Italien mit allen Sinnen

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Italien mit allen Sinnen
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Otto W. Bringer

Italien mit allen Sinnen …

Imprint

Italien mit allen Sinnen

Otto W. Bringer

Alle Rechte bei Schillinger Verlag Freiburg

1. Auflage 2013 • ISBN 978-3-89155-379-4

Titelgestaltung und Fotos vom Autor

Gesamtherstellung: Schillinger Verlag Freiburg

E-Book Konvertierung:

sabine abels www.e-book-erstellung.de

Inhalt

PADUA – wer glaubt wird selig?

VICENZA – Architektur mit Langzeitwirkung

LUCCA – Männerbeine und Sankt Michael

BONAVIGO – am liebsten Liliputfeigen

VENEDIG – Moostropfen pflücken unter Brücken

TORCELLO – der ‚Jüngste Tag’ für Angsthasen

AMALFI – Zitronen sind nicht sauer

Der Träumer von TRISSINO

NEAPEL – o mia bella Napoli

AMALFI – eine Nacht im Sarazenenturm

VENEDIG – Theater ausgebrannt, was nun?

LAGO BOLSENA – fremder Opa lädt uns ein

POSITANO – oder Portofino?

ARQUÀ PETRARCA – der verliebte Diakon

MONTEGROTTO – eine heiße Viertelstunde

RAVELLO – Klingsors Garten

SAN VIGILIO – Princess Diana am Gardasee

RAVENNA – Wiedersehen mit der Kaiserin

SIENA – siebzehn Pferde und ein gestreiftes Tier

BARI – achteckig und kreiselrund

FLORENZ – Baronessa in Villa, Bistecca in Olio

ASOLO – von Pfirsischbäumen ins Grappaglas

TIVOLI – wandern zwischen zwei Welten

PISA – schief schaufelt Geld in die Kasse

AREZZO – San Daniele kennengelernt

CHIOGGIA – es muschelt bis Freiburg

MANTUA – Mathilde hielt es mit dem Papst

VIETRI SUL MARE – Kachelhausbilder

MONTAGNANA – Labyrint und schlaue Tante

VILLA CAPODILISTA – optische Täuschung?

ATRANI – Muschelplätzchen

CASTELNUOVO – der Bauer und sein Sohn

HEIMWÄRTS – Bootsfahrt, Stau, verschneiter Pass

PALERMO – unentschieden

PADUA – wer glaubt wird selig?

Was Franz für Assisi, ist Anton für Padua. Zwölf Minuten mit der Bahn von Montegrotto. Und schon sind wir da, wo die Wallfahrer einfallen. Mit Bahn, Bussen und PKWs. Zu fast allen Jahreszeiten. Es scheint viel verloren zu gehen in der Welt. Geldbörsen, Autoschlüssel, Mützen, Schirme, Kinder und Ehepartner. Der heilige Franziskus soll es wiederbringen.

Padua ist eine der ältesten Städte Italiens. Uns ist diese schöne Stadt viele Besuche wert. In eleganten Geschäften entzückt uns ‚alta Moda’, neue italienische Designermode. Nicht nur eine Bluse stammt aus Padua. Rose stehen sie wie maßgeschneidert. Danach über den Prato della Valle zu schlendern, ist ein Genuss für die Augen. In weitem Bogen umschließen die Häuser eine grüne Mitte. Mit weißen Skulpturen auf runden Podesten. Marmorbrücken über ein fließendes Gewässer, in dem der Himmel sein Blau spiegelt. Mit vielfältig schönen Fassaden und immergrünen Bäumen um die Wette.

Sehe ich dann im Zentrum dieser Schönheit meine Rose, überwältigt mich ein Gefühl, für das nur das alte Wort glückselig zutrifft. Ja, immer dann, wenn sich Schönes mit Schönem vereint. Rose im marmorweißen Mantel. Schlank wie eine junge Zypresse. Im rotgoldenen Haar leuchtet die Sonne. Diese stolze Frau ist meine Frau. Nicht zu fassen. Ach Rose. Gehen wir weiter.


Richtig rustikal dagegen die bedeutenden Kirchen. Sehen aus, als wären sie gerade aus dem Backofen gekommen. Es gibt drei solch gewaltige Baukörper, die Kathedrale mit Baptisterium, Basilika Sant Antonius, Basilika Santa Justina. Sie lassen nur wenig Weiß zu. An Gesimsen und Umrandungen. Sind in der Tat mit Millionen Steinen aus gebackener Tonerde errichtet. Sparsam mit Marmorsahne verziert. Von unterschiedlich großen Kuppeln grün überwölbt. Größtes und grandiosestes Beispiel die Basilika San Antonio. Wallfahrtsort für Antoniusgläubige aus aller Welt.

Wir sehen Menschenmassen, die drängen. Wohin? An die Souvenirbuden. Schon mal gucken, was es alles gibt. Dann aber in die Basilika. An seinen Altar. Der besonders aufwendig geschmückt ist. Damit ihn niemand verwechselt mit einem anderen Heiligen.

Es gibt viele in dieser hohen Halle. Aber nur einen Mönch. Erkennbar an der Tonsur, Franziskus. „Schatz, hier ist Santa Rosa“, ruft Rose lauter als hier angebracht ist. Verständlich. Auch Santa Rosa von Lima hat einen eigenen Altar. Rose entdeckte ihn vor mir. So, als zögen Rosen Rose an. Ab da ist und bleibt die Heilige Namenspatronin meiner ungläubigen Frau.

Gedränge wie auf einem Flohmarkt. Jeder will eine Kerze anzünden. Noch so viele Kerzen können den Kampf mit der Dunkelheit des Raums nicht gewinnen. Bunte Mäntel haben kaum Chancen gegen all die dunklen um sie herum. Es ist, als ginge es zur Beerdigung. Dunkel ist heilig. Ich empfinde genau andersherum. Sollten mit hellen Kleidern zeigen, dass sie sich freuen, einen Antonius zu haben. Andere Christen haben keinen Wiederbringer. Vielleicht meinen sie auch, der Umweg über einen Heiligen ist Gotteslästerung.

Sogar ich betete dann und wann zum Heiligen Anton, damit er mir hilft, aus dem Blick Geratenes wiederzufinden. Es fand sich. Meistens. Nicht immer. Rose ist skeptisch bei solchen Ritualen. Sie durchforstet erst mal ihr Gedächtnis. „Wo ist es normalerweise? Gefallen? Verrutscht? Verschoben? Wo war ich zuletzt? Was hatte ich an? Und so weiter. Immer aber lasse ich mir Zeit. Irgendwann wird es schon wieder da sein.“

Rose überzeugte mich. Machte es ab da auch so. Kann aber nicht verhehlen, dass mir gelegentlich spontan über die Lippen rutscht: „Heiliger Antonius, hilf.“ Katholische Erziehung sitzt tief.

In den Buden vor der Kathedrale glitzert der Wunderglaube mit Lichterketten. Dicht an dicht Kerzen aller Längen und Dicken. Antoniusfiguren von handspannenklein bis lebensgroß. Gebetbücher. Rosenkränze mit erbsenkleinen und wallnussgroßen Rosenkugeln. Ansichtskarten. Antoniusbildchen. Leporellos der Stadt Padua. Pillendöschen. Pralinendosen. Schmuckkassetten. Auf allen der Heilige. Übersicht keine. Nur blind zugreifen hilft. Oder weitergehen. Mit schlechtem Gewissen.

Im Mittelalter glaubten die Menschen alles, was ihnen ewiges Heil versprach. In Worten und Bildern. Den Antoniuskult, wie wir ihn kennen, gab es noch nicht. Obwohl der Mönch schon 1227 als Bußprediger auftrat. Er interpretierte die Bibel als Aufforderung, für Sünden zu büßen.

Es gab einen ganzen Katalog von Bußen. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Seine Botschaft war Richtschnur für jedermann. Ob er nun ein armer Teufel war, der mit zehn Vaterunser des Himmels ziemlich sicher sein konnte. Oder ein vermögender Mensch, der mit reichlich Spendengeld seine Seele retten wollte. Und überhaupt nicht sicher sein durfte. Von wegen: Eher kommt ein Kamel durch´s Nadelöhr als … ein Reicher in den Himmel. Trotzdem versuchten sie es immer wieder. Und glaubten, das Öhr einer Stopfnadel ist groß genug für sie. Diesmal weiß ich mehr. Erzähle Rose eine Geschichte.

„Am 6.Februar 1300 kaufte der Bankier Enrico Scrovegni aus Padua das verfallene römische Amphitheater, um auf den Trümmern einen Palast und eine Kapelle zu bauen. Die Kapelle sollte seinem Vater, dem Bankier Rinaldo Scrovegni gewidmet sein. Der war kein armer, sondern ein arger Teufel. Dante nannte ihn in seiner ‚Divina comedia’, Göttliche Komödie, mit Namen. Er beschrieb ihn als einen Typ von Wucherern, die wegen ihrer Geschäftsmethoden in der Hölle schmoren.“

 

Ich hatte viel gelesen, sogar behalten. Weiß, dass Rose die Hölle mehr interessiert als der Himmel. „Erzähle weiter“, fordert sie mich auf. „Sohn Enrico glaubte, mit dem Bau einer Kirche könnte er das Sündenregister seines Vaters löschen. Im Nachhinein Abbitte leisten, damit er doch noch in den Himmel kommt. Gewissermaßen das Sühneopfer des Sohnes für den Vater.“

Solche Geldgeschäfte waren an der Tagesordnung. Ob das klappte? Kein Mensch kann das kontrollieren. Nur glauben. Oder nicht. Vorsichtshalber engagierte er die berühmtesten Künstler seiner Zeit für die Ausgestaltung der Kapelle. Sie sollte die schönste weit und breit sein. Gott und den Menschen wohlgefällig. Was uns heute dieses einmalige Erlebnis beschert. Giotto di Bondone bemalte den ganzen Innenraum vom Sockel bis zur Decke mit fortlaufenden Bildergeschichten aus dem Leben Jesu.

Giotto ist für uns der größte Maler des Mittelalters. Kennen seine Bilder aus Santa Croce in Florenz und aus der Unterkirche in Assisi. Es sind Meisterwerke. Der Maler überragte alle Zeitgenossen mit einer neuen, naturalistischen Malweise. Die bis dahin zweidimensional Figuren, Häuser und Bäume nebeneinander stellte. Hier in Padua stehen sie in Gruppen. Wichtige vorne, andere im Hintergrund. Kommen uns quasi aus dem Raum entgegen. Die Landschaft dahinter verjüngt sich perspektivisch. Perfekt. Modern. Echt dreidimensional.

Dieses Meisterwerk wollen wir kennenlernen und in allen Details betrachten. Es hat fast achthundert Jahre in seiner Farbenpracht überdauert. Ohne nennenswerte Restaurierung. Ein Beweis für Giottos perfekte Handwerkstechnik. Fahren mit der Bahn nach Padua, laufen die zwei Kilometer bis zur Scrovegni per pedes. Erst einmal warten wir eine halbe Stunde in einer Art Schleuse. Glaskubus mit Sitzbänken. Jede Menge Drucksachen, damit uns die Zeit nicht zu lang wird. Literatur zur Vorbereitung auf das Kunsterlebnis im kirchlichen Raum.

Zweck des Aufenthalts: Mit ausgefeilter Technik wird die Feuchtigkeit unseren Kleidern entzogen. Damit sie den Fresken nicht schadet. Dann dürfen wir die heilige Halle betreten. Mit acht anderen. Maximal zehn Personen gleichzeitig.

Erster Eindruck so wie in allen Kirchen. Eine Welt, die mit draußen nichts zu tun hat. Hier herrscht ein anderer, ohne dass wir ihn sehen. Außer in Giottos Fresken. Ist es das Bewusstsein, das uns vorgaukelt, hier ist das Haus eines Gottes, der Mensch wurde? Vor fast zweitausend Jahren. Mensch verstehen wir. Gott nicht. Mein ganzer Kunstverstand ist gefragt. Meine vergessenen Bibelgeschichten. Was also soll ich tun? Was Rose noch erzählen?

Es bleibt uns nichts anderes, als von Bild zu Bild zu wandern. Stehenbleiben. Schauen. Nichts anderes als schauen. Bei dem einen länger verweilen als bei anderen. Der Judaskuss hält uns fest. Nicht, weil er seinen Herrn küsste. Sondern weil sein Mantel den armen Jesus einzufangen scheint wie ein Lamm. Schlachtbank kommt sofort. Nicht alles vergessen.

Giottos Kunst holt alles aus dem Hirn, was irgendwann einmal gespeichert war. Wir schwanken von Bild zu Bild. Immer mehr als Opfer der Kunst. Nicht als Subjekte, die wissen, was sie bedeutet.

Eigentlich müssten wir immer mal wieder in diese Bilderkammer schauen. Uns vom Ganzen lösen und in intime Details abtauchen. Wie in Brunnen. Um Erkenntnisse zu schöpfen. Gründlich vergessen, dass ein Bestechungsversuch Anlass für diese einmalige Bilderwelt war. Die noch lange mit teurem Eintrittsgeld nachfinanziert werden muss. Damit erhalten bleibt, was ist.

Schätze, Vater Rinaldo Scrovegni dürfte noch lange nicht im Himmel sein.

VICENZA – Architektur mit Langzeitwirkung

Vicenza ist die Palladiostadt. Laut UNESCO. In keiner anderen treffen wir auf so viele bedeutende Gebäude eines einzigen Architekten. Ich möchte drei von ihnen sehen. Als Architekten interessiert mich, was daran so anders, so besonders ist. Das Teatro Olimpico und die Basilika in der Stadt. Die Villa Rotonda außerhalb. Es sollen drei Baukonzepte sein, die nicht gegensätzlicher sein können und doch erkennbar Palladios Handschrift zeigen.

Es ist ein schöner Frühlingstag, Rose in bester Stimmung. Neugier und Anspannung treiben mich an. Der kleine Architekt will den großen kennenlernen. Habe zwar nur ein einziges Haus gebaut. Aber den besten Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie gehabt. Hans Schwippert, letzter Präsident des Werkbundes. Nachfolgeorganisation des berühmten ‚Bauhaus. Das die Moderne einläutete. Er lehrte, stimmige Verhältnisse sind das A & O der Baukunst. Wie aber kriegt man das hin? Vielleicht hat Palladio ein Rezept.

Wir schlendern durch die Straßen. Die Häuser sind freundlich und hell, aus gleichem Stein die Fassaden. Man findet ihn vor der Haustür, im julischen Kalksteingebirge nördlich von Triest. Genau genommen stammen nur vier oder fünf Palazzi und Wohnhäuser aus der Hand Palladios. Alle anderen sind von späteren Kollegen nachempfunden. Wo ist das Teatro? Meine Neugier wächst. Da der Bau an der Ecke. Wie viele Schätze äußerlich bescheiden. Aber drinnen.

Wir verhalten unsere Schritte. Als beträten wir eine Kirche. Der Raum wie eine Muschel erster Eindruck. In der Nase Holz. Warmtonig duftendes Pinienholz. Alles aus Holz. Das Rund der Bänke bis obenhin. Der Boden, die Decke. Die Bühne. Die Kulisse einer Stadt aus Holz, die Stein vortäuscht. Straßen, Paläste, Skulpturen von Pinselquälern steingenau gestrichen. „Immer dasselbe Bühnenbild?“ Rose fragt, denkt an Peter Stein. „Stein inszenierte ‚Carmen’ in einem Straßenbahndepot“, erinnere ich.

Damals zu aufwendig. Handlung war wichtiger. Wie in griechischen Theatern. Wir klettern die Sitzstufen hinauf bis obenhin. Setzen uns, umarmen uns, als es dunkel wird. Wo sind die Lampen? Pst! Ein Schauspieler kommt. An der Kasse sagte man uns, er lese eine Rolle aus Molières ‚Don Juan’. Er liest. Gestikuliert mit den Armen. Schreit. Singt fast. Flüstert einen endlos langen Monolog. Gehört habe ich alles, sogar die Flüstertöne. Nur nicht verstanden. Parlando Italiano.

Theaterstücke hier müssen gut sein. Wie Wein in alten Eichenfässern „Jetzt aber zur Basilika. Rose drängt. Es fällt mir schwer, den hölzernen Tempel zu verlassen. Nicht weit gelaufen, schon öffnet sie die Piazza. Baut sich der Palazzo della Regione, die Basilika vor uns auf. Schon die Römer versammelten sich in einer Basilika. Um zu bereden, was zu tun ist. Es musste ein prächtiges Haus sein. Eines, das Eindruck macht.


Palladio hat diese Idee erfasst. Die Basilika in Vicenza machte ihn mit einem Schlage berühmt. Wir umrunden den Koloss. Langsam. Damit uns nichts entgeht. Betrachten die doppelten Säulen. Die Proportionen der übereinandergestellten Arkaden. Das ganze Gebäude eine Reverenz an die Antike. Neu gedacht und ausgeführt. Überdacht von einem modern wirkenden Kupferdach, das im Laufe der Jahrhunderte Grün angesetzt hat. „Wunderschön das Grün gegen den blauen Himmel.“ Rose begeistert.

Palladio, Denkmal geworden, hat jetzt andere Maßstäbe. Rose ist zufrieden. Ich bin zufrieden. Zufriedener als gestern. Setzen uns vis à vis der Basilika an einen Tisch des ‚Gran Café Garibaldi’. Genießen Palladio und ‚Fegato Veneziana’. Begießen den Unterschied von Mann und Frau. Ich denke, es gibt zwar den ‚Goldenen Schnitt’. Aber Stimmiges schafft nur ein Naturtalent. „Bin ich eines?“ Rose sieht mich an, das Fältchen an ihrem linken Auge zittert: „Hast andere Talente.“

Rose freut sich auf die Villa Rotonda. Schöne Häuser liebt sie schon von Kindesbeinen an. Ihre Großeltern besaßen eine Jugendstilvilla. Die meisten Häuser haben Vorbilder. Doch wo sind die Originale? Wir fahren ein paar Kilometer ins Land. Sehen schon von ferne Palladios Rotonda aus der Ebene ragen. Wie eine Akropolis.

Uneingestandenes Vorbild für Architekten bis heute. Ihrer Spannungsverhältnisse wegen, die einfach stimmen. Wir werden sehen. Zwischen Mauern eine lange Zufahrt. Lassen den Wagen unten. Gehen hinauf auf den Hügel. Es zieht sich. Denke mit Absicht. Klein sind wir geworden beim Aufwärtsklettern. Die Knie weich. Als wir endlich vor den Stufen des Portikus landen.

Zuerst mal setzen. Absichtslos streicht meine Hand über den rauen Stein der Säule. Einer der sechs, die den Portikus bilden. Lange Vergessenes überfällt mich. Als Praktikant auf der Baustelle. Rieche nassen Mörtel. Spüre die dreißig Kilo in der Back auf meiner Schulter. Höre den Boss schreien: ‚hierher!’ Schwanke auf langer Leiter bis unters Dach. Praktikantenschicksal.

Wie haben sie nur die dicken Säulen herbei geschafft und senkrecht gestellt? Mächtig der Portikus. Mit skulptiertem Giebel über sechs korinthischen Säulen. Großartig die Gestaltung des Eingangs. Die quadratische Villa hat vier. An jeder Seite einen. Sehr praktisch. Großzügig alles. Ich könnte neidisch werden. Wir gehen hinein, eine Tür geöffnet. Wände so hoch, dass sie niemand zu putzen braucht. Bodenfliesen im Schachbrettmuster so weit, so glänzendglatt, dass Knaben Skateboard rasen konnten. Hätten sie eines gehabt.

Verschwenderisch bemalt mit Figuren und allegorischen Szenen. So, als ob sie plastisch wären. Arme strecken sich uns entgegen. Ein Fuß. Die Kanne der Magd, gefüllt mit Wein? Das ganze Haus belebt von Wesen, die es nicht gibt. Illusion ist alles. Bei genauem Hinsehen erkennen wir, alles ist praktisch, nicht nur schön. Die Wege kurz. An allen vier Seiten Blick frei in die Landschaft. Die ganze Maßlosigkeit im Maß der Antike.


Palladio verband das Schöne mit dem Nützlichen. Rose ist begeistert. „Hier möchte ich wohnen.“ Klingt wie ein Seufzer.

Andere seiner Villen dienten Landlords als sommerlicher Wohnsitz. Mit Räumen für Personal, Tiere und landwirtschaftliches Gerät. Sie besaßen viele Hektar Grund und Boden, der mit Wein, Korn und Gemüse für Vollbeschäftigung und gute Rendite sorgte. Hinreißend schön die gestreckten Baukörper solcher Villen. ‚Villa Barbaro’, ‚Villa Emo’. Ihre Mitte betont ein Säulenportikus. Ich bin richtig verknallt in diese Bauwerke. Gefühl und Verstand haben keine Worte, diesen Eindruck zu beschreiben. So als schaue ich Rose an. Architekten können auch Wunder bewirken. Rose möchte am liebsten sofort eine kaufen. Sie ist den Villen stärker noch als ich verfallen. Sie liebt ihre Seele. Ich die äußere Hülle.

Wir entschließen uns, keine zu kaufen. Trotzdem werden wir die anderen im Veneto demnächst besuchen. „Ich bring ein Blümchen mit“, verspricht Rose. Als wohnte dort jemand, den sie kennt.

Kaum zuhause, entwerfe ich einen Innenkamin für unseren Wohnraum. Mache ein Modell. Lasse den Baumeister kommen, der es schnell realisiert. Wir können es kaum erwarten. Natürlich hat er einen römischen Bogen. Eine gemauerte Stufe hoch zur Feuerstelle. Einen plastischen Feuersalamander auf dem Stufenstein. Von Freund Alois. Allegorie für unsere Liebe. Auf dass sie nie und niemals erlischt.

LUCCA – Männerbeine und Sankt Michael

Lucca im Nordwesten Italiens war im frühen Mittelalter eine reiche Stadt. Hier wirkten die Weber wertvolle Stoffe. Ihre Seide war in ganz Europa berühmt wegen der unübertroffen großen Farbpalette. Samt und Brokat waren mit Goldfäden und Edelsteinen verarbeitet. Daher der hohe Preis. Königs- und Fürstenhäuser zahlten in barer Münze. Sie hatten viel davon. Und sei es nur geliehen. Bei Bankern wie Fugger zum Beispiel. Hauptsache, sie konnten angeben.

Männer ließen sich golddurchwirkte Bänder weben. Banden sie um ihre Oberschenkel, um den Frauen zu imponieren. Wer ist der Schönste im ganzen Land? Zeitgenössische Berichte beschreiben es in allen Einzelheiten. Der Leser muss wissen, damals schrieb die Herrenmode statt Beinkleider hautenge Strumpfhosen vor.

Lucca wurde berühmt und reich. Dom und die zwei wichtigsten Kirchen nahe der Stadtmauer zeigen es jedem. Der sogenannte Pisaner Stil charakterisiert alle Bauten. Also halbplastische Arkadenbögen statt glatter Fassadenflächen vorher. Oder als offene Galerien. Der schlanke Kampanile steht nebendran. Die Kathedrale San Martino strotzt mit extrem hoher Westfassade. Ebenso San Michele und San Frediano. Die Höhe ergab sich aus einer Zwangslage. Das Langhaus wurde um drei bis vier Meter erhöht, um Fläche für gemalte Bibelszenen zu gewinnen. Für Fenster, den dämmrigen Raum zu erhellen.

 

Ob sie mehr Raumluft für kranke Lungen im Kerzendunst wollten, darf bezweifelt werden.

Die Fassade konnte nicht anders, sie musste höher werden. Auch höher als das Langhaus. Sie war das Vorzeigeobjekt jedes Bauherrn, Fürst oder Bischof. Jeden Aufwand wert. Hier mit durchlaufend horizontalen Arkaden und Zwerggalerien. Sie bringen Ruhe und Rhythmus gleichermaßen auf die Flächen.

Außergewöhnlich und attraktiv die fünfstöckige Fassade von San Michele. Über dem geschlossen wirkenden Baukörper des untersten Geschosses vier offene Galerien. Ihre Säulen scheinen gedrechselt zu sein. In einer Formenvielfalt, die wir sonst nirgends sahen. Jede ist anders. Fantasiereicher.

Nach oben werden die Säulen immer kleiner, zierlicher. Himmelwärts über dem massiven Untergeschoss liftet sich sozusagen die Wand. Endet im schmaleren Giebel. Auf ihm thront ein riesiger Sankt Michael. Im Rücken gestützt von einem potthässlichen Eisengerüst. „So sind die Italiener. Vorne hui. Hinten pfui.“ Sagte meine Großmutter. Hier sehe ich das anders. Fassaden sind der Gipfel einer künstlerischen Entwicklung. Reine Schönheit. Auf Hinterhöfen sähe sie niemand. Nicht nur Menschen dürfen zeigen, was sie können, auch Kirchen.


Rose stimmt mir zu. Lacht: „ChouChou, ohne Dich könnte ich vieles nicht so sehen.“ „Verlass Dich auf Dein Gefühl“. Hast bisher immer richtig damit gelegen. Was sind schon Worte? Wie schrieb Goethe: „Wenn Ihr´s nicht fühlt, Ihr werdet´s nicht erjagen.“

Die reich gewordene Stadt beschloss, sich mit einem Befestigungsgürtel zu umgeben. Sicherheitshalber. Die Stadtstaaten damals überfielen sich am laufenden Band. Lucca lockte. Sein Reichtum war bald über die Grenzen hinaus bekannt. Zog Kaufleute und Künstler an. Heilige hatten sie ohnehin, mit ihnen auch Wallfahrer und zusätzliche Einkünfte. Konkurrierende Städte sowieso.

Bis dann im 14. Jahrhundert soziale Unruhen ausbrachen. Die Weber flohen und verlegten ihr Geschäft nach Venedig. Damit war die Grundlage des Reichtums weg. Das schöne Stadtbild aber ist geblieben. Bis heute. Wir durchqueren es von Südost nach Nordwest.

„Lass uns zum Antikmarkt gehen. Gleich um die Ecke.“ Rose möchte private Geschichten erleben. Wir schlendern los. Aus Porzellanvasen winken Puppen mit dem abgewinkeltem Celluloidarm, den die Fabrik ihnen mitgegeben hat. „Ich hätte gern auch den Ellenbogen meiner Billa bewegt.“ Rose schmollt wie ein kleines Mädchen. Küsse ihre unschuldige Wange. Da, zwei Messingkübel mit dickverstaubtem Adler-Ornament. Viel leicht aus einem Generalshaushalt. Und lange nicht geputzt. Wer weiß schon, ob ein Altertümchen alt ist? In Lucca ist das nicht anders als in Düsseldorf oder Freiburg.

Schnell noch ein Foto vom alten Lehnsessel für die Lucca-Story in meiner Dia-Show. Dann sind wir auf der Promenade. Flanieren über den roten Kies, schweben auf Wolke siebzehn. Die Akazien kühlen unsere Stirn mit grünem Schatten. San Martino schickt seine Glocken los, uns zum Himmel heimzuholen. In dem wir schon lange sind. Der Mesner weiß es nur nicht. Vom Gesang der Amsel lassen wir uns in die schönste Stimmung singen. Der Duft dunklen Kaffees lockt uns in die nächste Cafeteria. „Oh mia Rosa.“

Wir sind rundum glücklich. Planen den nächsten Besuch im Klosterhotel von Pistoia. Hundertzehn Kilometer östlich von Lucca. Richtung Florenz. Auf unserer Landkarte stehen noch viele Orte, die wir kennenlernen wollen. Damit wir vergleichen können. Zwischen Vergessen oder Wiederkommen. Eines Tages.

Am Ende unseres Spaziergangs in Lucca San Frediano. Nicht weil diese Kirche die sehenswerteste, also ein Höhepunkt ist. Sondern weil sie an unserem Heimweg liegt. Hier wieder die überhöhte Fassade. Es muss damals ein Bilderwahnsinn geherrscht haben. Hier schmückt die Fassade ein riesiges Mosaik der Himmelfahrt. Engel zur Seite, natürlich. Und eine große Volksmenge darunter, die jubelt. Es wird dunkel. Die Szene verschwimmt ins Ungenaue. Wir fahren ins Hotel.

Die Locanda mit dem schönen Namen Elisa empfängt uns zwar mit hell erleuchteten Fenstern. Verabschiedet sich aber zur Nacht mit einem verbrannten Abendessen. Nun ja, den Lucca-Tag verdirbt es uns nicht. Werden ihn nicht vergessen. Brokatbänder um Männerschenkel nicht. Den riesigen Michael nicht. Die Amsel im Ohr.