Read the book: «Langeooger Dampfer»
Peter Gerdes
Langeooger Dampfer
Inselkrimi
Zum Buch
Unter Volldampf Kurz vor Beginn der ersten Langeooger Dampfertage wird am Inselstrand ein Toter gefunden – brutal ermordet. Das Opfer, der junge Robin Seefeld, war als Linker und Umweltaktivist bekannt und längst nicht bei jedem beliebt. Sein Geld verdiente er sich nicht allein mit dem Verkauf von Kunstobjekten aus Strandgut, er handelte auch mit billig kopierten E-Zigaretten, sogenannten „Dampfern“. Inseljournalist Marian Godehau versucht zu ergründen, wer sich eine derart ungewöhnliche Mordmethode ausgedacht hat – und warum. Bei seinen Recherchen stößt er nicht nur auf historische Parallelen, sondern kommt auch schon bald Hauptkommissar Stahnke in die Quere. Ihre alte Rivalität flammt wieder auf. Und nicht nur die …
Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.
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Alle Rechte vorbehalten
3. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © peno – penofoto.de / stock.adobe.com und © Gouwenaar, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20180605_kop_met_drietand_door_Georg_Willms_en_museumschip_Prinz_Heinrich_Leer.jpg
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6574-1
Haftungsausschluss
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
1.
»He, nein! Hör auf, ich bitte dich. Nein, Schluss jetzt. Lass das!«
Sie schlug seine Hand beiseite. Es war mehr ein Klaps als ein Schlag. Sie wollte ja nicht, dass er es wirklich sein ließ … nein, ganz und gar nicht. Nur eben jetzt und hier, da passte es nicht.
Schon wieder waren seine Hände überall. Verdammt, wie viele Hände hatte denn so ein Mann? Sie lachte kehlig. »Lass das, hab ich gesagt! Guck doch, die ganzen Leute.«
»Na und? Lass sie doch gucken, die ganzen Leute.« Seine Pranken lagen jetzt auf ihren Hüften, tasteten durch das locker geschlungene Seidentuch nach dem Gummibund ihres Bikinihöschens und zogen sie gleichzeitig näher an sich heran. Regte sich da etwa schon was in seinen Badeshorts? Der Bursche hatte auch überhaupt kein Timing!
Von oben stießen seine gespitzten Lippen herab wie der Schnabel einer Raubmöwe. Geschickt bog sie sich rückwärts, ließ ihn ins Leere schmatzen. »Echt jetzt mal. Doch nicht hier!«
»Was hast du denn?« Seine gerunzelte Stirn ließ vermuten, dass diese Frage ernst gemeint war. »Alle kleinen Kinder sind doch schon im Bett. Glaub nicht, dass hier irgendjemand schockiert ist! Höchstens neidisch.«
Sie entwand sich seinem Griff, hielt ihn mit dem Hüftknochen seitlich auf Distanz. Warum gab es nie einen Wasserschlauch, wenn man dringend einen brauchte!
Wenigstens stellte sie dabei fest, dass das da in seinen Badeshorts nicht das war, was sie befürchtet hatte. Sondern bloß seine E-Zigarette. Vielmehr seine Dampfe, wie jetzt alle sagten. Oder sein Dampfer.
Dieser Typ war ja ein ganz leckeres Kerlchen, fand sie. Recht groß, feste Disco-Muskeln, nicht allzu geschmacklos tätowiert. Alle Haare ab, soweit sie sehen konnte. Gefiel ihr gut. Konnte man direkt mal antesten.
»Komm, lass uns von der Höhenpromenade runter«, sagte sie. »Zu viele Spaziergänger, das kann noch stundenlag so gehen.« Sie griff nach seinem Handgelenk, zog ihn mit wie ein Riesenkind. »Gehen wir runter an den Strand, ja? Da ist jetzt nichts mehr los.«
»Du willst doch wohl jetzt nicht mehr schwimmen gehen?«, maulte er. »Wird schon dunkel, die Badeaufsicht ist längst weg.«
»Wer redet denn von schwimmen?«, erwiderte sie gurrend.
Sie dirigierte ihn den Strandzugang hinab, erst über die sandigen Planken, dann durch den feinen, tiefen Sand, der die Wärme des vergangenen Tages in sich trug. Ein herrlich heißer Sommertag war das gewesen; im Frühstücksfernsehen hatten sie Festländer gezeigt, die in den aufgeheizten Städten nach Kühlung lechzten. Hier an der Küste, auf der Insel, gab es Wasser und Wind, hier war alles wunderbar. Vor allem am Strand.
Das sahen auch andere so, stellte die Frau fest, als sie unterhalb der Randdünen angelangt waren. Überraschend viele Menschen trieben sich um diese Zeit hier herum, plaudernd, lachend, Frisbees werfend. Hier waren sie zu dicht am Ort, es war eindeutig zu viel los für das, wonach ihnen beiden der Sinn stand.
»Komm!« Sie dirigierte ihn nach Osten, weiter weg von den ortsnahen Gefilden. Sie kannte sich aus auf Langeoog, sie lebte schon eine Weile hier und wusste, dass es jenseits des Pirolatals am Strand deutlich ruhiger zuging, selbst tagsüber, wenn alle Strandkörbe besetzt und alle Beachvolleyballnetze umlagert waren. Noch ein paar Minuten Fußmarsch, schätzte sie, dann konnten sie ungestört zur Sache kommen.
»Wo willst du hin?« Der Typ schritt nicht so willig aus, wie sie sich das vorgestellt hatte. Wie hieß er überhaupt? Sie konnte sich gar nicht erinnern, ob er sich vorgestellt hatte. Dabei war er doch ziemlich flink mit der Zunge.
»Weiter da hinten hin.« Sie legte ihren Arm um seinen Oberkörper, schmiegte ihre Taille an seine Hüfte. Fühlte sich gut an, fand sie, und so ließ er sich noch besser dirigieren.
»Da hinten ist aber gesperrt«, wandte er ein. »Da sind Aufspülungen. Diese und nächste Woche noch, heißt es. Weil so viel Sand weggerissen worden ist letzten Winter. Da darf keiner hin, bis sich der neue Sand gesetzt hat. Ist viel zu weich im Moment.«
»Na und? Umso besser!« Sie schob und drängte ihn weiter. »Wenn da keiner hin darf, dann ist da wohl auch keiner. Und weich ist doch gut, oder?«
Der Osthimmel, auf den sie zugingen, war fast vollkommen dunkel; kein Mond, und aufziehende Wolken verhüllten mehr und mehr Sterne. Sie orientierten sich am Glitzern des Brandungssaums und an den tiefschwarzen Kernschatten der Dünen. Dann tauchten ebenso schwarze, bizarre Monster vor ihnen auf. Ehe sie erschrecken konnte, lief sie in eine weiche Sperre aus Flatterband.
»Ab hier ist Baustelle«, sagte der Mann, die Stimme unwillkürlich gedämpft. »Das da sind Baumaschinen. Komisch, so etwas auf einer autofreien Insel.« Er war wirklich gut informiert für einen Festländer.
Sie hob das Absperrband, lenkte ihn zum Fuß der Dünen. »Siehst du«, hauchte sie, »kein Mensch da.« Sie schob und drehte ihn sich zurecht, ließ ihre Finger über seine Haut, seine Muskeln wandern. Die Vorfreude ließ sie nach Luft schnappen.
Auch seine Hände waren wieder da, waren überall. Weg war das Tuch, das sie sich umgeschlungen hatte, um ihre Oberschenkel vor der Sonne zu schützen, weg war ihr Top. Und im nächsten Moment auch ihr Bikini. Himmel, wie viele Hände hatte dieser Mann?
Sie ließ sich in den Sand sinken, der so weich war wie vermutet, ahnte den Mann mehr über sich, als dass sie ihn sah. Wieder waren seine Hände überall. Oh, er kannte sich aus, er wusste, wie das ging!
Aber nein. So ging das nicht, das war zu schnell, das war noch nicht dran. Und außerdem – warum so kalt?
»Lass das!«, zischte sie. »Nimm deine Hand da weg!«
»Was? Wieso?« Er verharrte, die eine Hand auf ihrem Bauch, die andere an ihrer linken Brust.
Und die dritte, die eiskalte, an der Innenseite ihres Oberschenkels.
Verdammt, wie viele Hände …
Ihr schriller Schrei hallte von den Dünen wider. Er wollte kein Ende nehmen.
2.
»Abschuss!«
Ein breiter Schatten fiel vor Marian auf den Schreibtisch. Der Journalist fuhr erschrocken zusammen.
»Abschuss! Sag mal, geht’s noch?«
Marian fühlte seinen Herzschlag stocken. Eine böse Ahnung überkam ihn. Doch nicht etwa …? Der Schweiß brach ihm aus.
»Abschusskundgebung! Abschuss! Nun guck dir das bloß an! Wie konnte das denn passieren?«
Marian ließ seinen Bürostuhl herumschwingen. Gegen die Morgensonne war nur eine stämmige Silhouette zu erkennen, eine mit Schifferkrause und Schiffermütze, die ihm den einmaligen Blick auf die Randdünen verstellte. Den Ausblick, der einen der Pluspunkte seines Jobs darstellte.
Diese Silhouette war ein deutlicher Minuspunkt. Ein großer dazu.
Ein dicker Zeigefinger mit breitem Nagel stieß wieder und wieder auf die gerade ausgelieferte Ausgabe des »Langeooger Inselboten«, dass es knallte und das Zeitungspapier Risse bekam. In Höhe der Aufmacher-Schlagzeile. »Abschlusskundgebung der Umwelttage: Appell gegen Plastikmüll im Meer«, hatte Alleinredakteur Marian Godehau gestern Abend getextet.
Nein, hatte er nicht. Da stand tatsächlich »Abschusskundgebung«.
»Das war auf den letzten Drücker«, stammelte Marian. »Du hast den Text sehr spät geliefert, da wurde es knapp mit dem Andruck.«
»Eine lahmere Ausrede hast du wohl nicht!«Ocko Onken, umtriebiger Insulaner, halbwegs des Schreibens kundig und damit Marian Godehaus wichtigster freier Mitarbeiter, ließ den zerknitterten »Inselboten« fallen, als wäre ein fauler Fisch darin eingewickelt. »Da notiert man sich alles und schreibt, bis einem die Finger abfallen, und was ist? Du legst mir solch ein Ei ins Nest! Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist? Wie stehe ich denn jetzt da!«
Ja, peinlich, allerdings, dachte Marian, während er sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck bemühte. Peinlich, dass sein Zeilengeld-Etat dermaßen knapp bemessen war, dass er sich qualifiziertere Mitarbeiter als den alten Ocko Onken nicht leisten konnte. Dass er vielmehr froh sein durfte, wenigstens den zu haben, und ihn mit Samthandschuhen anfassen musste, um ihn nicht zu verlieren. Das war peinlich! Ein weiterer dicker Minuspunkt seines Jobs.
Plus und minus. Als Alleinredakteur war er stets und ständig auf sich allein gestellt, aber er war eben auch sein eigener Herr. Und solange sich Ocko Onken und ein paar andere freie Mitarbeiter seines Kalibers mit wenig Geld und vielen guten Worten zufrieden gaben und sich über Ego-stärkende Namenszeilen über belanglosen Artikeln auf hinteren Seiten zwischen fetten Anzeigen freuten, solange hatte er die Hände frei für Dinge, die ihn wirklich interessierten. Zum Beispiel die engagierten Umweltschützer, die ihre internationale Konferenz auf der Insel abhielten. Über die hatte er zwei schöne Hintergrundberichte verfasst. Die Abschlusskundgebung zum Thema Vermüllung der Meere war reine Formsache gewesen, deshalb hatte er Ocko Onken dort hingeschickt.
Vielmehr zur Abschusskundgebung.
»Und wie willst du dich bei unseren Lesern für solch eine Panne entschuldigen?«, polterte Onken weiter. »Eine Richtigstellung ist wohl das Mindeste! Aber komm bloß nicht auf die Idee, dich mit Arbeitsüberlastung oder Zeitdruck rauszureden!«
Logisch, dachte Marian, das wäre zwar die Wahrheit, aber die geht ja keinen etwas an. Als ob die Arbeitszeiten eines Alleinredakteurs nicht jeden Tarif sprengen würden! Daran würde auch die geplante europaweite Arbeitszeiterfassung nichts ändern. Dafür gab es ja Kunstgriffe. Er konnte seine Chefredaktion auf dem Festland schon hören: »Zu dieser Veranstaltung wären Sie sowieso gegangen, das kann man nicht als Überstunden werten! Dafür gehen Sie doch nächstens wieder mal während der Arbeitszeit zum Friseur.« Na vielen Dank. Wann denn sonst? Etwa nach Feierabend? Dann hatte kein Friseur der Welt mehr geöffnet. Höchstens in Australien.
»Was grinst du so?«, fragte Onken.
»Ich dachte nur, ich verpacke die Richtigstellung in eine Glosse«, erwiderte Marian. »Glossen werden gelesen.«
»Damit’s auch der Letzte mitkriegt«, grummelte Onken. »Und sonst? Womit willst du die Leser in der morgigen Ausgabe davon abhalten, uns ihre Abos vor die Füße zu werfen?«
»Polizeieinsatz bei Randaleparty in den Dünen«, referierte Marian. »Zwei Leichtverletzte bei Schlägerei vor dem ›Dwaarslooper‹. Und eine Anzeige wegen Zeigens mutmaßlich verfassungsfeindlicher Symbole.«
»Lauter Polizeimeldungen.« Onken schnaubte verächtlich. »Die könnte Lüppo Buss gleich selber schreiben! Etwa nichts Eigenes dabei?«
»Doch. Großer Vorbericht über die ›Langeooger Dampfertage‹.« Den Aufmacher hatte Marian sich längst zurechtgelegt: »Die ›Prinz Heinrich‹ erstmals im Langeooger Hafen. Spannende Geschichte über die bewegte Vergangenheit dieses Schiffs. Und darüber, wie eine Gruppe von Rentnern und anderen Freiwilligen in jahrelanger Arbeit aus einem Wrack ein seetüchtiges Schiff gemacht hat.« Er ließ eine Serie von Fotos über seinen Bildschirm laufen. »Zu diesem Thema fällt für dich bestimmt die eine oder andere Geschichte ab.«
»Soso.« Ocko Onken stampfte in der Redaktionsstube auf und ab und tat so, als mustere er die abgelegten Ausgaben des laufenden Jahres und den Inhalt des Posteingangskörbchens. Dann verabschiedete er sich mit einem Grunzen und rumpelte die Holztreppe hinab zur Geschäftsstelle und zur Anzeigenberatung. Von dort drang der verlockende Duft frisch aufgebrühten Kaffees zu ihm in den ersten Stock. Ob die Kolleginnen diesen Köder bewusst ausgeworfen hatten?
Marian ignorierte das Kaffeearoma und stellte sich ans halb geöffnete Fenster, sog die herrlich frische, leicht salzige Luft tief ein und genoss den geliebten Ausblick über die Dünen.
Über die Dünen und einen Teil der Straße. Die Bewegung dort unten drängte sich ganz automatisch in sein Bewusstsein. Was war denn da los?
Auf den ersten Blick nicht viel; ein Grüppchen Menschen, offenbar gerade am Bahnhof eingetroffen, eilte vorbei. Vier Männer, zwei Frauen, mit Taschen und Aluboxen. Keine Rucksäcke, keine Rollkoffer. Was aber wirklich ungewöhnlich war, waren die Mienen dieser Menschen: angespannt, verkniffen, entschlossen. So guckten keine Urlauber, und auch Leute, die aus dienstlichen Gründen auf die Insel kamen, standen selten so unter Stress – oder stellten ihn jedenfalls nicht so deutlich zur Schau. Das taten höchstens Insulaner zur Hochsaison. Und das da waren bestimmt keine Langeooger.
Schon waren sie verschwunden. Was tun, überlegte Marian – hinterher?
Das Telefon nahm ihm die Entscheidung ab. Lüppo Buss war dran. »Ich dachte, ich informiere dich gleich, ehe du es aus anderer Quelle erfährst«, sagte der Inselpolizist. »Und ehe die Blutblätter vom Festland ihre Geier schicken.«
Schnell anschwellender Lärm verschluckte seine nächsten Worte. Ein Hubschrauber dröhnte über die kleine Redaktion hinweg, so dicht, dass Marian unwillkürlich den Kopf einzog.
»Höhe Pirolatal. Du beeilst dich besser«, war das Letzte, was Marian hörte, als er wieder hören konnte. Dann beendete Lüppo Buss das Gespräch.
3.
Zuerst dachte Marian, der Inselpolizist wollte ihn heranwinken. Erst als er fast an der Absperrung war, erkannte er die Fliegenschwärme, gegen die Lüppo Buss mit seiner Dienstmütze ankämpfte wie Don Quijote gegen Windmühlen. Ebenso erfolglos.
Auch am frühen Vormittag hatte die Sonne allerhand Kraft, der Weg durch den weichen Sand war recht weit gewesen, der schwache Seewind kühlte kaum, und Marian war nicht der Fitteste. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, die Locken klebten ihm auf der Stirn, und von seinem struppigen Bart ging ein mörderischer Juckreiz aus. Unter seinen Achseln fühlte es sich heiß und glitschig an. Marian hatte das Gefühl, dass die beiden Frauen des Kriminalistenteams vom Festland ihn abfällig musterten.
Umso erfreuter reagierten die Fliegen auf seine Ankunft. Marian hatte seinen Notizblock eigentlich aus anderen Gründen gezückt, jetzt musste er als Klatsche herhalten.
Das wahre Objekt der Fliegenbegierde lag jedoch in einer Sandkuhle, von einem flüchtig aufgeworfenen Ringwall umgeben, der nach Kinderbelustigung aussah und doch alles andere war als das. Gebeugte Rücken in weißen Overalls umringten einen Leichnam. Einen männlichen, wenn Marian die rötlichen Fusseln an Kinn und Wangen richtig deutete.
Über all dem lag ein undefinierbarer Geruch. Eindeutig unangenehm, aber so schwach der Seewind auch war, er verhinderte, dass Marian den Geruch einordnen konnte. Vage bekannt – aber woher?
Noch mehr kam ihm bekannt vor. Seine erste Frage an Lüppo Buss blieb Marian im Halse stecken. »Wer ist – ich meine, ist das nicht … doch nicht etwa …«
»Robin Seefeld.« Der Inselpolizist setzte sich seine Dienstmütze auf, prüfte den korrekten Sitz des Mützenschirms mit der Handkante, um sich die Kopfbedeckung im nächsten Moment in den Nacken zu schieben. Der Mückenschwarm hatte sich wieder der Kuhle zugewandt.
»Verdammt.« Marian schlug sich den Notizblock gegen die Stirn, aber was er dort gespürt hatte, war keine Fliege gewesen, sondern eine Schweißperle. »Also deshalb. Und ich hatte mich schon gefragt …« Er verstummte.
»Was hattest du dich gefragt?« Lüppo Buss zog die borstigen Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen und fixierte den Journalisten scharf. »Los, raus damit! Irgendwas Sachdienliches?«
»Nee.« Marian schüttelte den Kopf und schluckte trocken. »Ich hatte mich nur gefragt, warum er gestern nicht dabei gewesen ist. Er als Grüner, ich hatte gedacht, da kommt er bestimmt hin.«
»Wohin? Was meinst du?«
»Na, zu der internationalen Umweltkonferenz gestern! Er war aber nicht dort. Und auf der Abschlusskundgebung auch nicht, sagt Ocko Onken.«
Der Inselpolizist lachte auf, überraschend und so laut, dass der Fliegenschwarm aufstob wie Rauch. »Du meinst wohl die Abschusskundgebung!«
Missbilligende Blicke des Tatortteams beendeten Lüppo Buss’ Heiterkeitsausbruch. Auch Marian schwieg betreten. Nur ein paar Möwen hoch über ihnen stießen unbeeindruckt ihre Schreie aus.
Robin Seefeld also. Noch keine 24 Jahre. Gebürtiger Langeooger, auf der Insel bekannt wie ein bunter Hund. Gewitztes Kerlchen, immer schon gewesen. Als Schüler hatte er angefangen, aus Strandgut Kunstobjekte zu fertigen und an Touristen zu verkaufen; die meiste Arbeit hatte er dabei darauf verwandt, sich fantasievolle Namen für die Fundstücke auszudenken. Später, als der Besuch des Internatsgymnasiums in Esens seine Anwesenheit auf der Insel einschränkte, hatte er jüngere Kinder dafür bezahlt, die Strände Langeoogs nach geeignetem Plunder abzusuchen. Gering bezahlt, gemessen an seinen Erträgen. Die hatten Neider auf den Plan gerufen; immerhin gab es Händler auf der Insel, die ähnliche Geschäfte professionell betrieben. Und Steuern zahlten. Wer von denen Robin Seefeld verpfiffen hatte, kam nie heraus. Vielleicht, weil Lüppo Buss die Anzeige verschleppte und Fusselbart Robin längst andere Einkommensquellen gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte Seefeld ein Studium in Oldenburg aufgenommen. Was genau? Marian konnte sich nicht erinnern. Irgendwas mit Umwelt? Oder doch eher BWL, was all die studierten, die nichts mit sich anzufangen wussten? Obwohl, das traf auf Robin eher nicht zu.
Hatte nicht auf ihn zugetroffen, korrigierte sich Marian. Robin Seefeld war tot, dort drüben lag seine Leiche. Und stank. Ja, das konnte man riechen, deutlich sogar, wenn der Wind eine kleine Pause einlegte. Nicht nur als Fliege.
Marian hatte schon früher Leichen gerochen. Dieser Geruch war irgendwie – anders.
»Wie lange liegt er da schon?«, fragte er.
Der Inselpolizist zuckte mit den Achseln. »Ein bis zwei Tage, grob geschätzt. Auf die nähere Eingrenzung warte ich noch.« Mit einem Nicken deutete er auf eine der beiden weiß gekleideten Frauen. Sie hatte sich die Kapuze ihres Einwegoveralls so eng ums Gesicht geschnürt, dass selbst Unterlippe und Augenbrauen darin verschwanden. Unter ihrer Nase glitzerte es. Schweiß oder Heilpflanzenöl?
»Wurde er umgebracht?«, fragte Marian.
»Was denkst du denn?«, schnauzte Lüppo Buss. »Glaubst du, der hat sich selber im Sand verbuddelt?«
Oha, dachte Marian, kurze Zündschnur heute. Da war Vorsicht geboten, sonst setzte es einen Platzverweis. Wenn man Lüppo reizte, kannte der keine Verwandten. Und Freunde auch nicht.
»Könnte ja auch ein Unfall gewesen sein«, stocherte er trotzdem weiter.
»Nein.« Der Inselpolizist verschränkte die kräftigen Unterarme. Deren Muskelspiel wirkte bedrohlich.
»Und … wie … ist es passiert?« Marian setzte seine Worte behutsam und zögernd. Wie Schritte in einem Minenfeld.
»Erstickt«, sagte Lüppo Buss, unterbrach sich dann aber selbst, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf. »Offiziell sage ich nichts dazu. Schon gar keine Details. Täterwissen, du verstehst? Bei diesem Stand der Ermittlungen …«
Du bist gut, dachte Marian. Stand der Ermittlungen! Wohl mehr Stand als Ermittlung. Lüppo konnte froh sein, dass es hier keinen Treibsand gab.
»Apropos«, hakte der Journalist nach, »wer ermittelt denn? Leitest du selbst, oder schicken sie dir wieder einen?«
Die Miene des Inselpolizisten versteinerte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Muskeln seiner kräftigen Unterarme traten hervor wie Taue. Er schwieg, aber eine Antwort war auch gar nicht nötig. Natürlich bekam Lüppo Buss wieder einen vor die Nase gesetzt, einen Höherrangigen vom Festland, wie immer, wenn es um mehr ging als Diebstahl, Sachbeschädigung oder leichte Körperverletzung. Marian wusste, wie sehr Lüppo unter diesen ständigen Zurücksetzungen litt. Aber den Mut, einen Fall einfach an sich zu reißen und seine Vorgesetzten mit schnellen Ergebnissen vor vollendete Tatsachen zu stellen, hatte er auch nicht.
Noch schien dieser Außerinsulanische aber nicht vor Ort zu sein. Zu dem weißgekleideten Team, das aus den Kriminaltechnikern und der Ärztin bestand, gehörte er jedenfalls nicht.
Marian musterte die Strandszenerie. Was für eine riesige Baustelle! Die gewaltigen Rohrleitungen und die mächtigen Maschinen passten so gar nicht zum Image einer autofreien, erholsamen und familienfreundlichen »Insel fürs Leben«, wie Langeoog offiziell beworben wurde. Aber was sollte man machen? Die Herbst- und Winterstürme hatten der Insel stark zugesetzt, Strand und Dünen beschädigt und die wertvolle unterirdische Süßwasserlinse bedroht, von der die Wasserversorgung der Bevölkerung mitsamt den Massen geldbringender Touristen abhing. Da mussten Gegenmaßnahmen ergriffen werden, und das ging nur bei zuverlässig ruhigem Wetter. Also jetzt.
Dem Mörder schien das gut zupassgekommen zu sein, überlegte Marian. In diesem frisch aufgeschütteten, weichen Sand war eine Kuhle schnell gebuddelt. Vermutlich war der Täter davon ausgegangen, dass dieses Inselgrab mit weiteren Sandschichten überspült und dauerhaft versiegelt werden würde. Dann wäre es frühestens nach den nächsten schweren Winterstürmen entdeckt worden.
»Wer hat den Toten überhaupt gefunden?«, fragte Marian.
Wenn Oberkommissar Buss darauf hätte antworten wollen, dann wären ihm die Worte buchstäblich von den Lippen gerissen worden, denn wie aus dem Nichts dröhnte plötzlich ein Hubschrauber im Tiefflug über sie hinweg. Vermutlich wieder der von vorhin, dachte Marian, aber erkennen konnte er das nicht. Ehe er seinen Notizblock hochgerissen hatte, bekam er schon eine Ladung Sand in die Augen. Lüppo Buss verbarg sein Gesicht hinter seiner Dienstmütze.
»Diese Geier!«, schrie der Inselpolizist, als er sich wieder verständlich machen konnte. »Wundert mich, dass sie so lange gebraucht haben, um den Tatort ausfindig zu machen. Gibt doch Millionen von Amateurspitzeln, die für die arbeiten! Jetzt wissen sie jedenfalls, wo wir sind. Dauert nicht mehr lange, und sie fallen über uns her. Aber meine beiden Zeugen, die werfe ich denen nicht zum Fraß vor.« Lüppo Buss schnaubte Marian so wütend an, als könnte der etwas für seine Kollegen von der Sensationspresse: »Dir auch nicht! Schlag dir das aus dem Kopf.«
Ungerecht, dachte Marian. Er hasste Ungerechtigkeit. Hatte er sich nicht in all den Jahren seines Inselexils um Fairness bemüht, Anstand und Fairness gegenüber allem und jedem, die Polizei eingeschlossen? Und so wurde ihm das gedankt. Zack, hinein in denselben Topf wie die Schlagzeilenschmiede von der Blutzeitung. War das etwa fair? Nein, war es nicht!
Aber er hielt lieber den Mund. Beschwerden nützten gar nichts, das wusste er aus bitterer Erfahrung. Nicht, wenn Lüppo so aufgebracht war wie jetzt. Da hieß es warten. Launen kamen und gingen, vor allem bei einem aufbrausenden Charakter wie dem des Oberkommissars, und in einer Stunde oder so sah alles schon wieder anders aus.
Außerdem, dachte Marian, habe ich noch andere Quellen.
Eine Frage stellte er trotzdem: »Schon Tätervermutungen? Hatte Robin Seefeld Feinde?«
Wider Erwarten polterte der Inselpolizist nicht, sondern grinste Marian breit an. »Ein umweltschützender Grüner im tourismusintensiven Inselparadies? Mitten im höchst umstrittenen Nationalpark? Was sollte der wohl für Feinde haben? Wo denkst du hin! So einer wird hier doch auf Händen getragen.«
Sarkasmus, dachte Marian, muss Lüppo noch üben. Das hat er noch nicht richtig drauf. Vor allem sollte er die Hände still halten, wenn er von Händen redet. Und nicht so tun, als wollte er gerade jemanden erwürgen.
Er grüßte und wandte sich ab. Nicht mehr lange, und die Meute der Sensationsschreiber, Leichenknipser und Katastrophenfilmer würde den Sand zertrampeln. Ganz zu schweigen von den vielen gaffenden Handyschwingern, die sämtliche Netzwerke mit Voyeurs-Futter vollferkeln würden. Dann wollte er lieber woanders sein.
Nämlich an seinem Arbeitsplatz.