Die Große Fälschung

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Die Große Fälschung
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Originalausgabe

© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

prverlag@hirnkost.de; www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage September 2020

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout: Yunus Kleff

Lektorat: Klaus Farin

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-80-6

PDF: 978-3-948675-82-0

EPUB: 978-3-948675-81-3

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. „Die große Fälschung“ kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/


Der Autor

P. M., geboren 1947, wurde mit seinem ersten Roman Weltgeist Superstar (1980) im deutschsprachigen Raum bekannt. bolo’bolo, eine Art Glossar für eine andere Welt, erschien 1983 und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem in Russisch, Türkisch und Hebräisch. Seitdem erschien eine ganze Reihe von Romanen, Sachbüchern und Theaterstücken.

P. M. war aktiv in der Zürcher Hausbesetzungsszene und engagiert sich im genossenschaftlichen Wohnungsbau und in der urbanistischen Diskussion. Zuletzt bei Hirnkost erschienen: Das Gesicht des Hasen. Ein terrestrischer Roman (2019) und Warum haben wir eigentlich immer noch Kapitalismus? und andere Fragen (2020).

Die Serie

Die große Fälschung spielt im finstersten Mittelalter rund um das Jahr 1000. Hauptperson ist der fränkische Ritter Rodulf von Gardau, zugleich Geheimagent eines mächtigen Konzerns, der die Erde beherrscht – bis eine Rebellion ausbricht und die Macht des Konzerns schließlich weltweit ins Wanken bringt und Rodulf zu einer Reise rund um die Erde führt. Am Ende könnte aus dem finsteren Mittelalter eine Utopie für das 21. Jahrhundert entstehen, eine Welt ohne Klimakatastrophen, Kriege und Ausbeutung.

Die große Fälschung erscheint in zehn Bänden ab September 2020 in zweimonatigem Rhythmus im Hirnkost Verlag. Sie kann auch abonniert werden unter: h t t p s : / / s h o p . h i r n k o s t . d e /

P.M. ALS RODULF RITTER VON GARDAU
in DIE GROSSE FÄLSCHUNG
Tuckstett

erstes Buch

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.



Regen! November! Eben habe ich meineFaust gegen den grauen Himmel gereckt, und Gerd hat gebrummt: »Romantiker.« Scheißromantik. Scheißmittelalter. Nicht mal das Jahr wissen die hier genau. Es kann 994 sein, 995, 996. Keiner zählt die Jahre. Ist auch egal. Mein Pelz ist längst durchnässt, mein Lederhut vollgesogen. Alles klamm und feucht. Scheißjob! Ritter Ende des zehnten Jahrhunderts – nie wieder. Gideon, mein braver Fuchs, zuckt mit dem linken Ohr. Wenigstens einer, der mich versteht. Hinter uns stapfen unsere zehn Mann über den sumpfigen Weg. Auch ihre Ledercapes und Stiefel sind längst aufgeweicht, ihre Finger blau, ihre Mienen irgendwo zwischen griesgrämig, beleidigt und rebellisch.

Jederzeit können sie ausrasten oder davonlaufen. Dazu das entnervende Quietschen der vier Fuhrwerke. Wann zerbricht wieder ein Rad oder knickt eine Achse ein? Die Karren sind alt, hundertmal geflickt.

»Wir schaffen’s schon«, meint Gerd, der meine Gedanken erraten hat. »Die Ernte war knapp ausreichend, und mit all den Impulsen, die wir gegeben haben, werden sie sich im nächsten Jahr zusammenreißen.«

»Sie verstecken das meiste und schmuggeln es zu den Märkten in Targau oder Tuckstett.«

»Wir müssten wieder einmal ein paar Schmuggler fassen und aufknüpfen«, schlägt Gerd ohne Begeisterung vor.

»Sie stecken alle unter einer Decke und halten zusammen wie Pech und Schwefel.«

»Wir brauchen mehr Straßenpatrouillen, sag ich immer, mehr Männer.«

»Und wie soll ich die ernähren? Wer begibt sich noch in meine Dienste, wenn jeder Schmuggler zehnmal besser lebt?«

Gerd schüttelt sich.

»Dann halt Terror«, knurrt er, »blinder Terror. Das kommt immer billiger.«

»Unsinn. Wenn die Stimmung allzu mies wird, laufen sie mir davon oder sind so demoralisiert, dass überhaupt nichts mehr geht. – Schau dir diesen Weg an.«

Gerd glotzt ratlos vor sich hin. Solange wir noch durchkommen, sieht er das Problem nicht. Ich aber sehe keinen Weg mehr vor mir, sondern nur einen braunen Sumpf. Gerd versteht nichts vom Wegebau. Er kann ganz gut Gerste abwägen, Schweine zählen oder Hühner an den Füßen zusammenbinden, aber Wege sind für ihn einfach unsichtbar vorhanden.

»Das ist kein Weg«, erkläre ich, »das ist eine Schweinerei. Eigentlich müssten wir zurück nach Obermoos und zwanzig Mann zu sieben Tagen Fron einteilen.«

Dazu hat Gerd nun gar keine Lust.

»Wir könnten Männer in Unterberg aufbieten. Die haben ihr eigenes Wegstück, und das war vergleichsweise passabel. Da kann ich sie nicht bestrafen. Überhaupt hat Unterberg auf meiner Liste eine Drei plus.«

»Drei plus«, das bedeutet in meinem System, dass sie gnädig behandelt werden sollen, damit die anderen Dörfer auf sie neidisch werden. Benchmarking heißt das. New Public Management. Neo-Feudalismus – nennt es, wie ihr wollt. Überdies haben fünf meiner Männer Verwandte in Unterberg. Da sind nicht Auspeitschungen, sondern gute Worte und ein paar Brosamen angebracht. Damit sie weiter die Prügel ertragen, die ihnen die Obermooser bei jeder Gelegenheit aus Missgunst verpassen.

Mein System beruht auf einem prekären Gleichgewicht von Milde und Strafe. Am Ende muss die Rechnung aufgehen: Essen für meine Familie, Futter für meine Pferde, Geld oder Material für die Instandhaltung der Burg, der Waffen, der Geräte, Löhne für die Mannschaft, Steuern für die Pfaffen, Prämien für die Schnüffler, Zölle und Abgaben an den Grafen, die Abtei usw. Da in unserer Gegend kaum Münzen im Umlauf sind, können meine Bauern nur in Naturalien bezahlen. Ob die Rechnung aufgeht, hängt von den Preisen ab, die sie in diesen verfluchten Städten machen. Ich muss dringend mit Thiebald und mit Konrad, mit Gottfried und den anderen reden. Diesen Blutsaugern und Spekulanten in den Städten muss das Handwerk gelegt werden. Sind wir Ritter oder Buchhalter? Aber Leonhard, der Markgraf, protegiert sie. Sie haben ihn gekauft.

»Na ja«, brummt Gerd, »vielleicht kann ich bei gutem Wetter einmal in Obermoos vorbeischauen. Im Winter ist genug Zeit für Straßenarbeiten, und meinen Männern wird ’s ohnehin langweilig.«

»Aber keine Schweinereien«, sage ich.

»Klar. Geschäft ist Geschäft.«

Ich habe wieder dieses Gefühl, mich gegen einen übermächtigen Strom zu stemmen. Meine Bauern fallen bei jeder Gelegenheit in die Subsistenzwirtschaft zurück. Sie wollen es sich in ihren Dörfern gemütlich machen. Schweine fressen und tanzen. Sie lachen mich aus. Verstellen ihre Gesichter, ziehen sich alte Lumpen an, hungern tagelang, bevor ich komme. Sie ziehen ihre Show ,Das Bauernelend im frühen Mittelalter’ ab. Hollywood B-Film. Aber danach geht’s los. Nachts. Sie haben alles. Schnäpse, Braten, Fettsuppen … Und wir hocken frierend und halb verhungert in der engen Burg. Birgit nervt mich mit ihren Romanen und Schwärmereien. Die Kinder möchten am liebsten ins Dorf hinunter und mit den Bauernlümmeln spielen. Die brächten sie glatt um.

»Unterberg«, liest Gerd vor, als zwei Dutzend geduckte Strohdächer hinter einem abgeernteten Kohlacker auftauchen. »Noch drei Schweine, zehn Gänse, zehn Maß Roggen, sechs Maß Hafer, ein Dutzend Hühner. Den Rest haben wir schon.«

»Gut. Du verteilst etwas Zucker an die Leute. Der Schulze kriegt eine Gans und zwei Ellen von dem blauen Stoff. Ich werde eine Lobrede halten. Und dann nichts wie nach Hause.«

»Alles klar. Die weiche Tour.«

 

Auf dem matschigen Dorfplatz steht schon Albert, der fette Dorfschulze, ein Freier, den man ordentlich behandeln muss. Er trägt Stiefel, einen mottenzerfressenen Hundefellüberwurf und einen speckigen Lederhut. Er streckt uns ein Roggenbrot entgegen. Seine aufgedunsene Tochter steht mit einem Krug und Tassen da. Es wird wieder dieses grässliche Dünnbier sein. Jetzt immer schön huldvoll lächeln.

Ich steige vom Pferd, fasse der Tochter unters Doppelkinn, esse ein Stück Brot, trinke schales Bier. Dann die übliche Routine. Die Dörfler, gut vierzig Seelen, stehen mit nassem Haar knietief im Dreck und schauen mit ausgemergelten Gesichtern (wahrscheinlich haben sie mit Kohle nachgeholfen) zu, wie Schweine weggetrieben werden und Kleinvieh abgeholt wird. Maß um Maß wird das Getreide verladen. Gänse und Hühner beißen, picken und flattern und machen ein entnervendes Theater. Meine Männer stehen herum, trinken lustlos das Schwachbier, kauen am zähen Brot herum. Alles stimmt. Ich lobe den Schulzen, lade ihn zu Martini auf die Burg ein, gebe die Produktionsziele fürs nächste Jahr bekannt, worauf das eingeübte Jammern ertönt. Ein paar strenge Worte. Ich erwähne die Mühle, die ich bauen werde, rede von den besseren Zeiten, die wir dank gemeinsamer Anstrengung erreichen können. Dann verteile ich zusammen mit Gerd die Kandiszuckerbrocken, gebe dem Schulzen sein Geschenk, und weg sind wir.

»Die werden übermütig«, sagt Gerd, als wir in den Waldhohlweg einbiegen. »Zwei magere Schweine, lausiger Hafer.«

»Wir stufen sie runter auf Drei«, schlage ich vor.

»Drei minus – wegen dem faden Bier. Ist doch eine Frechheit. Wenn man bedenkt, was sie heute Nacht saufen werden.«

Wir grinsen uns tapfer an. Wie oft in solchen Momenten tappt meine rechte Hand vergeblich nach einem Päckchen Zigaretten. Immerhin, denke ich, habe ich noch diese gute Flasche Cognac, von der wir uns heute Abend ein Gläschen genehmigen werden. Oder zwei. Dieser Job macht mich zum Alkoholiker.

»Nur Saufen hilft bei diesem Wetter«, meint auch Gerd, der wieder einmal meine Gedanken erraten hat. Nicht einmal die habe ich für mich. Es ist ja auch alles so offensichtlich, so banal und beschissen. Pro Tag schaffen wir drei oder vier Weiler. Insgesamt gehören mir neun, dazu noch ein paar freie Einzelhöfe (Steuern auf Ochsengespanne), einige Pachthöfe und mein eigener Hof. Theoretisch müssten die Bauern mir ihre Abgaben bringen – aber sie tun’s einfach nicht. Zweimal pro Jahr muss ich mindestens vorbeischauen, dazwischen minderes Gericht halten (ist das langweilig, sag ich euch!), bei Prozessionen mitmarschieren, bei Heiraten dabei sein (ius primae noctis!), Streitigkeiten schlichten, neue Schulzen ernennen, Männer für mich und den Grafen rekrutieren. Klingt alles einfach. Aber es gibt laufend Komplikationen. Neuerdings verschwinden immer mehr junge Männer. Die Dörfer überaltern. Ich darf für die Kinder meiner Pächter und Sklaven sorgen – doch kaum sind daraus starke junge Männer geworden, gehen sie weg. In die Städte, hinaus in die Welt. Wer weiß, wohin. Was kann ich ihnen schon bieten? Der islamisch-byzantinisch manipulierte Weltmarkt blutet uns aus. Sie haben die Goldreserven, bestimmen die Terms of Trade.

»Wir kriegen Besuch«, unterbricht Gerd mein Grübeln.

Es ist ein Mann mit einem Esel. Er hat einen kurz gestutzten schwarzen Bart und muntere stahlblaue Augen. Er ist etwa gleich alt wie ich. Und schon beneide ich ihn, weil er ungebunden durch die Gegend ziehen kann. Sein Esel ist mit allerlei Kisten bepackt. Beutel, Dosen, Körbe, eine Mandoline in Wachstuch, Flaschen und Töpfe sind mit Riemen und Bändern aufgeschnallt. Der Mann ist solide, aber mit einer Spur südländischer Eleganz gekleidet.

»Wer bist du?«, fahre ich ihn im eingeübten, barschen Ton an.

»Reinhart, mein Herr.«

»Was tust du in meinem Land? Meine Leute vergiften?«

»Oh nein, mein Herr. Ich bringe nur Gutes. Hier ein Empfehlungsschreiben des Grafen Albrecht von Kallenburg.«

Er kramt ein Stück Pergament hervor. Ich schaue es mir an.

»Eine gute Fälschung«, sage ich aufs Geratewohl. »Kannst du überhaupt lesen?«

»Ein bisschen, mit Verlaub. Es macht mir Mühe.«

Ich gebe den Wisch Gerd.

»Wird beschlagnahmt. Als Beweisstück. Was hast du in deinen Kisten?«

»Kräuter, Essenzen, Salben, Bücher, Spiele, Karten, Nützliches für den Haushalt, Bänder, Schnallen …«

»Kannst du musizieren?«

»Gewiss, mein Herr. Ich habe eine italienische Mandoline und singe ganz leidlich. Dem Herzog …«

»Keine Beleidigungen. Du bist verhaftet. Wir nehmen ihn mit, Gerd.«

Gerd nickt. Der Abend scheint gerettet. Etwas Musik und ein Gläschen Cognac (oder zwei) am Feuer werden uns für dieses barbarische Wetter und Zeitalter entschädigen. Der Händler und Gaukler scheint das Spiel zu kennen. Man muss dem kleinen Landadel diese albernen Rituale der Selbstachtung zugestehen. Er grinst ohne Angst, bleibt aber höflich.

»Vielen Dank, mein Herr. Ihr werdet es nicht bereuen.«

Der Kerl gefällt mir. Wir werden noch gute Freunde werden. Aber Strenge zahlt sich immer aus – davon muss ich bei meinem Job ausgehen.

Wir ziehen weiter. Es wird schon dunkel. Die Männer singen eines ihrer grässlichen Lieder, so monoton und glanzlos wie die Wolken, die Äcker, die Dörfer, die ganze Scheiße hier. Manchmal denke ich, dass ich einfach zu viel weiß. Man sollte das Ganze nicht durchschauen können, sondern bloß der Freiherr von Gardau sein, so wie in den kitschigen Ritterfilmen, ,Ivanhoe‘ usw. Ein kleiner, aber stolzer, hochgeachteter Landadeliger kurz vor der Zeitenwende. Tourniere, Falken, Minnesang, frohe Jagd und Tafelrunden in der Burg. Mist. Dies ist die Realität. »Hineingehaltensein ins Nichts.« Dumpfe Routine, Kampf um jedes Maß Korn, jedes verdammte Schwein, jeden arbeitsfähigen Mann und jede tüchtige Frau. Rodulf von Gardau ist ein Job, den ich niemandem empfehlen kann. (Wie hieß es damals noch: »verantwortungsvolle Aufgabe im Außendienst.«)

Auf einer Anhöhe knapp unter den Wolken hockt meine Burg. Im Wesentlichen ist es ein zu niedrig geratener Wohnturm (Steinbauten sind aufwendig), eine hohe Palisade und dahinter ein Anbau, der Ställe, Magazine, Unterkünfte enthält. Schon seit langem steht die Aufstockung des Turms auf dem Programm. Ein Wohnanbau auf der Rückseite ist seit einem Jahr wegen Geldmangels in halbfertigem Zustand. Überhaupt ist der Hügel zu klein, und mir schwebt seit langem ein Wasserschloss unten in einer Bachschleife vor, so wie Konrad eines hat. Es genügte, den Bach zu stauen … Aber woher Material, Geld, Zeit, Männer nehmen? Und warum überhaupt noch Burgen bauen in dieser unwirtlichen Gegend? Militärisch gesehen sind sie eh zu klein, um nützlich zu sein.

Unser müder Zug kriecht den Burgweg hinan. Ich habe Birgit durch das Schlafzimmerfensterchen spähen sehen. Sie winkt nicht einmal. Wahrscheinlich hat sie sich den ganzen Tag gelangweilt. Und gefroren.

Dolf öffnet das Tor, brummt etwas wie »n’ Abend, Chef!«, hinkt dann neben mein Pferd, hilft mir beim Absteigen und führt es in den Stall. Ich kann kaum gerade stehen, bin völlig durchnässt und steif. Urs, Manfred, Dorwald und die kleine Fafa kommen mir entgegengerannt. Sicher hat Birgit sie unnötigerweise in den Dreck hinausgeschickt, um ihre Effizienz als Mutter und Hausfrau zu beweisen. Nicht nur ich treibe Korn und Schweine auf, auch sie leistet ihren Beitrag – so interpretiere ich die Botschaft. Doch Fafa ist unwiderstehlich. Ich hebe den kleinen Fratz empor und drücke ihr einen bartumrahmten Kuss auf die rote Wange. Sie ist kaum zwei.

»Kaka«, sagt sie, was für Kandiszucker, Honigbrötchen, Küsse, Kaninchenfelle und alles Positive auf dieser Welt steht.

Mit Fafa auf dem Arm gehe ich zum Turm. Gerd kümmert sich um den Rest. Meine drei Söhne inspizieren unsere Beute und den Händler Reinhart.

Es duftet nach Suppe. Die Suppe ist ein sich täglich verwandelndes Wesen, das immer wieder aufgekocht und mit neuen Zutaten versehen wird. Es gibt sie seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, immer im gleichen Topf. Sie ist somit unsterblich, an die patriarchale Vererbungslinie gekoppelt. Sie schmeckt immer gleich und doch nicht, hat ihre Launen, bewahrt aber ihren Grundcharakter. Ich habe festgestellt, dass jede Burg nach ihrer Suppe riecht. Ich kann meine Kollegen von den Nachbarburgen blind am Suppengeruch erkennen, der sich in ihren Kleidern und Haaren einnistet. Er ist das olfaktorische Familienwappen, das Geruchssiegel des ländlichen Kleinadels.

Wie diejenigen von Pawlows Hund wissen auch meine Speicheldrüsen, dass ich zuhause bin, und beginnen aktiv zu werden. Ich bin die Suppe.

Fafa insistiert auf Kaka, und ich finde in meiner Tasche noch ein Bröcklein Kandiszucker, das sie gierig in den Mund steckt. Sie strahlt mich zufrieden an. So einfach kann das sein. Wo bleibt mein Kaka?

Der Burgturm ist im Wesentlichen eine von Menschenhand erbaute Höhle. Da Glas – obwohl seit der Antike bekannt – von der Geschichtskontrollstelle noch nicht erlaubt wurde, sind die Fenster nur schmale Schlitze, mit geöltem Pergament notdürftig verschlossen. Selbst bei Tag sieht man praktisch nichts – was allerdings in dieser trüben Landschaft kein großer Schaden ist. Die Mauern sind innen alle rußgeschwärzt. Wie ein Blinder – aber auch mit der Sicherheit eines Blinden – gehe ich die Treppe hinauf und finde im Dämmerlicht des Feuers und einer Öllampe mein Weib, Birgit. Ich muss sagen, sie pflegt sich – nur sehe ich das jetzt nicht. Sie lässt sich nicht unterkriegen, obwohl ihre Augen schon Tränensäcke haben, vom Rauch, sagt sie.

»Wer ist der Mann?«, will sie zuerst wissen.

»Reinhart, ein Händler und Musikant. Er wird heute aufspielen. Gerd und Hilda kommen wahrscheinlich auch rauf. Wie geht’s?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Wie war’s?«, fragt sie.

»Am liebsten würd ich das nasse Zeug ausziehen, mich ins Bett werfen und losheulen. Die Kerls haben mich ganz schön geschafft.«

Sie hilft mir beim Ausziehen, streicht mir beiläufig über den Nacken.

»Haben wir genug für den Winter?«

»Es wird schon reichen. Wenn es in Kaldau, Vorderhag, Essingen, Hirschach und Felseneck einigermaßen klappt.«

Ich wuchte die Stiefel von meinen klammen Füßen und knalle sie in die Ecke. Birgit bringt mir trockene Socken, ein frisches Leinenhemd, einen Wollpullover. Sie strickt ganz tolle Pullover mit Tiermustern, natürlich gefärbt und aus selbsterzeugter Schafwolle. Auf meinem Lieblingspullover bekämpfen sich zwei Hirsche mit ineinander verkeilten Geweihen. Birgit hat dieses norwegische Motiv wohl von ihren weitläufigen wikingischen Verwandten übernommen. Ich kann mich darin aber nicht sehen lassen – obwohl eigentlich kein technologischer Vorgriff dahintersteckt. Das Muster ist zwar Ethno pur, aber die Dörfler stricken ganz einfach nicht.

»Ohne diesen Pullover wäre ich total verloren«, sage ich, irgendwie versöhnt.

Birgit streicht mir übers Haar.

»Und wie steht’s mit dem Anbau?«

Sie fragt mich immer nach dem halbfertigen Anbau, denn dort will sie anständige, trockene Zimmer einbauen. Wir beide haben schon Gelenkschmerzen von der ewig feuchten Burg. Der Anbau wird oben ganz aus Holz sein, an die Palisade angelehnt, mit einer Loggia und Aussicht übers Bachtobel. Militärisch nicht hundertprozentig zu verantworten. Aber wenn sie kommen, lassen wir uns sowieso nicht in der Burg erwischen, sondern fliehen wie alle anderen in die Wälder.

»Wenn alle Abgaben beieinander sind, geht’s mit dem Anbau weiter.«

»Das hör ich nun schon seit einem Jahr.«

»Ich krieg anständige Zimmerleute nur gegen Lohn. Und Geld nur, wenn ich etwas in der Stadt verkaufe. Die Preise sind wieder einmal miserabel – fünf Schillinge für ein Maß Gerste.«

»Die Bauern bauen ihre Häuser selbst. Auch mein Vater …«

»Aber nur ihre Häuser, nur auf ihre Art, mit diesen gestampften Lehmziegeln. Wir brauchen aber eine solide Holzkonstruktion nach Maß.«

»Wäre für dich doch kein Problem – bei deiner handwerklichen Begabung.«

 

»Du bist wohl verrückt? Wenn das auskommt, ist mein ganzes Ansehen, meine Ritterehre, dahin. Baron und Zimmermann – das gäbe ein Gelächter bis Targau.«

In Targau sitzt Lothar, mein Chef, mein unmittelbarer ‚Lehnsherr‘, wie es in den schönen Büchern über den sogenannten Feudalismus heißt. Abnehmer meiner besten geräucherten Schinken. Dafür darf ich mit ihm auf die Jagd – viel Ehr, wenig Fleisch. Ein paar Hasenfelle vielleicht für die Kinder. Zum Glück, aber das darf niemand erfahren, kenne ich ein paar Wildschweine rein privat, denen ich im November auf den Pelz rücken werde.

Ich sitze im ledernen Faltsessel vor dem Feuer und lasse mich trocknen. Ich versuche, mich zu entspannen und die Bilder eines frustrierenden Tages in meinem Kopf abklingen zu lassen. Birgit sieht in ihrem Leinengewand, mit Zöpfen und Bändern, ganz wie die nette, aufgeräumte Freifrau aus. Sie langweilt sich schrecklich. Und das, obwohl es noch kein Fernsehen gibt.

»Wir müssen Rupert hinauswerfen«, sagt sie. »Er erzählt den Kindern dummes Zeug. Macht ihnen Angst vor dem Weltuntergang.«

Wir haben – offiziell – noch einige Jahre bis zum Jahr Null. Rupert, der Pfaffe von Gardau, kommt jeden Nachmittag in die Burg, um Urs und Manfred zu unterrichten. Das gehört sich so. Aber der Kerl ist strohdumm und kann selber kaum lesen und schreiben. Birgit hilft nach, aber diskret, damit nichts durchsickert. Beide Knaben lesen und schreiben perfekt und können schon einiges Latein. Rupert verkehrt mit irgendwelchen Frömmlern aus Tuckstett, wo der Pfarrer sie deckt. Eine millenaristische Strömung – ganz grässlich selbstquälerisch. Vorläufer der Geißler. Pervertierte Bogomilen. Rupert hat eine gute Nase für Ungläubige und hat mich längst gerochen, obwohl ich keine Fehler mache, vielleicht zu wenige.

»Ich werde mit Leonhard reden. Er hat Einfluss auf den Bischof.«

Immer den Dienstweg benutzen. Die Kirchenleute haben es nicht gern, wenn man eigenmächtig eingreift. Ihr Rechtsdienst ist gut ausgebaut.

»Die Kinder sind schon ganz verängstigt.«

»Fahr mit ihnen zu Konrad – das wird sie aufheitern.«

»Bei diesem Wetter?«

Sie hat Recht. Kein lustiger Ausflug.

»Irgendwann muss der Regen aufhören.«

»Rupert erzählt schon herum, dass der Regen der Beginn einer neuen Sintflut sei. Die Kinder wagen kaum noch, zum Fenster hinauszuschauen. Jede Pfütze macht ihnen Angst. Sie basteln kleine Archen aus Föhrenrinde und lassen sie mit Käfern als Passagieren schwimmen.«

Ich muss lachen.

»Meine Söhne bauen Archen! Keine schlechte Idee. Bauen wir eine Arche statt den Anbau.«

»Es geht das Gerücht, dass sie im Grautalwald bei Fordau eine Arche bauen.«

»Die einen geißeln sich, die anderen bauen Archen. Es fehlt nicht an Spinnern. Vielleicht fällt uns auch noch etwas ein. Ein Helikopter mit Pedalantrieb.«

Wir hören die Kinder die Treppe hinaufpoltern. Manfred ruft mit lauter Stimme:

»Reinhart hat Spielzeug, Pferde, Kreisel, Elfentanten, Ritzerosse …«

»Elefanten, Rhinozerosse«, verbessere ich automatisch. Jetzt nur keine Volksetymologien aufkommen lassen.

»Bekomme ich einen Elefanten?«, fragt Manfred korrekt.

»Wir werden sehen«, brumme ich väterlich-abweisend.

»Dann kann ich ihn auf meiner Arche schwimmen lassen.«

Also doch: Endzeitspiele auf meiner Burg. Der kleinere Urs hat auch sein Anliegen:

»Reinhart hat Wagen mit Rädern. Und sie fahren, und man kann Pferde vorspannen. Und Kisten hineintun. Und abladen. Und aufladen. Und er hat Bären aus Fell, die sich bewegen.«

»Du hast doch schon Wagen«, wende ich ein.

»Nicht so schöne«, kommt es wie aus dem Rohr geschossen zurück.

Nichts ist so schön wie das, was fremde Händler bringen. Alles Schöne kommt von außen. Birgit ist auch Teil dieser Verschwörung. Nur ich stehe für das lokal Produzierte ein. Ein aussichtsloser Kampf.

»Wir werden sehen.«

Im Kopf zähle ich meine Schillinge.

»Vater, ich kann jetzt alle Verben der dritten Konjugation«, prahlt Manfred, wohl um seine Elefantenerwerbschancen zu erhöhen. Ich lasse ihn ‚maldicere’ aufsagen. Er kann’s. Ein Talent, mit neun Jahren.

Da sitzen wir, eine glückliche Familie im Jahr 994 (oder 996?). Fafa auf meinem Arm versucht’s noch einmal mit »Kaka«, Manfred sagt perfekt »dixi«, Urs zerrt an meinem Pullover, Birgit starrt ins Feuer. Auch Dorwald ist nun da mit seinem Holzschwert. Gestrandet am Rand der Zeit, im verrußten Loch, stinkend, haben wir uns im ‚Rittersaal’ (dass ich nicht lache!) gruppiert. Krimhild, unsere alte Magd, trägt den Suppentopf herein. Sie verteilt die hölzernen Schöpfkellen und gibt jedem von uns eine Ecke Brot. Die gleiche Suppe gibt’s in diesem Augenblick auch in den Quartieren über dem Stall.

Ich spreche ein Gebet, dann tauche ich als Erster die Kelle in die Suppe. Als neueste Zutat stelle ich etwas faseriges Hühnerfleisch fest. Ich füttere Fafa, die aber empört »Schuschu« sagt, der Oberbegriff für alles Unangenehme, Negative. Der Kandiszucker hat ihren Gaumen verdorben. Nun ja, die Kalorien hat sie. Ich freue mich nie auf die Suppe. Wenn ich sie esse, mag ich sie aber immer. Irgendwie bedeutet sie für mich Wirklichkeit, Vielfalt in der Einfalt, Heimat und Halt. Eines Tages werde ich sie vermissen.

»Weißt du noch, Birgit«, werde ich sagen, »die Suppenzeit? In der alten Burg? Als die Kinder noch klein waren?«

Ich bin so sentimental. Eine Berufskrankheit kleiner Unterdrücker.

Irgendwo tropft’s. Das Dach ist nicht dicht. Der Wind zieht durch Ritzen und Spalten. Die Kinder verlangen noch einmal Wagen, Elefanten, Murmeln und Zucker. Ich vertröste sie auf morgen. Birgit bringt sie hinauf ins Bett.

Der Burgturm hat drei Geschosse: die Küche im Parterre, wo auch die Mägde wohnen, die Stube dazwischen und das zugige Schlafzimmer oben, wo wir alle zusammen unter den Felldecken schlafen. Klar, dass die Kinder das toll finden. Nur Birgit und ich nicht immer. Wenn es ganz kalt wird, ziehen wir hinunter in die Stube und legen uns vor den Kamin. Das finden die Kinder noch lustiger. Doch jetzt ist es erst Anfang November. Warten wir bis Februar – da kann es bis 20 Grad unter null werden. Zum Glück weiß niemand, was das ist, denn sowohl Celsius als auch die Zahl Null sind hier unbekannt, geschweige denn etwas darunter. Aber gefroren wird trotzdem.

Ein Duft streicht an mir vorbei. Parfüm! Lavendel? Birgit hat sich etwas hinter die Ohren getupft!

»Du riechst gut.«

»Nur für dich. Aber du stinkst.«

»Männer müssen stinken«, sage ich.

»Du hast eine schlechte Meinung über dein Geschlecht«, erwidert sie.

»Nein. Das gehört zur Abschreckung. Männer müssen schrecklich sein.«

»Oh, ihr Armen. Wann hört ihr endlich auf? Wollt ihr noch jahrhundertelang so weitermachen? Genügen tausend Jahre nicht? Wann emanzipiert ihr euch endlich?«

»Red nicht so generell. Ich bin nicht für jedes Arschloch zuständig.«

»Wo ist der Unterschied?«

»Du wirst schon sehen. Konrad, Thiebald, Gottfried und ich, wir werden etwas auf die Beine stellen.«

»Ich meine nicht die Politik.«

»Politik oder auswandern. Willst du ins Morgenland?«

»Warum nicht? Dort ist es warm. Und hell. Es gibt Feigen, Trauben, Datteln, Orangen, Oliven, Rosen …«

»Oder nach Amerika?«

Ich provoziere immer gern. Amerika steht überhaupt nicht zur Diskussion. Da können erst ein paar Wikinger hin.

»Du wagst nichts. Du hockst hier in Mitteleuropa herum, bis wir versauern.«

Ich höre Gerd und Hilda kommen. Zur kleinen Burgparty. Birgit zündet noch zwei Lichter an, damit unsere Wohnhöhle nicht allzu finster wirkt. Gertrud, die andere Magd, eine junge Frau aus Bärach, bringt eine Schale mit gemischten Nüssen. Ich hole noch zwei Faltstühle und stelle sie hin. Wir tauschen mit Hilda und Gerd Wangenküsse aus. Hilda hat ein Körbchen voll Äpfel mitgebracht. Sie ist eine kleine, schwarzhaarige Frau, immer entschlossen und energisch, mit spitzem Kinn und glänzenden Knopfaugen. Gertrud fragt:

»Soll ich den Spielmann holen, Herr?«

»Ja, er soll sofort kommen.«

Sie saust ab – den Knicks gibt’s bei uns nicht. Gerd streckt seine verdreckten Stiefel dem Feuer entgegen. Er ist nicht größer als seine Frau, aber breit gebaut, mit eckigem Kopf, kantigem Kinn, buschigen Brauen über graugrünen Augen, angegrautem kurzem Haar. Manchmal erinnert er mich an einen missgelaunten Gorilla. Mit seiner starken Pranke zerquetscht er eine Walnuss und isst sie so unzivilisiert wie möglich. Schalenteile spuckt er wieder aus.

»Du übertreibst«, sag ich zu ihm.

»Wir sollen nicht zu fein wirken«, meint er grinsend.

Ich hole den schlanken Krug, in dem sich unser erstklassiger Cognac befindet (offiziell ein simpler Weinbrand). Ich verteile die fingerhutgroßen Tonnäpfchen, die japanischen Sake-Tässchen gleichen, und schenke ein.

»Ah!«, stöhnt Gerd, der es in einem Zug geleert hat.

Die Frauen und ich nippen zierlicher.

»Sei nicht so barbarisch«, tadelt Hilda ihren Mann.

Dabei lächelt sie ihn liebevoll an. Ich gieße ihm nach.

Reinhart ist in den Raum geschlichen, die Mandoline unter dem rechten Arm. Er hat sich umgezogen und trägt jetzt ein goldbesticktes grünes Samtwams, weiche braune Saffianstiefel, rote Beinkleider, einen breiten, glasperlenbestickten Gürtel und ein grünrotes Béret mit einer wippenden Fasanenfeder. Er sieht wirklich sehr elegant aus. Er stellt sich zwanglos neben dem Cheminee in Pose. Ohne Einleitung schlägt er ein paar Akkorde an. Das Instrument ist schon gestimmt. Die Lichter flackern, das Feuer knistert, eine fremdländische Melodie erklingt, und ich glaube, in einer Gondel durch Venedig zu gleiten. Wir sind alle still – sogar Gerd, der seinen weichen Kern nicht mehr verleugnen will. Seine Runzeln stehen ihm gut. Ich selbst habe dunkles, fast schwarzes Haar und trage einen gestutzten Bart, der spitz ausläuft, und einen gezwirbelten Schnurrbart. Er wirkt fast so elegant wie der von Dali oder Napoleon dem Dritten. Verspielt-männlich, aber nicht patriarchalisch. So bin ich eben.

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