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Peter Gerdes
Hetzwerk
Ostfriesland-Krimi
Zum Buch
Falsche Spuren Regionalpolitiker Carsten Fecht hat es bis zum Landtagsmandat gebracht. Für seine Karriere ist ihm jedes Mittel recht. In diversen Chat-Foren hetzt er gnadenlos gegen jeden, der ihm in die Quere kommen könnte. Bis er vor seinem eigenen Haus erschossen wird. Hat sich eines seiner Opfer gerächt? Oder fürchtete ein Mittäter peinliche Enthüllungen? Hauptkommissar Stahnke und sein Team, verstärkt durch die neue Kollegin Annika Brühl, hat die Ermittlungen kaum aufgenommen, als eine Reihe von Anschlägen Ostfriesland erschüttert. Häuser werden in Brand gesetzt und bei einem Bombenanschlag stirbt ein Gewerkschaftsfunktionär. Hängen diese Fälle zusammen? Steckt womöglich ein ganzes Netzwerk dahinter? Und was sind die Motive? Je näher Stahnke und seine Kollegen der Wahrheit kommen, desto brisanter wird die Lage. Nicht zuletzt für sie selbst. Aber als sie das erkennen, ist es bereits zu spät. Oder können sie die Katastrophe doch noch verhindern?
Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © hespasoft / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6752-3
1.
»Oh Gott, da ist er wieder.« Lars Noack trat zwei Schritte zurück und schob sich hinter ein Grüppchen miteinander schwatzender Ratsmitglieder, das genügend Deckung bot.
»Wer ist da?« Friedo Adams reckte den Hals. »Meinst du den Kellner?« Er hob sein Bierglas, musterte es. Noch halbvoll. Der hochgewachsene Insulaner schien unschlüssig, ob er den Rest umgehend vernichten und gleich nachbestellen sollte, solange die Chance bestand. Der Platz hinter der Waage am Hafen von Leer war voller Menschen, die wie jedes Jahr am 30. April zur Maibaumfeier erschienen waren, da war Getränkenachschub immer Glückssache.
Ratsherr Noack legte ihm die Hand auf die Armbeuge. »Nee, nicht jetzt! Sonst guckt er noch her.«
»Na, das soll er doch!« Adams kapierte nichts.
»Nicht der Kellner, Mensch. Der Fecht!« Noack, der auf Pressefotos sowieso immer an eine Schildkröte erinnerte, zog seinen Kopf noch ein Stückchen weiter ein.
»Ach so, der Fecht!« Adams guckte erstaunt. »Wieso, Carsten ist doch in Ordnung! Wie der neulich erst wieder diesem Schmierfinken von der Lokalzeitung die Meinung gegeigt hat …« Sein breites Lachen legte makellose Zahnreihen bloß.
»Ja, ja, der Fecht, der geigt den Leuten gerne die Meinung.« Mit zusammengekniffenen Augen linste Noack zwischen seinen Ratskollegen hindurch zu dem großen, breitschultrigen Mann mit dem rötlich schimmernden Pferdeschwanz hinüber, der gerade jede Hand schüttelte, die in seine Reichweite kam. »Gerne auch hinter deren Rücken, wie man inzwischen weiß. Großer Mist, wenn das dann doch rauskommt. Und groß in der Schmierfinken-Zeitung steht!«
»Ach, das meinst du.« Friedo Adams senkte jetzt auch sein Haupt, was aber nicht viel bewirkte, befand es sich doch eine ganze Etage höher als das von Noack. »Diese blöde Hackergeschichte! War doch nicht Carsten Fechts Schuld, diese Attacke. Er hat doch nur seine Meinung gesagt. Und das wird man ja wohl noch dürfen.«
Noack konnte einen hämischen Gluckser nicht unterdrücken. »Tja, Meinungen sind wie Arschlöcher, was? Jeder hat eins.« Er zog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch. »Bloß, dass der Fecht zu allem und jedem eine Meinung hat. Intern oder nicht. Und selten eine schmeichelhafte! Außerdem hat er noch seine U-Boote, die für ihn die Torpedos abschießen. Es gibt eine Menge Leute, denen das stinkt. Auch unter den Genossen.«
»Arschlöcher! Denen das stinkt! Hähä, gut gesagt.« Adams war deutlich anzusehen, woran er gerade dachte. Auf anale Metaphern fuhr er voll ab. Sein anzügliches Grinsen verging jedoch schnell. »Mir hat Carsten aber geholfen damals«, sagte er. »Wenn er sich nicht für mich stark gemacht hätte, dann hätte ich die Stelle bei der Langeoog-Touristik vielleicht nicht bekommen.«
»Damals wusste er ja auch noch nicht, was du sonst noch so treibst«, sagte Lars Noack so leise, dass seine Worte von dem Wind, der in leichten Böen das kakaobraune Wasser des Leeraner Hafens kräuselte, gerade eben nicht verweht wurden. »Außerdem – dafür, dass er dir die Hand vor den Hintern gehalten hat, hat er seine Hand nachher ganz schön aufgehalten, oder nicht?«
»Ach, das war doch nur Spaß, was du meinst! Von wegen, was ich treibe. Zwei- oder dreimal höchstens! Alles überhaupt nicht ernst gemeint. Vergiss es!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, ohne an sein Bierglas zu denken. Noack konnte der schwappenden Flüssigkeit gerade noch ausweichen, zwei andere Ratsherren aber bekamen das Gebräu über die Hosenbeine und beschwerten sich lautstark.
Im nächsten Moment stand Carsten Fecht vor ihnen. »Na, Kollegen, Genossen, alles klar? Hat der Friedo euch nassgemacht? Sagt mir Bescheid, wenn er euch ärgert, dann helfe ich euch, das wisst ihr ja wohl!« Kräftige Hände an langen Armen schnappten zu, schüttelten andere Hände und klopften Schultern.
»Na, Lars, auch hier?« Ein abfälliger Blick aus tiefen Augenhöhlen, zwei herabgezogene Mundwinkel unter breiter Boxernase. Schon hatte sich Fecht wieder anderen Umstehenden zugewandt.
Lars Noack sah den rötlichen Zopf auf edlem Anzugstoff pendeln. Seine eigenen Hände hatte er rechtzeitig in den Hosentaschen verstauen können. Dort ballte er sie jetzt zu Fäusten.
»Also ich mag ihn, den Carsten«, ließ Friedo Adams sich vernehmen. »Der ist so richtig volksnah! Spricht das aus, was alle denken, ohne Rücksicht auf Greta oder diese verlogene Political Correctness. So einen brauchen wir doch heutzutage in der Partei, wo alles zu den Rechten rennt. Wenn Carsten Fecht bei uns das Sagen hat, dann müssen die Wähler das nicht.«
Noack starrte den Insulaner an. Ob ihm bewusst war, was das bedeutete, was er da gerade gesagt hatte? Vermutlich nicht. Schlimm genug war, dass er recht hatte.
»Meine lieben Freunde, Mitbürger, liebe Leeraner!« Jetzt schallte Carsten Fechts kräftige Stimme über den ganzen Waageplatz. Anscheinend war eine seiner gefürchteten spontanen Ansprachen fällig. »Und natürlich liebe Leeranerinnen«, schob er feixend nach. »Das hat mir meine Frau eingeschärft, weil sich das so gehört heutzutage, sagt sie. Was soll ich machen, sie führt eben bei mir zu Hause das Regiment!«
Satt blubberndes Gelächter ringsum, klar dominiert von Männerstimmen. Lars Noack lachte nicht mit. Er hatte die gleiche SPD-Sozialisation hinter sich wie Fecht, 13 Jahre länger sogar, denn eingetreten waren sie beide mit 17. In Ostfriesland war die SPD schon immer weit rechts aufgestellt gewesen, na klar, das war eben der Lauf der Dinge. Wenn eine Partei über Jahrzehnte an der Macht war, dann wurde sie automatisch zum Sammelbecken für Opportunisten, und die waren selten links. Oder wenn, dann nicht lange – jeder wollte doch irgendwann an die Fleischtöpfe. Aber was Fecht dort abzog, das war selbst Noack zu vorgestrig. Und unterirdisch. Wer fand denn so was heute noch witzig?
»Aber meine lieben Freundinnen, das sage ich nicht«, fuhr Fecht fort. »Sonst wird meine Frau wieder eifersüchtig.«
Das Gelächter schwoll an, jetzt auch durchmischt mit schrillen Frauenstimmen. Noack stellte fest, dass er falsch gelegen hatte. Mal wieder. Anscheinend konnte kein Niveau zu niedrig sein.
»Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend hier auf unserem schönen Waageplatz in unserem wunderschönen Leer so viele von euch treffe, und ich freue mich natürlich ebenso über die vielen aufmunternden und unterstützenden Worte, die ich heute von euch zu hören bekommen habe.« Carsten Fecht breitete die Arme aus. »Das tut gut, das tut unheimlich gut in diesen Zeiten, in denen es so viele Anfeindungen gibt, in denen viele wohl vergessen haben, was meine Parteigenossen und ich schon alles für unser Land, für unsere Menschen getan haben. Umso schöner, dass ich hier viele von euch sehe, die ein besseres Gedächtnis haben.« Jetzt hob Fecht die Arme, als wollte er die Menge segnen. Dankbarer Applaus brandete auf.
Auch Friedo Adams hieb seine Handflächen aufeinander. Lars Noacks Hände blieben in den Taschen. Er selber hatte keinerlei aufmunternde und unterstützende Worte an Carstens Fechts Adresse vernommen. Nicht ein einziges. Aber eine starke Behauptung übertrumpfte eben jederzeit einen schwachen Beweis.
»Jetzt kann ich nur hoffen, dass ihr euch auch den nächsten Wahlsonntag dick im Kalender angekreuzt habt!«, rief Fecht. »In Rot natürlich! Wählen gehen! Denkt alle daran, nur wer wählen geht, kann auch bewahren und verändern!«
Noack spürte Friedo Adams’ Ellbogen in seinen Rippen. Reflexartig begann auch er zu klatschen.
»Na, so begeistert?« Zwischen Noack und Adams tauchte plötzlich Mareike Feeken auf, die junge Lokalredakteurin der Ostfriesen-Post. »Hatten Sie sich nicht neulich von Carsten Fecht distanziert? Nachdem Ihr gemeinsamer Chat aufgeflogen war?«
Lars Noack verdrehte die Augen. Die Frau hatte ihm gerade noch gefehlt! »Von meinen eigenen Worte habe ich mich distanziert, wenn ich Sie mal korrigieren dürfte«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was ich über Jelto Harms geschrieben habe, hätte ich so nicht schreiben dürfen, ganz klar. Das gehört sich nicht, auch nicht intern, und das stimmt auch einfach nicht. Davon habe ich mich distanziert, nicht vom Genossen Fecht.« Er atmete tief durch; die Worte hatten ihn Kraft gekostet.
»Stilistischer Tonfall und Inhalte dieses Wortwechsels wurden aber eindeutig von Herrn Fecht diktiert«, bohrte die Journalistin nach. »Ich hab’s ja selber gelesen. Er hat auch die Behauptung aufgestellt, Harms sei ein Pädophiler und hätte sich an kleinen Jungs vergriffen. Man kann sich vorstellen, was das für den Rektor einer Grundschule bedeutet.«
Noack brach der Schweiß aus. »Ich sagte schon, das war falsch, ich habe mich doch inzwischen davon distanziert. Ebenso wie von den Angriffen auf Christel Röben.« Er kramte in seiner Windjacke nach einem Taschentuch. Dann stutzte er. »Sie haben es gelesen?«, fragte er nach. »Im Original? Aber das steht doch schon längst nicht mehr online.«
»Wir verfügen über Downloads«, sagte Mareike Feeken. »Und wie es aussieht, bekommen wir bald noch sehr viel mehr davon.«
Noack tupfte sich die Stirn ab. Der Schweiß fühlte sich kalt an. »Mehr davon?«, fragte er. Seine Stimme brach, er musste sich räuspern. »Noch mehr Chatverläufe? Wieder von dem Hacker?«
Die junge Redakteurin schüttelte den Kopf. »Nein, von Carsten Fecht selbst! Er war heute zum Interview bei uns. In der Online-Ausgabe steht es schon. Er ist es leid, als Buhmann der SPD hingestellt zu werden, und will uns demnächst Material vorlegen, aus dem hervorgeht, dass er längst nicht als Einziger in der Partei so denkt und redet.« Mareike Feeken klang belustigt, als sie hinzusetzte: »Buhmann hat er gar nicht gesagt, sondern Rotes Muli. Er will nicht das Rote Muli sein, das für die ganze Partei die Last tragen muss und dafür auch noch Prügel bezieht.«
Sie beugte sich zu Lars Noack hinüber; ihre Miene wirkte besorgt, als sie fragte: »Alles in Ordnung? Geht es Ihnen auch gut?«
»Aber ja.« Noack winkte ab, was wegen des Taschentuchs etwas theatralisch wirkte. »Leichtes Kratzen im Hals, das ist alles.«
»Dagegen hilft Trinken«, riet die junge Frau. »Notfalls auch Bier! Schauen Sie, Ihr Genosse Fecht macht es Ihnen vor. Der pichelt schon den ganzen Abend ein Ostfriesenbräu nach dem anderen.«
Das war nicht zu übersehen. Immer wieder griff sich Carsten Fecht ein Glas von einem Kellnertablett, ohne zu fragen, wer das bestellt hatte oder wer das bezahlte. Hat sich schon früher gerne aushalten lassen, dachte Lars Noack. Seit Fecht jedoch im Landtag saß, war das noch weit schlimmer geworden. Hatte er eigentlich aus der Lebenshilfe-Affäre nichts gelernt? Damals hatten einige seiner Genossen diese wohltätige Leeraner Einrichtung völlig schamlos als Selbstbedienungsladen benutzt, bis sie aufgeflogen waren. Oder aus der Affäre Wulff? Wenn sogar ein Bundespräsident wegen der Annahme kleiner und mittlerer Gefälligkeiten hatte gehen müssen, wie konnte Fecht glauben, dass sich ein Landtagsabgeordneter alles erlauben konnte?
Na ja, bis jetzt durfte er sich in dieser Ansicht bestärkt fühlen, dachte Noack bitter. Wegen Handaufhaltens hatte ihn noch keiner öffentlich kritisiert. Nur wegen Maulaufreißens. Und anstatt einzulenken, wollte er jetzt in die Offensive gehen? Noch mehr Chats öffentlich machen, um seine Kritiker bloßzustellen? Als Mittäter?
Das durfte auf keinen Fall passieren.
Noack schaute sich nach Friedo Adams um, der ihm während des Gesprächs mit der Redakteurin abhandengekommen war. Er entdeckte ihn bei einem der Kellner, in der einen Hand ein frisches Bier, mit der anderen nach Kleingeld kramend. Na klar, als lumpiges Gemeinderatsmitglied von Langeoog bekam man in Leer natürlich nichts geschenkt.
Er winkte Adams heran und setzte ihn über das gerade Gehörte in Kenntnis. Der hochgewachsene Insulaner, der eben zum Trinken angesetzt hatte, erstarrte in der Bewegung. Das Bier lief ihm in dünnen Strömen übers Kinn und versickerte in seinem dunkelblauen Troyer. »Was will er?«, fragte er nach, obwohl die plötzliche Blässe seines Gesichts verriet, dass er sehr wohl verstanden hatte.
»Carsten Fecht will uns an den Pranger stellen«, fasste Lars Noack zusammen. »Uns und auch andere. Um sich selber aus der Schusslinie zu nehmen. Die Vorwürfe gegen ihn kann er ja schlecht entkräften, weil die einfach stimmen und bewiesen sind. Also will er zeigen, dass andere genauso schlimm sind. Oder noch schlimmer.« Er zeigte auf Adams: »Weißt du noch, die Fotos, wo du mit erhobenem Arm beim Osterfeuer stehst? ›Sieg Heil‹ und so? Damals haben wir mit viel Mühe verhindern können, dass die veröffentlicht wurden. Ich bin mir sicher, dass Carsten Fecht die noch irgendwo gespeichert hat.«
»Aber was denn … wieso denn?« Mit Verspätung wischte sich Adams das Kinn ab. »Ich hab’ euch doch erzählt, dass ich damals völlig besoffen war! Da ist mir das eben unterlaufen. Daraus kann man mir doch jetzt keinen Strick mehr drehen!«
»Das ist dir aber nicht nur diese eine Mal passiert, sondern mindestens dreimal«, verbesserte Noack. »Und das sind nur die dokumentierten Fälle! Und dass man dir einen Strick daraus dreht, sobald das in der Zeitung gestanden hat, das kann ich dir versprechen. Einen sehr haltbaren Strick, da kannst du lange dran baumeln.«
»Ja aber, ich war doch … betrunken –.« Friedo Adams’ Stimme erstarb.
Jetzt merkt er es wohl selber, dachte Noack. Alkohol tut nichts rein in die Köpfe, sondern lässt nur das raus, was vorher schon drin war. Das ist nicht jedem klar, aber vielen. Wenn das, was er getan hat, veröffentlicht wird, ist es mit seiner politischen Karriere vorbei, noch ehe sie richtig angefangen hat. Und nicht nur mit seiner.
Lautes Hallo in der Nähe ließ ihn aufblicken. Aha, Carsten Fecht begann sich zu verabschieden. Das pflegte eine Weile zu dauern, denn er bevorzugte die englische Methode; möglichst jeder Anwesende sollte noch seinen Händedruck und ein Bonmot dazu bekommen.
»Der ist doch auch nicht mehr nüchtern«, knurrte Friedo Adams. Von seiner Begeisterung für Fecht war nichts mehr zu bemerken. »Wenn der von den Bullen angehalten wird, ist er seinen Lappen los. Und sein Landtagsmandat kann er sich in die geölten Haare schmieren.«
Lars Noack bezweifelte das stark; in Hannover war schon manche politische Karriere trotz alkoholbedingter Delikte weitergegangen. Sofern der volltrunken am Steuer Erwischte männlich war.
»Wie hat er sich selber genannt?«, fuhr Adams fort. »Habe ich vorhin online gelesen, war ganz frisch. Roter Esel? Passt! Da gibt es doch so ein Sprichwort, von wegen den Esel schlagen, obwohl man den Sack meint.« Er knallte seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Wenn dieser Sack das wirklich macht, was er angekündigt hat, dann wird sich das Sprichwort wohl bewahrheiten.«
Lars Noack verdrehte die Augen. »Wenn er das wirklich macht, dann ist es hinterher zu spät«, sagte er. »Wenn all das öffentlich wird, worüber Carsten Fecht Bescheid weiß, dann rettest du nichts mehr. Für dich nicht, für mich nicht und für viele andere auch nicht. Genossen oder nicht.«
Adams knallte sein leeres Glas auf den nächstbesten Tisch, ohne auf die missbilligenden Mienen der Maifeiernden, die dort saßen, zu achten. »Ich muss dringend mein Bier wegbringen«, schnaufte er und stapfte davon.
Auch Carsten Fecht brach jetzt endlich auf, nicht ohne sich noch ein paarmal umzudrehen und den Umstehenden zuzuwinken. »Treibt’s nicht zu dolle!«, rief er laut. »Denkt daran, morgen früh heißt es: heraus zum 1. Mai!«
Dass ihm dabei nicht die Zunge verdorrt, dachte Lars Noack. Auch er begann, sich durch das Gedränge hindurch in Richtung Rathausbrücke zu schieben. Sein Auto hatte er zwischen den hochpreisigen Neubauten auf der gentrifizierten Halbinsel Nesse abgestellt. Fecht anscheinend auch. Der große Mann mit dem Pferdeschwanz war ihm schon 20, 30 Meter voraus. Noack hatte sich überlegt, ob er Fecht ansprechen sollte, abseits der Feiernden und bei fortschreitender Dunkelheit. Er hatte sich dazu aber nicht durchringen können. Jetzt war es sowieso zu spät dafür; Fecht schritt flott aus, sein Vorsprung wuchs stetig.
Noacks Wagen war ein dunkelgrauer Mazda, schon acht Jahre alt. Dass der SPD-Stadtrat mit seiner politischen Tätigkeit Reichtümer angehäuft hätte, hatte ihm bisher noch niemand nachgesagt. Er stellte ja auch nicht zur Schau, was er besaß. Tatsächlich hatte er seit einiger Zeit einen Aufsichtsratsposten beim Energieversorger Nordwestkraft inne, der ihm einen sehr netten Nebenverdienst bescherte, ohne dass er sonderlich viel dafür tun musste. Dafür fehlte ihm auch jede Qualifikation. Verdient hatte er sich diesen Job einzig durch Verlässlichkeit beim Abstimmungsverhalten. Auch Carsten Fecht hatte das seinerzeit abgenickt.
Wenn der wirklich mit allem an die Öffentlichkeit ging, was er so wusste und belegen konnte, dann war es mit der Extrakohle bald vorbei, da war Noack sich sicher. Dann würde er das große Haus in Leer-Loga auch nicht mehr lange halten können. Den Kaufvertrag dafür hatte er unmittelbar nach seinem informellen Treffen mit Fecht unterschrieben. Dabei hatten der Aufsichtsratsposten und die Bezüge dafür noch volle elf Monate auf sich warten lassen. An den Schulden, die sich in diesen elf Monaten angehäuft hatten, knabberte Noack immer noch.
Carsten Fecht lief mit langen Schritten an Noacks Auto vorbei, ohne es eines Blickes zu würdigen. Sein eigener Wagen stand 50 Meter weiter. Ein Porsche Cayenne, ein SUV, der sich mit 20 Litern Super auf 100 Kilometer sicher nicht zufriedengab. Dafür war er rot lackiert. Oh ja, äußerlich war Fecht immer ganz auf Parteilinie.
Rotes Muli, dachte Noack. Von wegen! Wenn es in der Partei Leute gab, die ständig ackerten und buckelten und die ganze Last für die anderen trugen, dann waren das Genossen wie er selbst! 80 Wochenstunden im Dienst der Allgemeinheit für kaum mehr als eine Ehrenamtspauschale. »Wir schuften hier wie die Grubenponys«, hatte mal ein Neumitglied aus dem Ruhrgebiet abends beim Bier getönt. Das hatte kaum jemand verstanden. Kohlegruben hatte es in Ostfriesland nie gegeben, und um zu wissen, dass die mit Kohle vollgeschaufelten Loren früher von Ponys durch abschüssige Stollen ans Tageslicht gezogen worden waren, musste man in Geschichte aufgepasst haben.
Wenn man sich so die Politik der SPD in Ostfriesland ansah, fand Noack, dann hatten die allermeisten Genossen in der Schule gepennt. Tief und fest. Nicht nur in Geschichte.
Er stieg ein. Der Cayenne setzte bereits aus der Parklücke zurück. Noack startete seinen Motor, parkte aus, fuhr los. Die roten Rücklichter des roten Porsche leuchteten vor ihm. Falls Carsten Fecht gerade nach Hause fuhr, dann hatte er denselben Weg wie Lars Noack. Natürlich wohnte er ebenfalls in Loga.
Natürlich. Loga war der Stadtteil der Besserverdienenden. Wo sonst sollte solch ein Rotes Muli wohnen? Etwa in der Altstadt, dem ehemaligen Rotlichtquartier? Hier war die Gentrifizierung zwar ebenfalls im Gange, aber noch längst nicht vollendet, außerdem waren viele Häuser zwar nett anzuschauen, aber eng, und die Grundstücke waren klein. Oder auf der Nesse? Die ehemalige Industriebrache mitten in der Stadt war erst vor ein paar Jahren mit teuren Stadtvillen bebaut worden; hier zu wohnen, war etwas zu offensichtlich. Heisfelde war etwas für die kleineren Leute, die Moormerlandsiedlung gut genug für Lehrer. Der Rest der Wohnquartiere steckte voller prekärer Einsprengsel. Dort wollte ein SPD-Landtagsabgeordneter zwar gewählt werden, aber doch bestimmt nicht wohnen!
Noack verschaltete sich; sein Getriebe krachte. Ein Spaziergängerpärchen drehte sich nach ihm um. Er rief sich zur Ordnung. Warum so bitter, fragte er sich, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war doch immer noch seine Partei, hatte immer noch das große S an erster Stelle!
Aber nur auf dem Papier. Noack erinnerte sich noch allzu gut, wie nach den Landtagswahlen 2013 Rot-Grün mit hauchdünner Mehrheit die Landesregierung stellen konnte. Wie er das gefeiert, was für Hoffnungen er seinen Wählern gemacht hatte! Die Schulen würden neu aufgestellt, die Landwirtschaft auf natürlich gedreht, und die geschundene, halbtote Ems würde endlich gerettet werden! Ha, Pustekuchen. Nichts davon geschah. Heute, nachdem Rot-Grün nach nur viereinhalb Jahren abgewählt worden war und eine rot-schwarze Koalition in Hannover die Geschäfte betrieb, waren die Gymnasien die einzig verbliebenen und entsprechend überfüllten Rettungsboote, alle anderen Schulformen kurz vor dem Absaufen. Gülle und Nitrat waren schon im Grundwasser nachweisbar. Und die Ems lag nicht mehr im Sterben, sie war tot. Mausetot!
Noacks Hände krampften sich um sein Lenkrad. Weit vor ihm bremste der Cayenne an einer roten Ampel, und er hatte nicht übel Lust, aufs Gas zu treten und ihm hinten reinzufahren. Aber was würde das nützen? Sein Mazda würde an dem schweren SUV zerschellen, ohne allzu viel Wirkung zu erzielen, nicht einmal in den Querverkehr würde er ihn schieben können, zumal gerade gar keiner da war. Der Airbag würde ihm die Brille verbiegen und vielleicht seinen neuen Stiftzahn lockern. Dann hätte er zum Spott auch noch den Schaden.
Die Ampel sprang auf Grün, gerade als Noack heran war. In moderatem Abstand kurvten Fecht und er an der Polizeiinspektion vorbei, an billigen Klamotten- und Kramläden, an der Hauptpost. Dann 90 Grad nach rechts, vor dem Bahnhof um den Kreisel herum, an dem frisch renovierten Hotel Frisia vorbei, dann rechts in die Logaer Hauptstraße. Tagsüber hatte man hier Staugarantie, abends aber konnte man diese Route durchaus fahren, falls nicht gerade gebaut wurde. Nur die Schranken waren immer für einen längeren Aufenthalt gut. Diesmal hatten sie Glück, die Sabotagebalken waren oben.
Noack fuhr exakt 50, obwohl er nur zwei Bier getrunken hatte und keine Kontrolle zu fürchten brauchte. Fechts Cayenne gewann schnell wieder an Vorsprung. War dem denn alles egal? Oder fühlte er sich schon unantastbar?
Hindenburgstraße, Gustav-Elster-Straße, An der Friedenskirche – hier in Loga gab es wirklich alles. Sogar einen Roten Weg. Das hätte gepasst, aber dort wohnten weder Lars Noack noch Carsten Fecht. Wenn auch ganz in der Nähe. Viel hatte nicht gefehlt, und sie wären Nachbarn gewesen. Gott sei Dank, dass ein paar Grundstücke dazwischen lagen, dachte Noack. Ihre Häuser sahen sich sogar ein bisschen ähnlich, auch von der Größe her. Nur, dass Noack sich für seines noch viele Jahre lang würde krummlegen müssen, während Fecht das seinige geheiratet hatte. Geerbt hatte er außerdem, Bargeld und Aktienpakete von seinem früh verstorbenen Vater, einem SPD-Regionalfürsten, wie er im Buche stand. Ein geschwollenes Radieschen, außen rot und innen weiß!
Fecht bog ab, Noack folgte ihm. Sein Haus kam zuerst in Sicht, Fecht wohnte weiter die Straße hinunter. Da war Noacks Einfahrt, an dieser Stelle nahm er gewöhnlich den Fuß vom Gas. Hier galt sowieso Tempo 30.
Spätestens jetzt hätte er stoppen müssen. Aber er tat es nicht, ließ den Mazda weiterrollen, dem Cayenne hinterher. Aus welchem Grund? Zu welchem Zweck? Sollte er Fecht vor dessen Haustür abpassen, mit ihm reden, ihn zu überzeugen versuchen?
Aber wovon? Gnade vor Recht? Gnade war kein Wort aus Fechts Vokabular. Weichei schon eher.
Da links war Fechts Haus, dort seine Einfahrt. Der Cayenne blinkte, rauschte auf seinen üblichen Platz. Die Reifen radierten leicht. Fecht stieß die Fahrertür auf. Beim Aussteigen schwankte er merklich, musste sogar einen Ausfallschritt machen. Man hörte deutlich, dass er das witzig fand.
Lars Noack hielt am rechten Straßenrand. Hier konnte man überall parken, musste nur auf die Einfahrten achten. Er riss die Autotür auf, wollte sich beeilen, bei Fecht sein, ehe der im Haus verschwand. Trotzdem hielt er noch einmal inne, tauchte zurück ins Auto, nahm einen großen braunen Umschlag an sich. Dann warf er die Fahrertür zu.
Carsten Fecht hatte seine Haustür schon fast erreicht. Beim Geräusch der Autotür drehte er sich um. Lichtschrankengesteuerte Lampen flammten auf und erhellten den kunstvoll gepflasterten Vorplatz.
»Was willst du denn noch?«, blaffte Fecht. »Mit dir bin ich fertig!« Das Schlüsselbund in seiner Hand rasselte ungeduldig.
»Carsten, ich bitte dich!« Noack gestikulierte mit der linken Hand, behielt seine rechte hinter dem Rücken. »Überleg es dir gut, ehe du alles an die Presse gibst. Lass dir das noch mal durch den Kopf gehen! Da hat doch keiner etwas davon, wenn du jetzt die ganze Partei mit in den Abgrund reißt. Lass uns doch …«
»Ach so, nicht die Partei, was?«, höhnte Fecht. Er trat zwei Schritte auf Noack zu, stand fast Brust an Brust vor ihm, sodass der den Kopf in den Nacken legen musste. »Nicht die Partei, das heißt ja wohl vor allem: nicht dich, was? Du willst weiter schön deine Diäten kassieren. Was aus mir wird nach der nächsten Wahl, kann dir ja egal sein, was? Aus dem unappetitlichen Herrn Fecht!« Er hob die Hand mit dem Schlüsselbund, als wollte er Lars Noack ohrfeigen.
Noack riss seine rechte Hand hinter dem Rücken hervor. Darin hielt er einen braunen wattierten Umschlag, äußerlich unscheinbar, aber Fecht schnappte trotzdem nach Luft, starrte dem Stadtrat überrascht ins Gesicht. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zu seiner Haustür, den Schlüssel vorgestreckt.
Der Schlüssel stieß ins Leere, denn die Tür schwang ohne sein Zutun auf. Drinnen war es stockdunkel. Jedenfalls einen Moment lang. Dann erhellte ein Blitz die Szenerie, begleitet von einem enorm lauten Knall.
Fecht wurde rücklings zu Boden geschleudert wie von einem Rammbock. Gleichzeitig ertönte ein Schmerzensschrei. Unmittelbar danach ein Repetiergeräusch.
Lars Noack rannte, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Erst vor seiner eigenen Haustür fiel ihm ein, dass er an seinem Auto vorbeigerannt war. Er schloss die Haustür von innen ab und hakte die Sicherheitskette ein, ehe er mit fliegenden Fingern die 110 wählte.