Verstehen wir überhaupt etwas von Revolution? Als Bakunin 1848 den Aufruhr in Dresden mit einer Niederbrennung aller öffentlichen Gebäude krönen wollte und auf Widerstand stieß, erklärte er »Die Deutschen sind zu dumm dazu« und ging seiner Wege. Die unbeschreibliche Hässlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein kühner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten. Nein, wir sind keine Revolutionäre. Keine Not, keine Presse, keine Partei kann einen ordnungswidrigen Sturm mit der Gewalt von 1813, 1870, 1914 hervorrufen. Von ein paar Narren und Strebern abgesehen, wirkte die Revolution auf jeden wie ein einstürzendes Haus, am tiefsten vielleicht auf die Sozialistenführer selbst. Es ist ohne Beispiel: sie hatten plötzlich, was sie seit 40 Jahren erstrebten, die volle Gewalt, und empfanden sie als Unglück. Dieselben Soldaten, die unter der schwarz-weiß-roten Fahne vier Jahre lang als Helden gefochten hatten, haben unter der roten nichts gewollt, nichts gewagt, nichts geleistet. Diese Revolution hat ihren Anhängern den echten Mut nicht gegeben, sondern genommen.
Das klassische Land westeuropäischer Revolutionen ist Frankreich. Der Schall tönender Worte, die Blutströme auf dem Straßenpflaster, la sainte guillotine, die wüsten Brandnächte, der Paradetod auf der Barrikade, die Orgien rasender Massen – das alles entspricht dem sadistischen Geist dieser Rasse. Was an symbolischen Worten und Akten zu einer vollständigen Revolution gehört, kommt aus Paris und ist von uns nur schlecht nachgeahmt worden. Wie ein proletarischer Aufstand unter feindlichen Kanonen aussieht, haben sie uns schon 1871 vorgeführt. Es wird nicht das einzige Mal gewesen sein.
Der Engländer sucht den inneren Feind von der Schwäche seiner Position zu überzeugen. Gelingt es nicht, so greift er ruhig zu Schwert und Revolver und zwingt ihn, ohne revolutionäre Melodramatik. Er schlägt seinem König den Kopf ab, weil er dies Symbol instinktiv für notwendig hält; es ist für ihn eine Predigt ohne Worte. Der Franzose tut es – aus revanche, aus Freude an blutigen Szenen und mit dem geistreichen Kitzel, dass er gerade einen Königskopf daran wenden kann. Denn ohne Menschenköpfe auf Piken, Aristokraten an der Laterne, von Weibern geschlachtete Priester wäre er nicht zufrieden. Das Ergebnis der großen Tage kümmert ihn weniger. Der Engländer will den Zweck, der Franzose die Mittel.
Was wollten wir? Wir bringen es nur zu Karikaturen von beiderlei Art. Prinzipienreiter, Schulfüchse, Schwätzer in der Paulskirche und in Weimar, ein kleiner Spektakel auf der Gasse, ein Volk im Hintergrunde, das wenig beteiligt zusieht. Aber eine echte Revolution ist nur die eines ganzen Volkes, ein Aufschrei, ein eherner Griff, ein Zorn, ein Ziel.
Und das, diese deutsche sozialistische Revolution, fand 1914 statt. Sie vollzog sich in legitimen und militärischen Formen. Sie wird, in ihrer dem Durchschnitt kaum verständlichen Bedeutung, die Widerlichkeiten von 1918 langsam überwinden und als Faktor ihrer fortschreitenden Entwicklung einordnen.
Aber immerhin, im volkstümlichen Bilde der Geschichte wird nicht sie, sondern der Novemberaufstand künftig voranstehen. Man kann sich wohl ausmalen, wie im idealen Fall eine proletarische Revolution an dieser Stelle einzusetzen gehabt hätte. Und da enthüllt sich die überwältigende Feigheit und Minderwertigkeit des Elements, das der proletarische Gedanke zu seiner Verteidigung bereit fand. Auch die großen Revolutionen werden durch Blut und Eisen entschieden. Was hätten bedeutende Massenführer, was hätten die Independenten und Jakobiner in dieser Lage getan! Und die Marxisten? Sie hatten die Macht, sie hätten alles wagen dürfen. Ein großer Mann aus der Tiefe, und das ganze Volk wäre ihm gefolgt. Aber nie ist eine Massenbewegung durch die Erbärmlichkeit der Führer und Gefolgsleute elender in den Schmutz gezogen worden. Die Jakobiner waren bereit, alles andere zu opfern, weil sie sich selbst opferten: marcher volontiers, les pieds dans le sang et dans les larmes, wie es St. Just formulierte. Sie kämpften gegen die Mehrheit im Innern und gegen halb Europa an der Front. Sie rissen alles mit. Sie schufen Heere aus dem Nichts, sie siegten ohne Offiziere, ohne Waffen.
Hätten ihre Nachäffer von 1918 die rote Fahne an der Front entfaltet, den Kampf auf Leben und Tod gegen das Kapital erklärt; wären sie vorangegangen, um als die ersten zu fallen, sie hätten nicht nur das zu Tode erschöpfte Heer, die Offiziere vom ersten bis zum letzten, sie hätten auch den Westen mitgerissen. In solchen Augenblicken siegt man durch den eignen Tod. Aber sie verkrochen sich; statt an die Spitze roter Heere stellten sie sich an die Spitze gutbezahlter Arbeiterräte. Statt der Schlachten gegen den Kapitalismus gewannen sie die gegen Proviantlager, Fensterscheiben und Staatskassen. Statt ihr Leben verkauften sie ihre Uniformen. An der Feigheit ist diese Revolution gescheitert. Jetzt ist es zu spät. Was in den Tagen des Waffenstillstandes und der Friedensunterzeichnung versäumt wurde, ist niemals nachzuholen. So sank das Ideal der Masse zu einer Reihe schmutziger Lohnerpressungen ohne Gegenleistung herab; auf Kosten des übrigen Volkes, der Bauern, der Beamten, der Geistigen zu schmarotzen, die Worte Rätesystem, Diktatur, Republik so oft an Stelle mangelnder Taten hinauszuschreien, dass sie in zwei Jahren lächerlich geworden sein werden, so weit reichte ihr Mut. Als einzige »Tat« erscheint der Fürstensturz, obwohl gerade die republikanische Regierungsform mit dem Sozialismus nicht das geringste zu tun hat.
Dies alles beweist, dass der »vierte Stand« – im tiefsten Sinne eine Negation – im Gegensatze und als Gegensatz zum übrigen Volke nicht aufbauend wirken kann. Es beweist, wenn dies die sozialistische Revolution war, dass das Proletariat nicht ihr vornehmster Träger ist. Mag kommen, was da will, diese Frage ist unwiderruflich entschieden. Die Klasse, welche Bebel für die Entscheidung herangezüchtet hatte, hat als Einheit versagt. Für immer, denn die verlorne Schwungkraft lässt sich nicht wiedererwecken. Eine große Leidenschaft ist durch Erbitterung nicht zu ersetzen. Und die Verfechter des gestrigen Programms mögen sich nicht täuschen: sie werden den wertvollen Teil der Arbeiterschaft unwiderruflich verlieren und aus Führern einer großen Bewegung werden sie eines Tages zu wortreichen Helden von Vorstadtkrawallen gesunken sein. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt.
Das also war die große, seit Generationen verkündete, besungene, angedichtete deutsche Revolution – ein Schauspiel von einer so fürchterlichen Ironie, dass es des Abstandes von Jahrzehnten bedarf, bevor sie dem Deutschen fühlbar wird, eine Revolution, die das umwarf, was sie wollte und nun will, ohne zu wissen was.
Betrachtet man von dieser künftigen Höhe aus die drei Revolutionen, die ehrwürdige, die großartige, die lächerliche, so lässt sich sagen: Die drei spätesten Völker des Abendlandes haben hier drei ideale Formen des Daseins angestrebt. Berühmte Schlagworte kennzeichnen sie: Freiheit, Gleichheit, Gemeinsamkeit. Sie erscheinen in den politischen Fassungen des liberalen Parlamentarismus, der gesellschaftlichen Demokratie, des autoritativen Sozialismus: scheinbar ein neuer Besitz, in Wahrheit nur die äußerste reine Gestaltung des unveränderlichen Lebensstils dieser Völker, jedem ganz und allein eigen und keinem anderen mitteilbar. Antike Revolutionen stellen lediglich den Versuch dar, eine Lebenslage zu erreichen, in der ein in sich ruhendes Dasein überhaupt möglich und erträglich ist. Trotz der Leidenschaftlichkeit des äußeren Bildes sind sie sämtlich defensiver Natur. Von Kreon bis herab zu Spartacus hat niemand daran gedacht, über die eigne Not des Augenblicks hinaus sich für eine allgemeine Neuordnung der antiken Daseinsbedingungen einzusetzen. Die drei großen Revolutionen des Abendlandes aber entrollen eine Machtfrage: Ist der Wille des einzelnen dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? Und man ist entschlossen, die eigne Entscheidung der ganzen Welt aufzuzwingen.
Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den anderen; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt es in letzter Linie allen zugute.
Der französische Instinkt: die Macht gehört niemand. Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit aller, idealer Anarchismus, in der Praxis immer wieder (1799, 1851, 1871, 1918) durch den Despotismus von Generalen oder Präsidenten lebensfähig erhalten.
Beides heißt Demokratie, aber in sehr verschiedener Bedeutung. Von einem Klassenkampf im marxistischen Sinne ist nicht die Rede. Die englische Revolution, die den Typus des unabhängigen, nur sich selbst verantwortlichen Privatmannes hervorbrachte, bezog sich überhaupt nicht auf Stände, sondern auf den Staat. Der Staat wurde, weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt. Die Stände bestehen noch heute, allgemein geachtet, instinktiv auch von der Arbeiterschaft anerkannt. Die französische Revolution allein ist ein »Klassenkampf« aber von Rang-, nicht von Wirtschaftsklassen. Die wenig zahlreichen Privilegierten werden der gleichförmigen Volksmasse, der Bourgeoisie, einverleibt.
Die deutsche Revolution aber ist aus einer Theorie hervorgegangen. Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt. Es ist aber auch klar, dass der preußische Instinkt antirevolutionär ist. Den Organismus aus dem Geiste des 18. Jahrhunderts in den des 20. zu überführen – was man in einem ganz anderen, spezifisch preußischen Sinne liberal und demokratisch nennen kann – war eine Aufgabe für Organisatoren. Die radikale Theorie aber machte aus einem Teil des Volkes einen vierten Stand zurecht – sinnlos in einem Lande der Bauern und Beamten. Sie gab dem überwiegenden, in zahllose Berufsstände gegliederten Teil den Namen »dritter Stand« und bezeichnete ihn damit als Objekt eines Klassenkampfes. Sie machte den sozialistischen Gedanken endlich zum Privilegium des vierten Standes. Im Banne dieser Konstruktionen zog man denn im November aus, um das zu erreichen, was im Grunde längst da war. Und da man es im Nebel der Schlagworte nicht erkannte, zerschlug man es. Nicht nur der Staat, auch die Partei Bebels, das Meisterwerk eines echt sozialistischen Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ und eben damit die unvergleichliche Waffe der Arbeiterschaft, wenn sie dem Staat den Geist des neuen Jahrhunderts einimpfen wollte, ging in Trümmer. Das macht diese Revolution so verzweifelt lächerlich: sie brach auf, um ihr eignes Haus anzuzünden. Was 1914 das deutsche Volk sich selbst versprochen, was es bereits langsam, ohne Pathos zu verwirklichen begonnen hatte, wofür zwei Millionen Männer gefallen waren, wurde verleugnet und vernichtet. Und dann stand man ratlos, ohne zu wissen, was nun veranstaltet werden sollte, um sich selbst das Vorhandensein einer fortschreitenden Revolution zu beweisen. Es war sehr nötig, denn der Arbeiter, der etwas ganz andres erwartet hatte, schaute misstrauisch auf, aber mit dem täglichen Ausrufen der Schlagworte in die leere Luft hinein war es nicht getan.
Und so richtete der unentwegt liberale Michel den gestürzten Thron wieder auf und setzte sich darauf. Er war der gutmütige Erbe des Narrenstreichs, von ganzem Herzen antisozialistisch und deshalb den Konservativen wie den Spartakisten gleichmäßig abgeneigt, voller Angst, dass beide eines Tages ihr Gemeinsames entdecken möchten. Karl Moor im Klubsessel, der alle Interessenjäger, auch die fragwürdigsten, freisinnig duldete, vorausgesetzt, dass das republikanisch-parlamentarisch-demokratische Prinzip gewahrt blieb, dass man reich an Worten, maßvoll im Tun war, und dass Kühnheit, Entschlossenheit, disziplinierte Unterordnung und andere Zeichen von Autoritätsbewusstsein sorgfältig aus seiner Nähe entfernt blieben. Zu seinem Schutze berief er die einzige Entdeckung der Novembertage, bezeichnenderweise einen Soldaten von echtem Holze, und hegte nun wieder tiefes Misstrauen gegen den militärischen Geist, ohne den die Farce von Weimar ein schnelles Ende erreicht haben würde.
Was aber hier geleistet wurde an Denken, Können, Haltung, Würde, genügt, um den Parlamentarismus in Deutschland für immer zu richten. Unter dem Symbol der schwarz-rot-gelben Fahne, die damit endgültig lächerlich geworden ist, wurden alle Torheiten der Paulskirche erneuert, wo die Politik ebenfalls keine Tat, sondern ein Geschwätz, ein Prinzip gewesen war. Der Mann von 1917 war auf dem Gipfel: sein Waffenstillstand, sein Völkerbund, sein Friede, seine Regierung. Michel lüftete lächelnd die Mütze in der Erwartung, dass John Bull großartig sein würde und unterschrieb, eine Träne im Augenwinkel, als er es wirklich war und das rasend gewordne Frankreich als seinen Geschäftsführer vorschickte.
Im Herzen des Volkes ist Weimar gerichtet. Man lacht nicht einmal. Der Abschluss der Verfassung stieß auf absolute Gleichgültigkeit. Sie hatten gemeint, der Parlamentarismus stehe am Anfang, während er selbst in England im raschen Niedergang begriffen ist. Da ihnen Opposition als das Zeichen parlamentarischer Hoheit erschien – obwohl allerdings das englische System starke Individualitäten voraussetzt, die sich auf zwei uralte, einander bedingende Gruppen verteilen, von starken Individualitäten bei uns aber keine Rede war –, so trieben sie unentwegt Opposition gegen eine Regierung, die gar nicht mehr vorhanden war: das Bild einer Schulklasse, wenn der Lehrer fehlt.
Diese Episode ist der tiefsten Verachtung der Zukunft gewiss. 1919 ist der Tiefpunkt deutscher Würde. In der Paulskirche saßen ehrliche Narren und Doktrinäre, weltfremd bis zum Komischen, Jean Paul-Naturen; hier aber fühlte man verschmitzte Interessen dahinter. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um Düpierte oder Einverstandene handelt. Diese Parteien verwechselten das Vaterland allzu oft mit dem Vorteil. Wir erleben eine Direktorialzeit vor dem Thermidor. Wehe, wenn wir das übersprungene Stück nachholen müssen! Dass dies verlogene Schauspiel einer nicht geglückten und nicht beendeten Revolution ein Ende nimmt, ist sicher. Draußen bereitet sich ein neuer Akt des Weltkrieges vor. Man lebt heute schnell. Während die Nationalversammlung, ein verschlechterter Reichstag, aus den Trümmern des zerstörten Staates eine Hütte zusammenflickt, in der Schiebertum und Wucher mit Löhnen, mit Waren, mit Ämtern bald die einzige Beschäftigung sein werden, beginnen andere über das letzte Jahr anders zu denken. Sie vergleichen, was da gebaut wird, mit dem, was einmal da war. Sie ahnen, dass ein Volk in Wirklichkeit niemals zwischen verschiedenen Staatsformen zu wählen hat. Wählen lässt sich nur die Verkleidung, nicht der Geist, das Wesentliche, obwohl die öffentliche Meinung beständig beide verwechselt. Was man in eine Verfassung hineinschreibt, ist immer unwesentlich. Was der Gesamtinstinkt allmählich daraus macht, darauf kommt es an. Das englische Parlament regiert nach ungeschriebenen, aus einer alten Praxis entwickelten und oft sehr wenig demokratischen Gesetzen und eben deshalb mit so großem Erfolg.
Aber man täusche sich nicht: die Revolution ist nicht zu Ende. Ob sinnlos oder nicht, ob gescheitert oder verheißungsvoll begonnen, ob der Auftakt einer Weltrevolution oder eine bloße Auflehnung des Mob in einem einzelnen Lande, es ist eine Krise im Gange, die wie alles Organische, wie eine Krankheit, einen mehr oder weniger typischen Verlauf nimmt, der sinnwidrige Eingriffe nicht duldet. Ethische Worte, wie gerechte Sache oder Verrat, sind der Tatsache selbst gegenüber wertlos. Man muss, als Revolutionär wie als Gegenrevolutionär, Menschenkenner sein, eiskalt und überlegen alle Faktoren des Augenblicks berechnen, das psychologische Feingefühl der alten Diplomatie statt auf Diplomaten- und Fürstenseelen auf die viel schwerer zu durchschauende, auf einen Taktfehler viel gereizter antwortende Massenseele anwenden. Volksführer mit geringer Intelligenz pflegen darin eine unfehlbare Sicherheit zu besitzen. Unsere Volksführer verdanken ihren Mangel an Instinkt vielleicht gerade ihrer echt deutschen Gründlichkeit der theoretischen Schulung. Man muss die Dauer, das Tempo, die Schwingung, das Crescendo oder Decrescendo jeder Phase unbedingt kennen. Wer sich einmal vergreift, hat die Entscheidung aus der Hand verloren. Aber man muss auch wissen, was man entscheiden kann und was man laufen lassen und erst im Verlauf aus größeren Gesichtspunkten ausnützen oder unmerklich in eine andere Richtung biegen muss. Revolutionäre großen Stils besaßen immer die Taktik großer Feldherrn. Die Stimmung einer Stunde entscheidet über den Sieg einer Armee. Der Doktrinär wird sich gern mit dem Anfang von Revolutionen beschäftigen, wo die Prinzipien klar und hart aufeinanderstoßen; der Skeptiker studiert ihr Ende. Es ist nicht nur wichtiger, es ist auch psychologisch lehrreicher. Die Verhältnisse lagen nie so kompliziert wie heute. Der Ausbruch der Revolution war gleichzeitig die Auslieferung des Landes an den Feind. Das hat, im Gegensatz zu allen anderen Ländern, bei uns die gefühlsmäßige Stellung zum Marxismus von einem mächtigen Faktor ganz anderer Art abhängig gemacht. Vaterland und Revolution waren 1792 identisch, 1919 sind es Gegensätze. Jede neue Phase vollzieht sich unter dem Druck einer feindlichen Kombination. Die englische Revolution spielte sich auf einer Insel ab; die französische behielt dank ihrer Tapferkeit im Felde die Entscheidungen in der Hand. In der deutschen Revolution aber zählen Paris, London und Newyork mit, nicht mit ihren Arbeiterbewegungen, sondern mit Truppen, die sie marschieren lassen, wenn die deutsche Revolution eine ihnen nicht erwünschte Form annimmt. Die Marxisten haben es so gewollt und müssen nun damit rechnen. Außer den Handgranaten des Spartakusbundes und den Maschinengewehren der Reichswehr ist noch die französische Besatzungsarmee und die englische Flotte da. Das heroische Bolschewistengerede in den Zeitungen und die tägliche Niedermetzelung der westlichen Kapitalisten durch Leitartikel und Lügentelegramme ersetzen eine revolutionäre Front mit schwerer Artillerie noch lange nicht. Je mehr man die Weltrevolution predigt, desto ungefährlicher wird sie. Schon der Ton dieses Geredes verrät mehr Ärger als Zuversicht und schließlich hatten ja auch die russischen Revolutionäre nicht die Feigheit vor dem äußeren Feind an die Spitze ihres Programms gestellt. Und man vergesse doch auch nicht, dass die Beteiligung am Novemberaufstand bei vielen nicht aus Begeisterung für irgendein Programm, sondern aus Verzweiflung, aus Hunger, aus der nicht länger zu ertragenden Anspannung der Nerven hervorging. Die Versailler Beschlüsse lassen den Kriegszustand fortdauern, aber wie lange wird man seine seelische Wirkung für statt gegen die marxistischen Ziele einstellen dürfen? Die Waffe des Generalstreiks ist abgenutzt. Das verlorene erste Jahr einer jungen Bewegung ist nicht nachzuholen, und auch das Schauspiel der Nationalversammlung kann wohl gegen die Versammlung, aber nicht notwendig für die Sache ihrer kläglichen Schrittmacher einnehmen. Und endlich beachte man den rasch nahenden, jede Revolution innerlich abschließenden Zeitpunkt, wo das eigentliche Volk Ruhe und Ordnung um jeden Preis haben will und auch durch den stärksten Druck der revolutionären Minderheit nicht mehr zu bewegen ist, zu prinzipiellen Fragen Stellung zu nehmen. Diesen Zeitpunkt hinauszuschieben oder aufzuheben steht in niemandes Macht. Man vergleiche die in sozialistischen Schriften gern unterschlagenen Ziffern der Wählerbeteiligung bei den Jakobinerabstimmungen mit denen bei Einsetzung des Konsuls Bonaparte und man begreift: selbst das französische Volk hatte den revolutionären Zustand endlich satt. Die Geduld des deutschen Volkes wird schneller zu Ende sein.
Aber andrerseits: nicht nur die grundsätzlichen Anhänger, auch die grundsätzlichen Gegner jedes Umsturzes sind in Gefahr, sich zu irren. Eine tiefe, aber unbestimmte Enttäuschung ist von dem Entschluss der Verzichtleistung weit entfernt. Das Gefühl einer gescheiterten Erhebung, wie es heute in weiten Schichten besteht, ist wie eine offene Wunde, die keine Berührung erträgt. Was keine Anstrengung der Radikalen mehr vermag, würde der geringste Versuch der Gegengruppe, die Revolution gewaltsam zu beenden, sofort herbeiführen: eine wilde Erbitterung von ansteckender Kraft, die von entschlossenen Führern zu weittragenden Handlungen ausgenutzt werden kann. Der Gang der Ereignisse würde sich damit nicht dem Sinne und der Dauer, aber der Form und Stärke nach entscheidend ändern. Er könnte sehr blutig werden. Wir befinden uns heute in der Mitte der Bewegung mit jener unergründlichen Haltung der Massenseele, die auch in den anderen großen Revolutionen den klügsten Kennern jähe Überraschungen bereitet hat. Verbirgt die gespannte Ruhe einen ungeschwächten Willen oder verrät der gereizte Lärm die Ahnung des endgültigen Misserfolgs? Ist es für eine Aktion der Anhänger zu spät? Für eine Aktion der Gegner zu früh? Man weiß, dass Dinge, die zu einer gewissen Zeit nicht einmal berührt werden dürfen, zwei Jahre darauf von selbst fallen. Das galt 1918, das wird im umgekehrten Sinne aber auch in naher Zukunft gelten. Die Höflinge von gestern sind die Königsmörder von heute und die Königsmörder von heute die Herzöge von morgen. Niemand kann in solchen Zeiten für die Dauer seiner Überzeugung einstehen.
Aber mit welchen Zeiträumen ist hier zu rechnen? Sind es Monate oder Jahre? Der Kreislauf der deutschen Revolution steht, nachdem und wie sie einmal in Erscheinung getreten ist, in Hinsicht auf Tempo und Dauer fest. Mag niemand sie kennen, diese Faktoren sind trotzdem vorhanden in ihrer schicksalhaften Bestimmtheit. Wer sich in ihnen vergreift, geht zugrunde. Die Girondisten sind so zugrunde gegangen, weil sie den Gipfel der Revolution hinter sich, aber auch Babeuf, weil er ihn vor sich glaubte. Auch das Eingreifen neuer Kriege, auch das Erscheinen einer großen Persönlichkeit würden nichts ändern. Sie würden die welthistorische Erscheinung plötzlich und vollkommen umwandeln können – was für gewöhnliche Betrachter ja allerdings alles bedeutet –, den tiefern Sinn der deutschen Revolution würden sie in seiner Wesenheit nur bestätigen. Ein großer Mann ist derjenige, der den Geist seiner Zeit begreift, in dem dieser Geist lebendige Gestalt geworden ist. Er kommt, nicht um ihn aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt, soll nun entwickelt werden.
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