanne zählte er natürlich zu seinen dienstlichen Obliegenheiten. Kontaktpflege war wichtig, wer wollte das bestreiten? Tja, in der Tat, wer? Hier war er sein eigener Chef.

Und die Matjesfilets mit Bratkartoffeln waren wieder einmal hervorragend gewesen.

Allzu lange war es nicht her, da hatte Lüppo Buss die Dinge noch etwas anders gesehen. Hatte sich hier auf Langeoog wie auf dem Abstellgleis gefühlt, abgenabelt von wirklich interessanten Fällen und verantwortungsvollen Aufgaben, gegängelt von arroganten Vorgesetzten, die glaubten, vom Festland aus die Dinge besser beurteilen zu können als er. Er war drauf und dran gewesen, das Inseldasein aufzugeben und sich anderswo hin zu bewerben, »nach Deutschland«, wie die Insulaner sagten. Zur richtigen Polizei, wie er es im Stillen nannte.

Ein Glück, dass es dazu nicht gekommen war.

Bester Laune spazierte der Oberkommissar die Barkhausenstraße entlang, Dienstmützenbezug und Uniformhemd faltenfrei, Mützenschirm und Sonnenbrille blitzblank poliert, die Hose messerscharf gebügelt, die schwarzen Schuhe glänzend. Hier zwischen Wasserturm und Haus der Insel brodelte, gerade jetzt zu Beginn der Hochsaison und kurz nach der Mittagessenszeit, das Leben – jedenfalls in einer insular gedämpften Form von brodeln. Von rechts und links grüßten ihn die Leute, teils weil sie ihn kannten, teils, weil sie in ihm eine ebenso inseltypische Erscheinung sahen wie in den innerorts aufgestellten Strandkörben.

Inselpolizist Lüppo Buss, ein skurriles Stückchen Touristenkitsch?

Er räusperte sich und prüfte den korrekten Sitz seiner Mütze mit der Handkante. Nein, das war er nun doch nicht. Sondern ein gewichtiges Stück staatlicher Autorität. Das sollte mal besser keiner vergessen. Auch er selber nicht.

»Mensch, Lüppo, gut, dass ich dich sehe.« Eine pfannengroße Hand landete krachend auf seiner gestärkten Hemdschulter. Der Oberkommissar zuckte leicht zusammen. Stimmlage und Schlagstärke erlaubten keinen Zweifel daran, wer da gerade seinen staatsautoritären Patrouillengang in der Mittagssonne so respektlos unterbrach. Zumal sich ihm der Betreffende kurzerhand mitten in den Weg gestellt hatte.

Seufzend nahm er die dunkle Brille ab. Jetzt, da dieser Trumm zwischen ihm und der Sonne stand, benötigte er sie sowieso nicht mehr.

»Moin, Backe. Was gibt’s?«

Der fleischige Riese verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen und entblößte ein gelbliches, sehr lückenhaftes Gebiss. Ein erschütternder Anblick, der jedoch durch den Ausdruck ehrlicher Freundlichkeit auf dem braunen, wettergegerbten Gesicht gemildert wurde.

»Müll«, sagte der Riese.

»Müll.« Lüppo Buss verzog das Gesicht, als läge der Unrat leibhaftig vor ihm. Gab es ein Thema, das weniger zur sonnenwarmen Sommerstimmung auf der Langeooger Flaniermeile passte als dieses? Und zu den Gedanken, in denen der Inselpolizist eben noch geschwelgt hatte?

Lüppo Buss musterte sein Gegenüber, als handele es sich um einen überquellenden Müllbehälter. Natürlich war es nicht korrekt, solche Vergleiche zu ziehen, trotz der Trümmer in Backes Mund, seiner containerhaften Ausmaße und der fleckigen, kaum noch als weiß anzusprechenden Schürze, die er sich um die massive Leibesmitte geknotet hatte. In seinem übergroßen Fischerhemd sah Beene Pot­tebakker, genannt Backe, wie ein eingeborener Insulaner aus, noch weitaus mehr Kitsch-Klischee als Lüppo Buss und sämtliche Strandkörbe zusammen. Tatsächlich aber war Backe ein Zugereister und arbeitete erst seit wenigen Monaten auf Langeoog. Lüppo Buss erinnerte sich noch gut an seine beiläufige Routineüberprüfung Beene Pot­tebakkers, nach der ihm die Haare zu Berge gestanden hatten. Mittlere und schwere Körperverletzung, Rauschmittel- und Eigentumsdelikte in großer Zahl und bunter Folge fanden sich in Backes Akte; ein Wunder, dass dieser Riese immer mal wieder aus dem Strafvollzug entlassen worden war. Aktuell allerdings war kein Strafverfahren anhängig. Kein Grund also, einzuschreiten – Gründe genug aber, diesen Mann im Auge zu behalten.

Was momentan weiter kein Problem war.

»Ja, Müll.« Backe nickte eifrig, als sei er froh, verstanden worden zu sein. »Unser Container. Da hat sich schon wieder einer dran zu schaffen gemacht. Drum herum ist alles siffig, trotzdem ist der Kübel voll. Da entsorgt doch jemand seinen Dreck illegal. Auf unsere Kosten. Sauerei, nicht?«

Der Inselpolizist nickte bedächtig. Auf Langeoog gab es keine Mülldeponie – und natürlich auch keine Verbrennungsanlage. Der Tourismus war die Haupteinnahmequelle, mit weitem Abstand; da musste man mit Wasser, Luft und Landschaft natürlich vorsichtig umgehen. Ebenso wie praktisch alles, was auf der Insel konsumiert wurde, mit Schiffen herangeschafft werden musste, so musste sämtlicher dabei entstehender Müll zurück aufs Festland transportiert und dort entsorgt werden. Das gab es nicht umsonst. Und natürlich achtete jeder Insulaner peinlich darauf, dass er von diesen Kosten nicht mehr zu tragen hatte als unbedingt nötig.

»Und?«, fragte Lüppo Buss. »Wer ist der böse Bube? Hast du schon eine Idee?«

In einer Geste vollkommener Ahnungslosigkeit breitete Backe seine überlangen Arme aus. »Was weiß denn ich? Auf frischer Tat ertappt habe ich noch keinen, und einfach so jemanden beschuldigen, das gehört sich ja nicht, oder?« Seine zwinkernden Augen aber straften Backes Gestik Lügen, als er hinzufügte: »Vor allem nicht die lieben Mitbewerber.«

Der Oberkommissar verzog sein Gesicht. Bloß das nicht! Der Smutje, der Laden, in dem Backe an der Fritteuse stand, war mehr als einem Langeooger Wirt ein Dorn im Auge. Dort speiste man zwar nicht eben edel – »Paniert, frittiert, serviert«, wie Backe es ausdrückte – dafür aber konkurrenzlos billig. Jedenfalls für Inselverhältnisse. Viele Familien waren hier unter den Touristen, und in Zeiten wie diesen wurde mit dem Cent gerechnet. Jeder Panadefisch mit Pommes oder Kartoffelsalat aus dem Plastikeimer entlastete die Reisekasse. Und brachte den umliegenden Restaurants Umsatzeinbußen. Ob tatsächlich oder nur gefühlt, das machte da keinen Unterschied.

Kleinere Sabotageakte, und seien es nur ein paar illegal entsorgte Müllsäcke, um den billigeren Konkurrenten in Verlegenheit zu bringen, der natürlich nicht mehr Containerraum vorhielt als unbedingt nötig, waren als Reaktion durchaus vorstellbar. Ein bevorstehender Gastronomen-Krieg auch. Hier ging es ums Geld, und das war den Inselwirten heilig.

»Also dann, wir gehen mal gucken«, entschied Lüppo Buss. Kein leichter Entschluss, zumal mit einer guten Portion Matjes mit Bratkartoffeln im wohltrainierten Bauch, dessen Muskeln schon beim bloßen Gedanken an den Geruch von Fischabfällen zu zucken begannen. Aber wo, wenn nicht im Container selbst, waren Hinweise auf den möglichen Täter zu erwarten?

»Spitze.« Backe rieb sich die Bratpfannenhände. »Ich wette, wir finden Innereien. Von Fischen. Dann ist nämlich klar, wer’s war. Von uns können die auf keinen Fall sein, wir nehmen die Fische ja nicht selber aus.«

»Logisch«, sagte Lüppo Buss. »Den möchte ich auch mal sehen, der tiefgefrorene Panade-Filets noch ausnehmen kann.«

Interessant, dass Backe so selbstverständlich wir sagt, dachte der Inselpolizist, während er sich bemühte, mit dem Riesen Schritt zu halten, der erwartungsvoll in Richtung Smutje eilte. Er scheint sich richtig mit dem Laden zu identifizieren. Dabei gehört ihm der natürlich gar nicht. Und sein Job dort ist alles andere als ein Hauptgewinn. Jeden Tag Überstunden in Hitze, Fisch- und Fettgestank, und das Gehalt ist mit Sicherheit mehr als mau. Sonst hätte der alte Stapelgeld bestimmt jemand anderen dafür gefunden als ausgerechnet einen gewohnheitsmäßigen Knastrologen.

Natürlich hieß der Eigner des Smutje nicht Stapelgeld, sondern Stapelfeld. Thees Stapelfeld. Sein Spitzname, den er seinem einst legendären Geiz verdankte, drückte durchaus nicht nur Spott, sondern auch Anerkennung aus. Stapelfeld war einer, der sich nicht mit dem zufrieden gab, was er geerbt, erworben und erheiratet hatte. Er wollte höher hinaus, er wollte mehr, und mehr bekam man eben nicht durch großzügig gezahlte Löhne. Jahr für Jahr erweiterte Stapelfeld das, was er nicht nur bei sich, sondern auch abends an der Theke »mein Imperium« nannte. Ein Spruch, über den auf Langeoog schon länger keiner mehr lachte.

Backe streckte den Arm aus: »Da hinten steht er.«

In einer schmalen Lohne zwischen dem Smutje und dem Nachbarhaus stand der Abfallcontainer der billigen Fischbraterei. Offenbar nicht genau auf seinem üblichen Platz, wo die Rollen deutliche Spuren auf den Pflastersteinen hinterlassen hatten. Das musste nichts heißen, konnte aber tatsächlich ein Hinweis darauf sein, dass jemand etwas Voluminöses oder Schweres hineingestopft und sich dann eilig entfernt hatte. Dreck und aufgeplatzte Tüten, aus denen Küchenabfall quoll, lagen um den großen Behälter herum, ganz wie von Backe beschrieben. Über allem hing ein Geruch, der den Matjes in Lüppos Bauch zu neuem Leben zu erwecken schien.

»Mach mal auf«, wies er Backe an.

Die Riese packte zu. Die große Metallklappe knarrte nur leise, als er sie ohne Mühe anhob.

Der Container war fast voll. Obenauf lag, teilweise von Müll bedeckt, die Leiche einer jungen, unbekleideten Frau mit weit aufgerissenen Augen, deren narbenbedeckter Körper aussah wie ein mit Haut bespanntes Skelett.

Lüppo Buss spürte, wie eine unsichtbare Müllpresse seinen Magen zusammenquetschte. Er drehte sich weg und krümmte sich zusammen.