"Alles nur,...weil ich dich liebe..."

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Kapitel 5.

Meine Beine sind müde und meine elendigen Rückenschmerzen quälen mich. Es ist kurz vor neun in der Früh. Ich freue mich wahnsinnig auf meine Frühstückspause, die jeden Moment beginnt. Nicht etwa weil ich Hunger habe oder Besuch erwarte, Nein mir ist wahnsinnig schlecht und meine Beine finden langsam keinen Halt mehr. Ich schlafe seit Tagen kaum. Meine Übelkeit macht das Ganze nicht besser. Ich stehe seit um sechs Uhr hier an der Theke des kleinen Kiosks, wo ich jetzt schon knapp ein Jahr arbeite. Tony, der Besitzer ist für ein paar Tage mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter verreist. Meine Kollegin Mia hat sich eine Grippe eingefangen, die jetzt scheinbar auf mich überschlägt. Eigentlich wollten Maik und ich heute Abend etwas essen gehen. In dem schönen Restaurant drei Straßen weiter. Heute ist unser Hochzeitstag. Ich freue mich, dass nach unserer kleinen Auseinandersetzung alles wieder beim Alten war. Wir liebten uns wie am ersten Tag und mein neuer Job lässt diese Stimmung zwischen uns noch besser werden. Ich arbeite gern hier bei Tony. Es ist ein sonniges Plätzchen in der Stadt und das Geschäft läuft prima. Tony, seine Familie und auch Mia sind gute Freunde von uns geworden. Auch Kath und Josie kommen immer noch öfters vorbei. Mein Verhältnis zu ihr ist besser geworden, auch wenn sie mich immer noch böse angiftet, wenn ich Maik einen schnellen Kuss während einer unserer Unterhaltungen gebe. Doch heute ist einfach nicht mein Tag. Ich hoffe insgeheim, dass Maik mir nicht böse ist, wenn ich ihm nachher absage. Ich brauche ein Bett und eine Mütze Schlaf und jetzt definitiv einen Eimer. Mit einem Schlag wird mir mordsübel, ich halte mir die Hand vor den Mund und renne so schnell ich kann in den hinteren Bereich unseres Kiosks, wo sich eine kleine Küche befindet. Das Waschbecken muss für meine Bedürfnisse reichen. Ich ziehe schnellstmöglich meine Hand weg und erbreche mein nicht vorhandenes Frühstück in den Ausguss des Beckens. Galle steigt mir in die Kehle und der saure Geschmack lässt mich weiter würgen. Ich stütze mich mit den Händen am Beckenrand ab um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als mein Magen sich wieder fängt, amte ich erleichtert aus. Das Essen muss ich definitiv sausen lassen. Armer Maik. Ich spüle mir mit etwas Wasser den Mund aus und hole einen Eimer um mit Wasser die Sauerei im Waschbecken zu entfernen. Gegen den grässlichen Gestank kann ich nur das kleine Küchenfenster öffnen. Ich bin froh, dass jetzt gerade kein Kunde in den Laden kam. Mir schwirrt der Kopf und der Magen gleich dazu. Ein paar Stunden muss ich noch aushalten. Um 14 Uhr kann ich den Laden schließen für heute. Ich setze mich auf einen Stuhl, um wieder einigermaßen klar zu werden. Ich hole tief Luft und merke, dass es besser wird. „Zähne zusammen beißen Molly“, sage ich mit geschlossenen Augen eher zu mir selbst als zu irgendjemand anderem. Ich stehe auf und versuche mich die letzten paar Stunden zusammen zu reißen. Es klappt auch. Ich bediene noch einige Kunden, kassiere ab und räume im Lager noch eine Lieferung, die in den letzten Tagen liegen geblieben war, weg. Die Zeit vergeht wie im Flug, dann ist es soweit. Zehn vor zwei. Mein Magen hat sich soweit beruhigt. Doch was sollte ich zu Maik sagen? Noch einmal Zähne zusammen beißen? Für ihn? Ich wollte mich nicht streiten. Er freute sich schon seit Wochen auf den Abend zu Zweit und wenn man vom Teufel spricht, so kommt er gleich herbei geflogen. Die Ladentür springt auf und Maik kommt frisch geduscht und in anständigen Klamotten und mit einem Strauß Rosen in der Hand herein gestürmt. Im Gesicht ein riesiges Grinsen. Mir geht das Herz auf, wenn ich ihn so sehe. Er trägt eine dunkle Jeans, ein rot-kariertes Hemd und darüber einen schwarzes Jackett. Er hat sich richtig schick gemacht. Für mich! Wenn ich ihn so ansehe fühle ich mich schmutzig in meiner dreckigen Jeans, mit der ich eben noch über den Boden im Lager gerobbt bin, und meinem hellblauen Poloshirt, das ich schon seit heute Morgen voll schwitze. Noch dazu bin ich müde und ungepflegt. Maik erhellt mit seinem Lächeln den gesamten Laden. „Kann es losgehen, Baby?“ Er sieht mich mit großen Kulleraugen an. Wie konnte ich ihm so einen Wunsch abschlagen? Ich ringe mit mir. Entschied mich aber dann doch dafür, dass ich nicht absagen werde. Ich versuche ihm ein genauso strahlendes Lächeln entgegenzubringen wie er mir. „Ich bin noch nicht ganz so weit. Ich habe die Kasse eben erst fertig abgerechnet. Lässt du mich noch kurz ins Bad, mich etwas frisch machen und etwas anderes anziehen?“ Er nickt wortlos. Ich seufze still vor mich hin, nehme meine Tasche und verziehe mich in das winzige Bad, das unser Kiosk hergibt. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und lasse den strahlenden Maik alleine vor der Theke stehen. Ich lasse meinen Rücken gegen die Tür fallen und sinke zu Boden. Ich hätte etwas sagen sollen. Ich bin wirklich kaputt und brauche etwas Schlaf, aber Maik sah so happy aus. Ich kann ihm den Abend nicht kaputt machen in dem ich mich faul aufs Sofa zurückziehe. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das ihrem alleinerziehenden Vater endlich sagen will, dass sie jetzt alt genug ist, alleine um die Häuser zu ziehen mit ihren Freunden, schließlich bekommt sie ja schon ihre Periode. Meine Periode… Ich halte inne. Plötzlich wird mir wieder ganz übel. Ich springe auf und ziehe mit schnellen Bewegungen meine Handtasche zu mir herüber und suche verzweifelt mein Handy darin. Als ich es finde, lasse ich es fast fallen, dann endlich drücke ich auf den Knopf an der Seite, der das Display zum Leuchten bringen soll. Es gelingt mir und als ich mit großen Buchstaben das Datum von heute auf dem Display lese, sackt mein Herz irgendwo zwischen meine Fußknöcheln und den Rand meiner Socken. Wir haben den 20. März. Vor knapp einer Woche hätte meine Periode einsetzen müssen. Die Übelkeit breitet sich weiter in mir aus und ehe ich mich versehe, hänge ich mit dem Kopf über der Kloschüssel und erbreche sämtliche Flüssigkeiten, die ich am Tage zu mir genommen habe. Am Rand nehme ich wahr, dass die Tür aufspringt und Maik herein kommt und versucht mir zu helfen. Er hält meine Haare hoch und streicht mir liebevoll über meinen Rücken. Er scheint sich Sorgen zu machen, denn sein Watt-Lächeln ist verschwunden und meins gleich mit.

Ich sitze bei uns in der Wohnung auf dem Sofa im Wohnzimmer. Mein Anflug von Übelkeit ist verschwunden. Maik steht in der Küche und macht mir einen Tee. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich vielleicht schwanger bin. Ich sage es aus einem guten Grund nicht. Noch bleibt mir die Hoffnung, dass es doch nicht so ist. Wie sollte ich ihm das auch erklären? Wir haben seit unserer Auseinandersetzung noch weniger über Kinder gesprochen als zuvor. Ich glaube nicht, dass Maik überhaupt welche haben möchte. Ich hingegen bin mir unschlüssig, was das betrifft. Ich schaue Richtung Küche, um mich zu vergewissern, dass Maik auch ja nichts mitbekommt. Vorsichtig streift meine Hand meinen Bauch. Ich lasse meine Finger ganz langsam darüber streichen und versuche mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen. Ich stelle mir vor, wie schön es doch wäre eine winzige Gestalt in meinem Körper zu tragen. Sie zu hegen, zu pflegen und natürlich zu lieben. Wie er oder auch sie mit ihren kleinen Armen und Beinen hier über den Boden krabbeln könnte und mit einem von uns munter spielt. Der Gedanke lässt mein Herz aufhorchen. Eine mulmige, aber angenehme Wärme umfasst mich und zieht mich noch tiefer in die Vorstellung. Maik, der ins Wohnzimmer kommt, mit einer Tasse Tee und etwas Zucker scheucht mich auf. „Und du hast vorher nicht gemerkt, dass es dir nicht gut ging?“, fragte er mich. Er scheint etwas enttäuscht zu sein. Nach meiner Aktion im Bad konnte ich schlecht leugnen, dass es mir nicht gut ging und musste das Essen kurzerhand doch absagen. „Nein, mir war nur etwas flau im Magen, nichts Schlimmes. Ich dachte, dass es vorüber geht und wir doch essen fahren könnten.“ Ich ziehe einen Schmollmund um ihm zu demonstrieren wie leid es mir tut. Aber eigentlich bin ich ganz froh, jetzt hier auf dem Sofa zu sitzen und Fernsehen zu schauen, auch wenn er vielleicht enttäuscht ist. Er hat sich extra frei genommen. Ich hatte gelogen, um ihn keinen Grund zur Sorge oder zur Verdachtsschöpfung zu geben. Doch mir ist klar, ich muss morgen zum Arzt und klären, was mit mir ist. Zum Glück muss Maik morgen gleich wieder zur Arbeit. Wir kuscheln uns zu zweit auf das kleine rote Sofa und schauen irgendeinen Schwachsinn, der gerade im TV läuft. Ich höre gar nicht so genau hin. Ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders. Weit, weit weg. Irgendwann geben meine Lider nach und ich wehre mich ehrlich gesagt, nicht dagegen und lasse sie zufallen. In der Nacht hält mein Magen die Klappe und lässt mich komplett durch schlafen, was mir verdammt gut tut. Maike hat mich in der Nacht auf dem Sofa liegen gelassen und ist ins Bett gewechselt. Ich träumte von kleinen Babys, die quer durch unsere Wohnung turnten und lächelte dabei.

Grelles Licht peitschte durch die Fensterscheiben im Wohnzimmer und lassen mich hochschrecken. Maik ist weg, zur Arbeit. Er hat mich schlafen lassen und bei Tony angerufen, dass ich heute nicht arbeiten könne. Der Laden blieb geschlossen. Das alles entnehme ich einem kleinen Zettel der auf dem Tisch vor mir liegt. Unten auf dem Zettel ist ein kleines, verkrüppeltes Herz zu erkennen. Maik schien es eilig zu haben. Irgendwie ist mir das alles recht. Ich blicke umher. Ich habe das Gefühl, einen riesigen Klotz mit mir herumzuschleppen. Eine Tonne. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich sollte darüber erst einmal nicht nachdenken, sage ich mir. Ich sollte aufstehen und zum Arzt gehen, der würde mir dann schon sagen, dass ich nicht schwanger bin, sondern nur überarbeitet oder ich leide an einer ganz normalen und harmlosen Grippe und das mit meiner Periode hat bestimmt andere Gründe. Ich seufze, wenn es doch nur so einfach wäre. Schließlich rappele ich mich vom Sofa hoch und gehe ins Schlafzimmer, um mir was Bequemes zum Anziehen zu suchen. Ich krame eine Weile in meinem Schrank bis ich etwas Passendes finde. Es ist eine Leggings und ein Oberteil, das mir bis über den Po geht. Es ist bequem und sieht nicht ganz so kränklich aus. Dann überlege ich, was ich jetzt tun sollte. Gleich zum Frauenarzt oder normal bei meinem Hausarzt anrufen? Ich entscheide mich für den Frauenarzt, weil wenn dieser mir eine einleuchtende Erklärung, wegen meiner ausbleibenden Periode geben könnte, wüsste ich, dass ich es nur mit einer vollkommen normalen Grippe zu tun habe. Ich überlege noch kurz Maik eine Nachricht zu hinterlassen, entscheide mich aber dann dagegen. Ich gehe noch kurz ins Bad um doch noch einmal zu überprüfen ob ich meine Periode tatsächlich nicht bekommen habe. Aber es scheint nicht so. Ich gehe mir noch einmal mit einer Hand voll Wasser ins Gesicht und schaue in den Spiegel. Trotz den Unmengen an Schlaf sehe ich müde aus. Unter meinen Augen zeichnen sich Ringe ab und ich bin ziemlich blass. Ich schminke mich nicht. Nur die Zahnbürste bewege ich ein, zweimal auf und ab, dann spucke ich alles aus um den miesen Geschmack vom Vortag zu beseitigen. Ich ziehe mir noch eine Jacke über und gehe aus dem Haus. Eigentlich ein schöner Tag, wäre da nicht der Gedanke daran, was mir der Arzt gleich sagen könnte. Die Praxis von Dr. Kenneth ist nicht weit von unserer Wohnung entfernt, nur eine Straße. Die Straßen sind zum Glück leer und niemand sieht mich, wie ich die Praxis betrete. Ich mag Ärzte nicht sonderlich. Ich trete an die Empfangstheke und mich lächelt eine kleine, ältere Frau mit kurzen, braunen Haaren an. Sie scheint Mitte der Fünfziger zu sein. Auf der Nase trägt sie eine dick umrandete Brille. Der Rahmen leuchtet in einem knalligen Rot, ebenso ihre geschminkten Lippen. „Was kann ich für Sie tun?“, fragt sie mich höflich und blickt mich aufrichtig mit ihren dunklen Augen an. Trotz ihrer Nettigkeit dreht sich mir der Magen um. „Ich brauche einen dringenden Termin bei Dr. Kenneth. Es ist ein Notfall“, erkläre ich ihr und mache einen gequälten Gesichtsausdruck. Sie scheint schnell zu schalten. Ihre Augen weiten sich für den Moment, dann fängt sie sich wieder und wirbelt umher. Sie wirft Akten über den Haufen, wirbelt mit Zetteln um sich und findet endlich den begehrten Terminkalender. Sie schiebt ihre Brille ein Stück höher auf die Nase und studiert ihn fleißig. Sie rümpft die Nase, als sie sich wieder zu mir dreht: „Ich denke wir können sie in der nächsten halben Stunde dazwischen schieben. Wollen sie solange Platz nehmen?“ Sie deutet auf einen Nebenraum, dessen Türen weit geöffnet sind. Drinnen sitzen ein paar Frauen, die in Zeitungen blättern oder ihre frisch lackierten Fingernägel betrachten. Ich nicke ihr zu und bin erleichtert, dass sie mir so schnell helfen konnte. Doch irgendetwas in meinem Gesicht scheint ihr zu signalisieren, dass ich mich nicht wohl fühle in meiner Haut. „Geht es ihnen gut? Wenn sie etwas benötigen, sagen Sie bitte vorher Bescheid.“ Sie mustert mich neugierig vom Rande ihrer Brille aus. Ich versuche ihr ein Lächeln entgegen zu werfen und sage nur scheu: „Nein, Danke. Alles in Ordnung.“ Sie lächelt und wendet sich dann wieder ihrem Papierkram zu. Ich gehe in das Wartezimmer und suche mir einen Platz in der hintersten Ecke, wo ich ungestört meine Ruhe habe. Ich nehme Platz und schaue umher. Gegenüber von mir befindet sich eine junge Frau, etwas jünger als ich. Sie hat einen ziemlich dicken Bauch. Sie sieht aus als hätte man sie mit der Fahrradpumpe aufgeblasen und vergessen die Luft entweichen zu lassen. Sie liest angeregt eine Zeitung und streichelt sich mit einer Hand den dicken Bauch. In einer anderen Ecke entdecke ich ein noch jüngeres Mädchen mit einer älteren Dame. Das kleine Mädchen scheint nervös. Ich denke, es ist ihr erster Besuch hier bei Dr. Kenneth. Sie zappelt auf ihrem Stuhl hin und her, während ihre Mutter versucht auf sie einzureden. Sie hört ihr gar nicht zu. Sie ist viel zu vertieft in ihre Gedanken. Ich muss schmunzeln. Ich spüre, dass ich genauso nervös bin wie sie und lächle ihr zu um ihr zu versichern: „Hey, du bist nicht die Einzige, der es so geht.“ Als sie mich entdeckt lächelt sie zurück und ihre Wangen laufen in einem schönen tomatenrot an. Ich sitze nun da und warte. Die Zeit scheint still zu stehen. Nach und nach erheben sich die Personen aus dem Raum. Erst die Schwangere, dann die Mutter mit dem Kind. Kurz darauf betreten drei weitere Frauen die Praxis. Alle nichts Besonderes. Ich schaue alle zwei Minuten auf die Uhr und warte darauf, dass mich die nette Dame vom Empfang aufruft. Immer wenn ihre hochhackigen Schuhe auf dem Linoleumboden klackern, werde ich hellhörig und warte darauf, dass sie mich ruft. Doch jedes Mal Fehlanzeige. Wieder verlassen nach und nach die drei Frauen den Raum. Es vergehen ganze 40 Minuten, bis es passiert. Ich höre wieder das laute „Klack, Klack“ auf dem Fußboden und horche auf. Ich höre kurz leises Getuschel, das auf dem Flur zu vernehmen ist. „Die Dame sagt es sei ein Notfall. Ich habe sie dazwischen geschoben. Bitte sehen Sie sich die Frau mal an.“ Ich höre keine Antwort. Stattdessen wieder das „Klack, Klack“ und dann laut und deutlich: „Miss Withen, bitte einmal in Zimmer 1.“ Ich stehe auf, atme noch einmal tief durch und gehe in Richtung Ausgang. Die Dame mit der roten Brille lächelt mich an und deutet auf eine Tür, auf der eine große römische Eins geklebt ist. Ich betrete den Raum. Der Raum ist nicht sonderlich groß. In ihm stehen nur einzelne ärztliche Gebrauchsgegenstände. Noch dazu ein Schreibtisch mit einem Computer und zwei Stühlen. Ich entledige mich meiner Jacke und setze mich. Von der Ärztin keine Spur. Ich fühle mich unwohl und frage mich, ob das kleine Mädchen hier vorhin genauso saß. Die Tür springt auf und Dr. Kenneth tritt ein. Ich kenne sie schon ziemlich lange. Sie ist eine gute Ärztin. In meiner Jugend hatte ich immer etwas Angst vor ihr. Ich mochte keinen der Besuche, die ich ihr abstattete. Heute fühle ich mich genauso. Ich habe denselben widerlichen Kloß im Hals, dieselben schwitzigen Hände und rutsche genauso auf meinem Stuhl hin und her. Dr. Kenneth setzt sich auf den Stuhl gegenüber von mir und mustert mich. Sie ist eine kleine zierliche Person. Ihr hohes Alter sieht man ihr nicht an. Sie scheint gelassen zu sein. Im Gegensatz zu mir. Sie fällt gleich mit der Tür ins Haus: „Miss Withen, sie sagten, es sei ein Notfall. Was kann ich ihrer Meinung nach für sie tun?“ Ich hole tief Luft um ihr die gegebenen Umstände zu erklären. Ich erzähle ihr von meiner angeblichen Grippe, den Schwindelanfällen und schließlich meiner ausbleibenden Periode. Während ich erzähle, tippt sie mit einem Bleistift auf ihrer Schreibtischunterlage herum. Das Geräusch macht mich wahnsinnig und ich werde mit meinen Wörtern immer schneller in der Hoffnung, dass sie damit aufhört. Ich beende meine Erzählung und starre sie mutig an. Sie sagt nichts. Nach einer halben Ewigkeit verstummt ihre fließende Handbewegung mit dem Bleistift und es ist still im Raum. Sie legt ihren Zeigefinger an ihre schmal gezogene Lippe. Als sie anfängt zu reden hört sie sich freundlich an: „Nun, wenn sie das so erzählen, denke ich, dass ich ihnen gratulieren kann. Aber ich kann mich auch täuschen. Wir bräuchten einen Bluttest oder eine Urinprobe, um dies mit Gewissheit festlegen zu können.“ Mein Herz rutscht mir noch tiefer in die Hose. Ich bemühe mich, nicht die Fassung zu verlieren. Als ich antworte ist meine Stimme nicht mehr als ein Flüstern: „Okay, ich mache einen Test.“

 

Ich habe von dem ganzen Drama gestern bei Dr. Kenneth Maik nichts erzählt. Ich sagte ihm, dass ich mich nicht wohlfühle und noch einen Tag länger daheim bleibe, während er arbeiten gehen würde. Gestern in der Praxis habe ich mit einer Assistentin von Dr. Kenneth einen Bluttest gemacht und warte nun voller Erwartungen auf den ersehnten Anruf, um endlich erlöst zu werden und eine Antwort auf meine Frage zu haben. Es ist acht Uhr früh und ich gehe im Wohnzimmer auf und ab. Ich konnte seit um sechs nicht mehr schlafen und habe mich dafür entschieden, mir einen Tee zu machen und etwas Fern zu sehen. Die Ungeduld bleibt. Die Praxis hat seit sieben Minuten geöffnet und seither bleibt mein Telefon stumm. Immer noch breitet sich Hoffnung in mir aus, dass es nur eine normale Grippe sei. Ich schaue auf die Uhr. Halb neun. Wieder gehe ich von einer Seite des Raumes zur anderen. Vielleicht sollte ich mich anziehen und zur Praxis gehen. Ich muss die Ergebnisse sowieso abholen, ob mit oder ohne Anruf. In dem Moment klingelt das Telefon. So schnell hatte ich noch nie den Hörer in der Hand. „Hallo?“, schreie ich schon fast ins Telefon. „Miss Withen ihre Testergebnisse sind da. Sie könnten…“ „Ich bin unterwegs.“ Ich lasse die nette Dame vom Empfang nicht einmal ausreden. Ich knalle den Hörer zurück, springe in meine Schuhe und ziehe mir noch im Gehen die Jacke über. Ich renne schon fast zu der Praxis. Ich reiße die Tür auf und erschrecke so gut wie alle, die sich dort aufhalten. Die Dame am Empfang mustert mich über ihren Brillenrand. Ich schnappe nach Luft und versuche mich trotz meines peinlichen Auftritts locker zu verhalten. Ich lehne mich an die Theke und schaue die Dame an. Ich versuche cool zu bleiben, doch in Wirklichkeit sieht es in mir ganz anders aus. Meine Beine ähneln einem Wackelpudding und mein Herz läuft Marathon um den Block. „Sie haben mich angerufen?“, versuche ich so ganz beiläufig hervor zu pressen. Ohne ein weiteres Wort lächelt sie mich an und drückt mir einen großen, weißen Briefumschlag in die Hand. Vorne drauf prangen mein Name und meine Adresse. Ich schaue sie erwartungsvoll an, nehme den Umschlag entgegen und gehe einen Schritt zur Seite ins Wartezimmer. Ich reiße, ohne den Rest der Welt zu beachten, den Umschlag auf. Ich überfliege die Anschrift und sämtliche unwichtigen Details. Wichtig ist, was ganz unten auf dem letzten Blatt steht und das, was dort steht, reißt mich von den Beinen. Ich schnappe nach Luft und versuche hinter mich zu greifen in der Hoffnung einen Stuhl zu packen zu bekommen. In meinem Augenwinkel sehe ich, dass sich eine fremde Frau zu mir beugt und irgendetwas hektisch ausruft. Die Dame vom Empfang steht plötzlich im Raum. Ich beachte sie gar nicht. Mir ist ganz schwindelig. Ich taumle ein wenig zur Seite, bis sich mein Außenbild verdunkelt. Ich klappe weg, haue mir an irgendetwas den Kopf an und werde bewusstlos. Der Zettel mit der Aufschrift: „Schwangerschaft bestätigt“ rutscht mir aus der Hand. Es ist also wahr. Ich bin schwanger.

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