Read the book: «Bananenangst»

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Gneisenaustraße 64

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Covergestaltung: Norma Vohland

Cover-Fotografie: Ouh_desire

ISBN: 978-3-86327-069-8

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Finde den Fehler

Für dich.

Du bist dick.

Und du bist schön.

Das sind keine Widersprüche.

***

Du weißt, dass es schlimm ist, wenn du vor Bananen Angst hast. Wenn du nicht mehr dazu fähig bist, eine Banane in dein Frühstücksmüsli zu schneiden oder gar einfach so als Zwischensnack in eine Banane zu beißen. Wenn du so sehr nach einer frischen, zarten Banane lechzt, dir aber lieber die Hände abschneiden würdest, als eine zu essen. Du weißt, dass es schlimm ist, wenn du träumst, dass du unermesslichen Hunger hast, aber an einem Ort bist, wo es nur Bananen gibt. Dein Magen zieht sich schmerzvoll zusammen und du denkst darüber nach, ob du vielleicht nicht doch – nein. Niemals würdest du eine Banane essen. Bevor du im Traum verhungerst, wachst du schweißgebadet und unter Tränen auf. Aber in der Realität hört der Hunger nicht auf. Dann überlegst du dir, wie lange du schon keine Bananen mehr gegessen hast. Dein Kopf beginnt zu brodeln und wirft die Rechenmaschine an. Eine Banane: so viele Kalorien wie fünf Knäckebrote. Oder zwei Packungen Sauerkraut – das macht auf jeden Fall satt. Da isst man doch lieber Sauerkraut. So viele Kalorien wie vier Kugeln Erdbeereis. Obwohl. Es kommt darauf an. Wie groß sind die Kugeln, wie schwer die Banane? Wiegen die Menschen, die die Kalorientabellen ins Internet stellen, die Banane mit oder ohne Schale? Wie viel wiegt eine Bananenschale? Für welchen Reifegrad sind die Kalorien errechnet worden? Werde ich zunehmen, wenn ich die Banane esse? Warum gibt es in diesem Albtraum kein Knäckebrot? Oder Salat? Eine Banane: so viele Kalorien wie sieben große Tomaten.

Tomaten. Kaum ein Gemüse hat weniger Kalorien. Pilze, Gurken oder Salat toppen die Tomaten mit ihrem Wasseranteil. Aber ansonsten sind Tomaten super.

Du kannst keine Bananen mehr essen, denn du hast im Internet gelesen, dass die Banane der „Schokoriegel“ unter dem Obst ist. Und du isst ja keine Schokolade mehr. Du hast schreckliche Angst davor, dem Hunger zu erliegen und die Banane zu essen. Rückfällig zu werden. Undiszipliniert. Wieder zur Versagerin. Aber du bist keine Versagerin. Nicht mehr. Du bist stark. Du kommst gut klar, ohne Bananen essen zu müssen. Du willst ja gar keine Bananen. Der Wille zu siegen, ist stärker als der Wille zu essen. Hunger ist Schwäche. Hunger ist ein Fehlsignal deines schwachen Körpers.

Hunger ist nicht real.

Also leidest du weiter unter deiner vermeintlichen Stärke und das Einzige, was sich in deinem Leben ganz prächtig ernährt, ist die Angst. Die Bananenangst. Sie ernährt sich von den tiefsten Abgründen deiner Seele, frisst sich in dich hinein, frisst dich auf. Frisst und frisst, während du nicht einmal mehr wagst, den Mund zu öffnen, um ein Knäckebrot zu essen. Und so wächst und gedeiht die Bananenangst zur Nudelangst. Kirschenangst. Weißbrotangst. Käseangst. Nussangst.

Hast du früher tatsächlich Avocado gegessen? Eine halbe Avocado: so viele Kalorien wie …

Du weißt, dass es schlimm ist, wenn du vor Bananen Angst hast. Denn wenn dir schon Bananen Angst machen, kannst du vor nichts mehr sicher sein.

Am wenigsten vor dir selbst.

Kapitel 1: Finde den Fehler

Es war mein erster Tag in der Klinik. Nicht in der abgedroschenen Psycho-Klinik, die ich letzten Monat besichtigt hatte. Nein, ich hatte mich für eine andere entschieden. Hier war das Vorgespräch nicht annähernd so verzehrend verlaufen. Wenigstens hatte ich noch die Wahl gehabt, bevor mir die Zwangseinweisung drohte. Eine ehrenamtliche Dame mit grünem Kittel hatte mich eben in einen langen Gang gesetzt. Mir gegenüber war das Stationszimmer der Pflege. Eine Glasfront, um Durchlässigkeit zu suggerieren. Zugezogene Vorhänge, um Distanz zu wahren. Gelbtöne. Abstrakte Kunst an den weißen Wänden und Fotos vom Therapiegarten als Collage. Mein Magen würde mich innerhalb der nächsten Minuten umbringen. Ein Teil von mir wollte einfach nur aufstehen und weglaufen. Ich wollte sowieso nicht hierherkommen. Wie mechanisch war ich aus meiner Wohnung gelaufen, hatte den Koffer hinter mir hergezogen und zum Bahnhof geschleppt. Bei jedem Schritt hatte ich umdrehen wollen. Aber ich war weiter gegangen. Einfach weiter. Hatte Robins Stimme in meinem Kopf gehört und versucht die wirren Gedanken zu ignorieren. Schließlich hatte ich so sehr um diesen Klinikplatz gekämpft. Monatelang Telefonate geführt, verschiedene Kliniken besucht, bis nachts die blödesten Formulare ausgefüllt. Dann war der Anruf mit dem Termin für meine Einweisung gekommen. Und als ich noch mehr Gemüse gegessen und noch mehr Sport gemacht habe, weil ich dachte, dass ich in der Klinik das alles schließlich nicht tun könnte, ist mir bewusst geworden, dass ich wirklich Hilfe brauchte. Deswegen bin ich weitergelaufen. Ich brauchte Hilfe. Ich wollte Hilfe. Eine Stimme in mir hat diese Sätze immer wieder wiederholt, trotzdem war die Angst in mir so stark, dass sich mein Magen mal wieder verselbstständigte. Im Grunde wusste ich gar nicht genau, wovor ich Angst hatte. Vielleicht Angst, nicht am richtigen Ort zu sein, um Hilfe zu bekommen? Angst, doch keine Hilfe zu verdienen? Das war ein Gedanke, der sich immer wieder in den Vordergrund rückte: die Befürchtung, dass alle merken würden, dass es mir eigentlich gut geht und ich jemand anderem den Therapieplatz wegnehme. Jemandem, der wirklich krank und dünn war. Und ich hatte Angst vor den anderen Patienten. Noch nie war ich als Patientin in einem Krankenhaus gewesen. Ich wusste gar nicht, wie das alles funktionierte. Und nun direkt in der Psycho-Abteilung … Würde mich meine Zimmernachbarin akzeptieren? Würde ich Freunde finden? Würde ich abends allein und weinend in meinem Bett sitzen?

„Erster Tag?“ Ein Mann kam gerade aus seinem Patientenzimmer gelaufen und riss mich aus meinem Hirn-Flickflack. Er war sehr groß, mittelalt, hatte nasse Haare und ein Handtuch um den Nacken gelegt. Ich nickte und war nicht imstande, ein Wort hervorzubringen, so steif und fremd fühlte sich mein ganzer Körper an, während ich auf diesem unbequemen Stuhl in diesem mir unbekannten Gang saß.

„Mach dir mal keine Sorgen, Kleine. Bist hier in guten Händen. Wir sind alle sehr lieb. Die Pfleger und die anderen Patienten.“ Der Mann zwinkerte und redete und redete und lenkte mich von meinen Seelenqualen ab. Dabei erzählte er auch, wie lange er schon hier war, dass ihm hier die Schmerzen, die er seit Jahren hatte, teilweise genommen wurden und man hier gut aufgehoben war. Und obwohl ich viele von seinen Worten vergessen habe, weil die Eindrücke am ersten Tag einfach zu erschlagend waren, werde ich nie das Gefühl vergessen, das sich in diesem Moment bei mir verfestigt hatte: Ich war nicht allein. Monatelang hatte ich mich in meinem Schmerz einsam und verlassen gefühlt. Niemand konnte oder wollte mir helfen, sodass ich irgendwann das Gefühl hatte, keine Hilfe zu verdienen. Aber dieser fremde Mann hat es innerhalb weniger Minuten geschafft, mich zu beruhigen. Seine Augen strahlten eine außergewöhnliche Wärme und Sanftmut aus, wie ich sie selten erleben durfte. Er stand einige Minuten im Türrahmen, hat sich extra Zeit genommen, mit der Neuen zu reden, hat sich mir geöffnet. Mir Vertrauen und ein Lächeln geschenkt und das Gefühl gegeben, angekommen zu sein. Tatsächlich irgendwo richtig zu sein und diesen endlos verzehrenden Kampf endlich gewinnen zu können.

Zwar hatte ich noch immer tausend Ängste - mein Magen sollte mich in den nächsten Tagen mehr quälen als jemals zuvor - aber in diesem Moment wusste ich, dass ich all meine Sorgen nicht mehr allein durchstehen musste.

***

Ich freue mich richtig doll auf Nicoles zehnten Geburtstag! Schon den ganzen Tag bin ich super aufgeregt, dass mir ganz schlecht ist. Nach der Schule gehe ich heim. Mama hat lecker gekocht. Papa schmeckt es nicht. Er schreit. Schnell mache ich noch meine Hausaufgaben, dann gehe ich los mit meinem Geschenk. Es sind nur ein paar Straßen bis zu ihr. Nicole ist meine allerbeste Freundin. Aber ich bin nicht ihre beste Freundin. Das ist Tammy. Tammy ist dünn. Und Tammy hat öfter Zeit zu spielen. Sie lernt nicht so viel wie ich.

Bei Nicole bin ich die erste. Obwohl ich sie in der Schule schon gesehen habe, umarme ich sie und wünsche ihr nochmal alles Gute zum Geburtstag. Macht man das so? Die anderen kommen auch langsam und wir sitzen im Kreis auf dem Boden, während Nicole die Geschenke auspackt. Hoffentlich gefällt ihr mein Lesezeichen! Ich habe es selbst gebastelt. Das hat ganz schön lange gedauert. Sie bedankt sich und öffnet Tammys Geschenk. Pferdeaufkleber mit Glitzer. Sie freut sich mega. Bei mir hat sie sich nicht so gefreut! Ich hätte auch lieber etwas kaufen sollen. Das nächste Mal höre ich nicht auf Mama. Selbst gemachte Dinge sind wohl doch nicht so besonders. Max und Hanna mag ich nicht. Sie sind immer gemein zu mir und ich finde es blöd, dass Nicole sie auch eingeladen hat. Aber ich muss ja nicht mit ihnen spielen.

„Lasst uns ein bisschen rausgehen und Fangen spielen“, sagt Nicoles Mutter. Vor ihr habe ich Angst. Noch nie habe ich sie lachen gesehen. Und wenn sie auf mich schaut, schaut sie noch viel böser. Und sie schaut meinen Bauch an. Dann verschränke ich immer die Hände vor dem Bauch und ziehe ihn ein, so wie es mir Mama mal gezeigt hat.

Draußen ist es schön. Die Sonne scheint und Nicole, Tammy und ich gehen Arm in Arm.

„Da vorne, der Gartenzaun“, sagt die Mutter. „Wer zuletzt da ist, hat verloren.“ Alle rennen los. Ich auch. Ich verliere. So geht das Spiel weiter. Unser Weg geht ziemlich steil berghoch. Und der Verlierer muss den nächsten fangen, bis zu dem Ziel, das die Mutter aussucht. Aber wir haben schon drei Ziele erreicht, ohne dass ich jemanden fangen konnte. Mir ist ganz warm. Vom Rennen und von dem peinlichen Gefühl. Ich schlucke und will nicht weinen. Max und Hanna zeigen auf mich und kichern. Was sie sagen, kann ich nicht hören. Ich bin noch zu weit unten am Berg. Tammy und Nicole lachen auch. Über mich? Irgendwann bestimmt die Mutter, dass wir nicht mehr rennen müssen, und ich freue mich. Aber jetzt laufen Nicole und Tammy nicht mehr mit mir Arm in Arm. Finden sie mich eklig, weil ich so schwitze? So wie mich Max ansieht, findet er mich bestimmt eklig.

„Alles klar, Fetti?“, neckt er mich, als ich mir die Stirn abwische. Die Mutter läuft neben ihm. Sie sagt nichts. Also sage ich auch nichts. Ich ignoriere ihn, wie sonst auch in der Schule. An den meisten Tagen klappt das ganz gut. Heute nicht. Ich reibe mir die Augen.

Als wir wieder bei Nicole sind, spielen wir mit Puppen und Bauklötzen, aber es ist kein gemeinsames Spiel. Jeder macht irgendwie was anderes. Ich schaue auf die Uhr. Ich will zu Mama. Und Robin. Ich will nach Hause. Irgendwie habe ich Hunger. Sonst gibt es bei Geburtstagen doch Kuchen. Oder? Bei Nicole gibt es keinen Kuchen. Im Kinderzimmer ist nicht besonders viel Platz. Ich versuche mich klein zu machen und knie mich hin.

„Au, du zerquetschst meinen Fuß!“, quietscht Nicole und ich murmle eine Entschuldigung. Wie peinlich! Ich bin wirklich nur im Weg. Wo soll ich hin, dass ich die anderen nicht störe? Was könnte ich sagen, um früher heimzugehen? Ich könnte sagen, dass Mama gesagt hat, ich muss noch beim Haushalt helfen. Aber das wäre gelogen. Nein. Lügen gehört sich nicht. Ich werde durchhalten. Um 18 Uhr holt mich Mama ab. Nur noch eine halbe Stunde. Die Mutter ruft zum Abendessen. Es gibt Würstchen und Brot. Nichts davon schmeckt. Max sitzt mir gegenüber und bläst die Backen auf. Ich schaue wieder auf das Essen.

„Du, der meint dich“, sagt Tammy neben mir.

„Ich weiß“, antworte ich und möchte alles, was ich bisher gegessen habe, erbrechen und mein überschüssiges Fett gleich mit. Ich will nach Hause, ein großes Küchenmesser nehmen und meinen fetten Bauch einfach abschneiden. Haut wächst doch nach. Das muss doch gehen, oder? Warum hat Tammy das gesagt? Ich will Max ignorieren. Wenn ich ihm keine Aufmerksamkeit schenke, hört er irgendwann auf. Wenn ich unsichtbar bin, kann er nicht böse zu mir sein. Jetzt schauen aber auch die anderen zu ihm. Er lacht und bläht die Backen noch mehr auf. Es klingelt an der Tür. Die Mutter geht und kommt gleich wieder.

„Deine Mutter wollte dich schon holen, Scarlett“, sagt sie zu mir. „Aber ich habe ihr gesagt, dass wir gerade am Essen sind und erst noch fertig essen.“

Die Uhr. Es ist 18 Uhr. Jetzt darf ich heim. Ich will nicht fertig essen. Es schmeckt nicht. Wie kann sie es wagen, meine Mama einfach so wegzuschicken? Mama. Sie ist extra zum Haus gekommen, um mich zu holen. Sie wollte mich mitnehmen, aber sie durfte nicht. Mama hat sich umsonst Mühe gemacht. Sie hat wirklich anderes zu tun, als in der Gegend rumzuspazieren. Wie dumm ist das alles? Hoffentlich ist mir Mama nicht böse. Warum muss ich hier sein, wo alles so blöd ist? Warum soll ich dieses eklige Würstchen essen? Ich will heim.

Die Mutter schielt zu mir. „Sie holt dich dann später ab. Iss jetzt fertig.“

Nun passiert es doch. Ich muss heulen. Nicole isst weiter. Tammy auch. Max und Hanna flüstern miteinander. Niemand nimmt mich in den Arm.

***

Arielle in Natura kam mir entgegen, reichte mir die Hand und überwältigte mich mit dem schönsten Lächeln der Welt. Ihre unfassbar schönen roten Haare sahen genauso aus wie die Haarpracht meiner Lieblings-Disney-Heldin. Nicht nur leuchteten ihre Augen und waren unnatürlich freundlich, ihre weißen Zähne hätten jede Zahnpastawerbung zum Verkaufsschlager gemacht.

„Herzlich Willkommen auf der Station 3, Frau Schweighart. Ich bin Frau Best und darf Sie in Ihr Zimmer führen. Sie haben Sonnenschein mitgebracht, wie nett von Ihnen.“ Wie das andere Pflegepersonal trug auch sie keine weißen Kittel, sondern gewöhnliche Straßenkleidung. Lediglich ihr Namensschild „A. Best“ verriet, dass sie keine Gestörte war wie ich, sondern für ihre Zeit hier bezahlt wurde. Ich schätzte sie ungefähr auf mein Alter, Mitte zwanzig.

„Ähm, ja. Es hat lange genug geregnet“, antwortete ich und hätte mich für meine dumme Antwort ohrfeigen können. Die Frau mir gegenüber lachte aber und ihre strahlend grünen Augen funkelten.

„Da haben Sie recht! Dass heute ein so sonniger Tag ist, ist ein gutes Zeichen für den Beginn Ihrer Klinikzeit.“ Die Freundlichkeit der Pflegerin kam unerwartet und stand in klarem Kontrast zu dem, was ich im Vorgespräch in der anderen Klinik erfahren habe. Kurz blickte ich über die Schulter, wollte mich von dem netten Mann verabschieden, doch er war bereits verschwunden.

Arielle lief mit mir den langen Flur entlang. Mein Blick konnte sich nur schwer von ihrer roten, gewellten und außergewöhnlich vollen Haarpracht losreißen. Dann sah ich auf ihre wunderschöne Figur. Ihr Körper hatte die Gitarrenform, von der es hieß, sie sei die ideale Form des Frauenkörpers. Und das stimmte, meiner Ansicht nach. Was hatte sie nicht für schöne Hüften! Und dieser Po! Was würde ich dafür geben, so auszusehen? So richtig weiblich. Aber nein, ich war der fette Birnentyp.

Unförmig. Unweiblich. Unmenschlich.

Sie zeigte mir das Zimmer, das ich mit einer alten Dame teilte, die in Jogginghosen auf ihrem Bett saß und vor sich hinstarrte. Als mich Arielle vorstellte, seufzte sie schwer und ich meinte, ihre Schultern noch mehr in sich zusammensacken zu sehen, bevor sie ihren Kopf ein klein wenig hob, um kurzen Augenkontakt mit mir herzustellen. Bravo, dachte ich mir. Das wird bestimmt die schönste Zeit meines Lebens. Und das Bett am Fenster hat sie auch. Allzu sehr konnte ich mich aber nicht über meine neue Nachbarin aufregen, weil Arielle mir einige Stapel Papiere in die Hand drückte, die ich so schnell wie möglich ausfüllen sollte. „Keine Eile, aber je früher, umso besser.“ Jaja, schon klar. Beim Überfliegen der Unterlagen fiel mir auf, dass ich das alles schon einmal ausgefüllt hatte.

„Das hat seine Richtigkeit. Es ist nicht ganz genau der gleiche Fragebogen, aber ja, viele Fragen überschneiden sich. Das lässt sich leider nicht vermeiden.“

Weil ich so doof gewesen war, einzuwilligen, bei einigen Studien teilzunehmen, musste ich noch zwei weitere Formulare bearbeiten. Ich würde also in den ersten Tagen ordentlich zu tun haben. Vielleicht war das gut. Nein. Nicht nur vielleicht. Das war einfach genial. Dann würde ich keine Zeit haben, auf dumme Gedanken zu kommen.

Arielle führte mich weiter herum, zeigte mir den Aufenthaltsraum, erklärte den Therapieplan. Alles in allem war ich der Schnappatmung nahe. Mein Gehirn konnte gar nicht all die Informationen verarbeiten, die sie mir in so kurzer Zeit mitteilte. Und bevor ich verstand, was genau hier eigentlich vor sich ging und warum ich mich dazu entschlossen hatte, auf dieser Station mit Menschen zusammen zu sein, die wirkliche Probleme hatten, gab es auch schon Mittagessen.

Auf der Station waren drei Arten von Psychos untergebracht: Stresspatienten, Schmerzpatienten und Esspatienten. Wir Essgestörten saßen nicht mit den anderen am Tisch, sondern in einem eigenen Raum, wobei immer jemand vom Pflegepersonal bei den Mahlzeiten dabei war. Das war die „Essbegleitung“, wie es so schön hieß. Die Essbegleitung kontrollierte uns Essgestörte bei Tisch, sah zu, wie wir aßen, ob wir zu langsam oder zu schnell futterten. Zu viel nachwürzten oder zu viel tranken. Das Butterbrot einmal zu oft durchschnitten, als es „normal“ war. Wir mussten die Regeln einhalten. Mitunter war es wichtig, alles zu essen. Am Anfang der Therapie sollte man zumindest von allem, was auf dem Teller war, probieren. Aber das höchste Ziel war es, eine ganze Portion zu essen und dann auch an den Esstisch im Aufenthaltsraum zu den anderen zu können. Klang einfach. War es aber nicht.

Das erste Essen war Nudelauflauf mit Sahnesoße und als Nachtisch gab es Sahneschokopudding. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Nudeln hatte ich jahrelang nicht mehr gegessen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich gemerkt hatte, dass ich etwas ändern musste. Vor drei Wochen hatte ich mich durchgerungen, welche zu kochen. Es waren etwa zehn Stück. Und dazu gab es eine große Schüssel Salat und Schuldgefühle. Sahne oder Fett hatte ich seit Jahren nicht mehr zum Kochen benutzt. An meinen letzten Schokopudding konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber mein Hunger war da, real. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, aber ich aß nur ein paar Gabeln. Es schmeckte widerlich. Das ganze Fett glänzte auf dem Teller und der Gabel. In meinem Mund hinterließ es einen Film auf meinen Zähnen. Nein. Das würde ich nicht essen. Ich legte die Gabel hin und starrte auf die Uhr. Wir mussten 30 Minuten lang sitzenbleiben. Das war wohl eine „normale“ Essenszeit.

„Frau Schweighart, möchten Sie es nicht noch einmal versuchen?“, stichelte Frau Hahn, die heutige Essbegleitung. Sie war gleichzeitig die Leiterin der Station und sah aus, als würde sie wissen, was ich denke, bevor ich mir dessen selbst bewusst war. Ihre Haare waren kurzgeschnitten, pflegeleicht. Um ihre Augen lagen Falten, die zeigten, wie sehr sie sich in den Jahrzehnten ihres Lebens mit den Sorgen anderer beschäftigt hatte.

Tränen stiegen in mir auf. Ich hatte ja Hunger. Großen Hunger. Bei mir war es nicht so wie bei vielen Magersüchtigen, dass das Hungergefühl komplett verschwunden war. Oh nein. Hunger war mein täglicher, stündlicher und minütlicher Begleiter. Sehr gerne hätte ich jetzt einen riesengroßen Berg Salat gegessen. Was hätte ich nicht für eine Salatgurke gegeben! Aber diese pampigen, totgekochten, widerwärtigen Nudeln und die Soße erst – nein. Noch war mein Hunger nicht groß genug, als dass ich die Sahnesoße hätte essen können. Noch war die Krankheit stärker als der Hunger.