Read the book: «Gerechtigkeit über Grenzen», page 5

Font:

Die Menschenrechtsbewegung

Die Schwierigkeiten des utilitaristischen Denkens scheinen größtenteils aus seiner ehrgeizigen Zielsetzung zu erwachsen. Der Utilitarismus versucht, die ganze Moral einem einzigen Prinzip unterzuordnen. Dies soll gewährleisten, dass unser Handeln (und unsere Politik) nicht nur richtig, sondern auch das bestmögliche oder optimale ist. Daher könnte es eine Alternative sein, auf weniger abzuzielen. Zum Beispiel, indem man nach Prinzipien sucht, nach denen man Handlungen beurteilen kann, und dann jene ablehnt, die falsch sind, statt sich große Ziele zu setzen, die nur jene Handlungen und Strategien zulassen, die optimale Resultate bringen.

Der am weitesten verbreitete zeitgenössische Ansatz dazu ist in der Menschenrechtsbewegung zu finden. Die Rhetorik der Rechte ist momentan allgegenwärtig. Wir kennen ihre Quellen, die größtenteils auf großen historischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts beruhen: Thomas Paines The Rights of Man und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den USA und in Frankreich. In jüngerer Zeit gründet sich der Anspruch auf Menschenrechte auf die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als man bemüht war, Grundlagen für eine neue internationale Ordnung zu schaffen und 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verfasste. In den folgenden Jahrzehnten gewann die Menschenrechtsbewegung weltweit an Einfluss, sodass heute ethische Forderungen in allen, den Menschen betreffenden Angelegenheiten als Frage des Respektierens von Rechten konstruiert werden.

Freiheitsrechte und soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte

Im Rahmen dieser Rechtedebatten gab es bis heute andauernde Meinungsverschiedenheiten über die Anzahl der Rechte, die als gerecht gelten dürfen. Einige Denker des rechten Flügels gehen, allgemein gesprochen, davon aus, dass es nur Freiheitsrechte gibt und dass unsere Pflichten im Grunde nur darin bestehen, die Freiheit des anderen nicht einzuschränken. Andere Vertreter der Rechte-Frage sind hingegen der Ansicht, es gäbe auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte, also positive Verpflichtungen, anderen zu helfen und beizustehen. Die Vordenker der Freiheitsrechte richten ihr Augenmerk auf ein angebliches Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück, wozu auch eine vollkommen deregulierte Wirtschaft zählt. Aus dieser Perspektive wäre es ungerecht, sich in die Ausübung demokratischer politischer Rechte oder (voller) kapitalistischer Wirtschaftsrechte einzumischen oder sie gar zu beschränken. Wer hingegen für soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte eintritt, verweist auf das Recht auf Nahrung, Gesundheitsfürsorge oder Sozialleistungen. Da das Recht auf unregulierte ökonomische Aktivität sich damit nicht vereinbaren lässt, lehnen sie deregulierte wirtschaftliche Rechte ab.

Diese Meinungsverschiedenheiten lassen sich nicht klären durch Rückgriff auf historische Schriftstücke. Die Erklärung der Vereinten Nationen war ein politischer Kompromiss und tritt rigoros für die Verleihung aller möglichen Rechte ein. Die Verfechter der Freiheitsrechte finden daher, dass diese Dokumente einige recht fadenscheinige Rechte begründen, die nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben und mit ihr auch nicht vereinbar sind. Doch wir sollten nicht vergessen, dass dieser politische Kompromiss tatsächlich von nahezu allen Regierungen akzeptiert wurde, die dann prima facie in ihre Institutionen vertragliche Verpflichtungen aufnahmen, die sowohl Freiheits- als auch soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte verleihen.

Menschliche Rechte und menschliche Bedürfnisse

Für die Armen ist es von entscheidender Bedeutung, welche Interpretation der Rechte als Leitlinie für politisches Entscheiden und Handeln akzeptiert wird. Wenn die Menschenrechte durchweg Freiheitsrechte wären, dann würde den Armen und Hungernden Gerechtigkeit widerfahren, wenn man eine Laissezfaire-Politik betreibt: In diesem Fall würden Freiheiten nicht eingeschränkt und der Gerechtigkeit wäre gedient. Diese Position kann sehr harte Konsequenzen haben, geht sie doch davon aus, dass die ökonomischen Auswirkungen von individuellem oder unternehmerischem Handeln, falls keine Freiheitsrechte verletzt werden, gar nicht ungerecht sein können, selbst wenn dieses Handeln die Wirtschaft zugrunde richtet, von der viele Menschen abhängen und damit auch viele Leben, und zudem keinerlei Netz aus sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechten bereitstellt. Härten, die sich einstellen, weil Zinssätze und Rohstoffpreise schwanken, wären nicht ungerecht, wenn keinerlei Freiheiten eingeschränkt worden sind. Wenn aber die Menschenrechte bestimmte soziale und ökonomische Rechte einschließen, zu denen auch das Recht auf soziale Fürsorge gehört, dann fordert die Gerechtigkeit von uns, dass wir uns dieser Bedürfnisse annehmen. Zum Beispiel: Wenn es ein Recht auf Nahrung oder ein Existenzminimum gibt, dann wäre es ungerecht, diese Bedürfnisse nicht zu erfüllen und die wirtschaftlichen Aktivitäten nicht zu regulieren, wenn diese die Erfüllung dieser Bedürfnisse verhindern. Doch jeder Anspruch auf soziale oder „Wohlfahrts“-Rechte bleibt rein rhetorisch, wenn er sich nicht an einen Gegenpart richtet, dessen Pflichten gerechtfertigt sind und diese Pflichten auf Menschen bzw. Institutionen verteilt werden, die sie auch erfüllen können. Wo es aber um die realen Anforderungen der Rechte, für die sie eintreten, geht, reagieren viele Parteigänger der Menschenrechte eher ausweichend. Es ist bedeutsam und keineswegs belanglos, dass es keine Menschenpflichtsbewegung gibt.

Rechte, Freiheiten und Autonomie

Diese Auseinandersetzungen können nicht geklärt werden, ohne zu zeigen, welche Rechte es tatsächlich gibt. Die Pioniere des 18. Jahrhunderts gingen ja häufig davon aus, dass bestimmte Rechte sich von selbst verstehen. Dieser Anspruch erscheint heute fast unverschämt und kann die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfechtern der verschiedenen Rechte nicht lösen. Ein häufig vorgebrachtes Argument, das diese Probleme lösen soll, geht davon aus, dass Menschenrechte kollektiv den höchstmöglichen Ausdruck entweder der menschlichen Freiheit oder der menschlichen Autonomie darstellen. Doch selbst wenn wir es rechtfertigen könnten, dass (eine bestimmte Konzeption von) Freiheit oder Autonomie die grundlegendste aller moralischen Fragen ist, dann weisen die beiden Aspekte immer noch in vollkommen unterschiedliche Richtungen beim Thema, welche Rechte es nun tatsächlich gibt. Kein Wunder also, dass die Verfechter dieser Ansprüche sich nicht auf eine gemeinsame Liste von Rechten bzw. auf die richtige Interpretation der Menschenrechte einigen können.

Wer die Freiheit für grundlegend hält, verstanden als bloße „negative“ Nicht-Einmischung seitens anderer, erkennt nur Freiheitsrechte an. Die Idee von teilbaren Freiheiten würde sofort in sich zusammenfallen, sobald wir Rechte auf Hilfen oder Dienstleistungen in unseren Katalog mit aufnehmen, denn die Pflichten, die diese sozialen Rechte Realität werden lassen, vertragen sich nicht mit den Handlungsrechten, die die grundlegendsten Freiheitsrechte schützen sollen. Wenn wir die Pflicht haben, für alle, die es nötig haben, Nahrung zur Verfügung zu stellen, können wir nicht das unbeschränkte Recht ausüben, mit den Nahrungsmitteln, die uns gehören, zu tun, was wir wollen. Bestenfalls können bestimmte Gesellschaften ihre Freiheitsrechte nutzen, um institutionalisierte Rechte auf bestimmte Leistungen – für Bildung, Wohlfahrt, gesundheitliche Versorgung – einzuführen, wie dies ja auch die meisten wirtschaftlich entwickelten Staaten getan haben. Doch ein institutionalisiertes Recht ist kein Naturrecht oder Menschenrecht. Und die sozialen oder „Wohlfahrts“-Rechte, die in entwickelten Ländern den Institutionen übertragen wurden, haben keine Auswirkung auf Hunger oder Armut in Staaten, wo diese Rechte keinen Eingang in die Institutionen gefunden haben.

Wer hingegen annimmt, dass Autonomie (oder in manchen Versionen auch „Würde“) zentral ist und nicht die simple Nicht-Einmischung, akzeptiert bestimmte soziale Rechte auf Güter und Dienstleistungen, zum Beispiel das Recht auf ein Existenzminimum. Denn ohne angemessene Nahrung und Unterbringung geht die menschliche Autonomie zugrunde, womit auch Freiheitsrechte sinnlos wären. Doch die Verfechter des Rechts auf ein Existenzminimum haben bisher keine überzeugenden Argumente vorgelegt, wer nun die Verpflichtung übernehmen soll, für andere den Lebensunterhalt bereitzustellen. Doch diese Frage ist die allerwichtigste, wenn das „Recht auf Lebensunterhalt“ die menschlichen Bedürfnisse tatsächlich decken soll.

Rechte und Wohltätigkeit

Einige der Parteigänger der Menschenrechte gehen, vor allem, wenn sie einen libertären Ansatz verfolgen, davon aus, dass wir uns nicht weiter darum kümmern sollten, wenn Theorien von Rechten die menschlichen Bedürfnisse vernachlässigen. Wir sollten doch im Hinterkopf behalten, dass Gerechtigkeit nur ein Teil der Ethik ist, die auch weiterreichende Verpflichtungen umfasst wie die zur Barmherzigkeit und Wohltätigkeit. Die Vorstellung, dass die Bedürfnisse der Armen durch Wohltätigkeit erfüllt werden könnten, finden viele Menschen reizvoll. Im Kontext einer Theorie der Menschenrechte aber wirkt sie wenig überzeugend. Allein die Idee der Rechte untergräbt den Status der Wohltätigkeit, denn diese wird gewöhnlich nicht als Verpflichtung betrachtet, sondern als etwas, das wir tun oder lassen können, oder gar (was noch weniger plausibel ist) schlicht als „gutes Werk“. Solch eine Sicht der Hilfe für die Bedürftigen ist für die „Besitzenden“ dieser Welt natürlich sehr bequem, weil sie ihnen suggeriert, dass sie über ihre Pflichten hinausgehen und etwas wirklich Gutes tun, wenn sie anderen überhaupt helfen. Für die „Nicht-Besitzenden“ hingegen ist sie schädlich und deprimierend, weil sie vor diesem Hintergrund keinen Anspruch auf Hilfe haben, da er ihnen ja nicht als Recht zuerkannt wird. Sie können nur hoffen, dass jemand ihnen helfen wird. Und was dabei getan wird, ist gewöhnlich erschreckend unzulänglich.

Menschliche Handlungen, Rechte und Pflichten

Gerechtigkeit muss weder in den Begriffen der Menschenrechtsbewegung noch in denen der Utilitarier verstanden werden, die Gerechtigkeit nur als einen Aspekt unter vielen sehen, der zum menschlichen Glück beiträgt. Eine andere Herangehensweise wäre es, Verpflichtungen oder Pflichten, anstelle der Rechte, als grundlegend zu erachten. Dies war ein durchaus üblicher Ansatz für ethische Fragen, sowohl vor der Herausbildung der christlichen Tradition als auch danach. Rechte sind sozusagen die Emporkömmlinge in der moralischen Diskussion, die erst im 18. Jahrhundert die Bühne betraten. Dasselbe gilt auch für das individuelle Glück als Maßstab für moralisches Handeln. Beiden Ansätzen liegt ein reichlich passives Menschenbild zugrunde. Besonders deutlich wird das in der utilitaristischen Vorstellung vom Menschen als Träger von Schmerz und Vergnügen. In der Menschenrechtstheorie tritt dieses passive Bild von Männern und Frauen schon weniger scharf hervor. Ganz im Gegenteil, die Hinwendung zu den Rechten wird mitunter verteidigt durch Verweis auf die aktivere Rolle, die die Ohnmächtigen hier einnehmen, können sie sich selbst doch als Träger von Ansprüchen sehen, die ihnen vorenthalten werden, statt sich im traditionell-feudalen Rahmen als bescheidene Bittsteller erleben zu müssen.

Es ist schon richtig, dass die Menschenrechtsbewegung ein aktiveres Menschenbild vertritt, als Utilitaristen oder Wohlfahrtstheoretiker dies tun. Aber sie sieht sie eben immer noch nicht vollständig als Akteure an. Denn wer einen Anspruch erhebt, will ja andere dazu bringen, etwas zu tun. Wenn wir unsere Freiheitsrechte einfordern, verlangen wir als Erstes, dass andere etwas tun, um uns den Raum und die Möglichkeiten zu geben, innerhalb derer wir dann handeln können oder auch nicht. Fordern wir unsere sozialen Rechte ein, dann müssen wir uns überhaupt nicht als Handelnde sehen, denn es sind ja andere, denen die korrespondierende Pflicht obliegt, etwas zu tun. Sehen wir aber im Gegensatz Pflichten als grundlegend an, dann wenden wir uns an jene, die den Wandel schaffen oder verweigern können – eben jenes Publikum, das die Rechte-Verfechter nur indirekt ansprechen.

Die französische Philosophin Simone Weil, die ihre Werke während des 2. Weltkriegs verfasst hat, schreibt in Die Einwurzelung:

Der Begriff der Verpflichtung hat den Vorrang vor dem des Rechtes, der ihm untergeordnet und von ihm abhängig ist. Ein Recht ist nicht wirksam durch sich selbst, sondern einzig durch die Verpflichtung, der es entspricht; die tatsächliche Erfüllung eines Rechtes geschieht nicht durch den, der es besitzt, sondern durch die anderen, die ihm gegenüber eine Pflichtleistung ihrerseits anerkennen.26

Wir wissen nicht, worauf ein Recht hinausläuft, bevor wir nicht wissen, wer die Verpflichtung hat, was für wen unter welchen Umständen zu tun. Wenn wir versuchen, in puncto Rechte Klartext zu reden, müssen wir über Verpflichtungen sprechen. Die grundlegende Schwierigkeit mit der Rhetorik der Rechte ist, dass sie nur einen Teil – den ohnmächtigeren Teil – des relevanten Publikums anspricht. Diese Rhetorik mag Resultate bringen, wo die Armen nicht völlig machtlos sind. Wo sie es aber sind, bringt die Einforderung von Rechten herzlich wenig. Wo die Armen machtlos sind, müssen die Mächtigen überzeugt werden, dass sie Verpflichtungen haben – ob die Menschen die Erfüllung dieser Pflichten nun als Recht einfordern oder nicht. Eine Ethiktheorie, die sich auf das Handeln konzentriert, sollte daher eher Verpflichtungen als Rechte rechtfertigen.

Die Pflichten der Gerechtigkeit

Eine Theorie der Pflichten kann bei Überlegungen zum Welthunger nur dann Sinnvolles beitragen, wenn es möglich ist zu zeigen, welche Pflichten Menschen haben. Die Mühe, dies ohne Rückgriff auf theologische Grundlagen zu tun, hat im 18. Jahrhundert Immanuel Kant auf sich genommen. Kants Arbeit gilt manchen als Menschenrechtstheorie. Das mag daran liegen, dass er seine Argumente auf eine Konstruktion gründet, die analog bei der Einschätzung der Menschenrechte als Ausdruck maximaler menschlicher Freiheit oder Autonomie Anwendung fand. Denn er fragt danach, welche Handlungsmaxime von allen Akteuren geteilt werden kann. Die grundlegenden Handlungsmaximen müssen teilbar sein. Es geht nicht an, dass Prinzipien nur für einige Privilegierte da sind. Kants Methode, die Prinzipien der Pflichten festzulegen, lässt sich nicht auf die oberflächlichen Details des Handelns anwenden: Wir können nicht das Getreide verzehren, das jemand anderer isst, oder alle unter demselben Dach leben. Aber wir können versuchen, darauf zu achten, dass die grundlegendsten Maximen unseres Lebens und unserer Institutionen von allen geteilt werden können, und dann ausarbeiten, was diese Maximen für jeweils einzelne Situationen bedeuten.

Das Kantische Prinzip liefert einige interessante Schlussfolgerungen im Hinblick auf menschliche Verpflichtungen. So gehört zu den Pflichten der Gerechtigkeit, die dieses Prinzip fordert, zum Beispiel die Freiheit von Zwang. Denn ein grundlegendes Prinzip des Zwanges kann nicht von allen geteilt werden, da jene, die gezwungen werden, letztlich am Handeln gehindert werden und daher dieses Prinzip des Handelns nicht teilen können. Zwang, so könnten wir mit Kant sagen, ist nicht universalisierbar. Doch dieses Argument allein sagt uns noch nicht, was die Freiheit von Zwang in bestimmten Situationen erfordert. Offensichtlich schließt es viele Dinge aus, die auch die Beachtung der Freiheitsrechte ausschließt. So schließt das Prinzip der Freiheit von Zwang aus, dass wir andere töten, verletzen, angreifen und bedrohen. Dieses Spektrum von Pflichten, die sich aus dem Prinzip der Freiheit von Zwang ergeben, sind für die Wohlhabenden genauso bedeutsam wie für die Hungernden. Andere Aspekte dieses Prinzips sind hingegen hauptsächlich für die Hungernden von Belang. Wer also auf ein solches Prinzip abzielt, muss sich klar machen, dass es immer vergleichsweise einfach ist, jene zu zwingen, die schwach oder verletzlich sind, und zwar auch durch Aktivitäten, die für die wohlhabenderen oder mächtigeren Menschen keinerlei Zwang bedeuten würden.

Wollen wir Zwang vermeiden, dann geht es dabei nicht um eine kurze Liste von Einmischungen in anderer Leute Tun, wie der Rechte-Ansatz uns dies nahelegt. Zwang zu vermeiden heißt sicherzustellen, dass wir in unserem Umgang mit anderen diesen den Raum lassen, die angebotenen Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen oder auch nicht. Dies zeigt auch, warum die Betonung der Pflicht, keinen Zwang auszuüben, so aussagekräftig ist, wo es um unseren Umgang mit den Armen und Schwachen geht: Sie sind nun einmal leichter zu etwas zu zwingen. Wir können ihnen mit größter Leichtigkeit „Angebote machen, die sie nicht ablehnen können“.27 Chancen, die unter Gleichgestellten durchaus echte Angebote darstellen können, die diese annehmen oder zurückweisen können, sind für die Bedürftigen und Schwachen bedrohlich oder eben nicht abweisbar. Wer verwundbar ist, kann durch ganz normale wirtschaftliche oder gesetzliche Maßnahmen Schaden erfahren: durch Geschäftsabschlüsse, die gefährliche industrielle Prozesse im Lebensraum der Armen installiert; durch massive politische Zugeständnisse, die für Investitionen oder angebliche Entwicklungshilfe gefordert werden; durch brutale wirtschaftliche Auflagen für „Entwicklungshilfe“ wie zum Beispiel unnötige Importe von der „Geber“-Nation.

Arrangements dieser Art üben Zwang aus, selbst wenn sie nach außen hin den Regeln wirtschaftlichen und gesetzlichen Handelns gehorchen. Diese Regeln wurden für Parteien gemacht, die in etwa über dieselbe Machtfülle verfügen. Doch genügen sie unter Umständen nicht, um die Machtlosen zu schützen. Daher müssen sowohl Individuen als auch Institutionen wie Unternehmen und Regierungen (im Norden wie im Süden), aber auch Hilfsorganisationen hohe Standards erfüllen, wenn sie den Schwachen nicht durch ganz normale gesetzliche, diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen schaden wollen. Wirtschaftliche oder materielle Gerechtigkeit kann nicht erzielt werden, ohne darauf zu achten, dass institutionalisierte und individuelle Formen des Zwangs vermieden werden.

Eine zweite grundlegende Pflicht der Gerechtigkeit ist die, auf Täuschung zu verzichten. Auch ein Prinzip der Täuschung wäre nicht universalisierbar, weil die Opfer eines Betrugs – wie die Opfer von Zwang – letztlich daran gehindert werden, das Handlungsprinzip des Täters zu teilen, das ihnen ja verborgen bleibt. Da die Pflicht zur Freiheit von Täuschung jedoch für alles öffentliche und politische Leben von Belang ist und nicht nur für die Armen, die Hungernden und die Schwachen gilt (auch wenn sie am leichtesten zu täuschen sind), werde ich mich mit diesem Prinzip hier nicht weiter beschäftigen.

Pflichten: Nothilfe, Entwicklung und Respekt

In einem Rahmen, in dem Rechte als grundlegend gelten, werden all unsere moralischen Pflichten unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ subsumiert. Ein Pflichtenansatz vom Kantischen Typ hingegen kann auch Verpflichtungen rechtfertigen, die keine Gerechtigkeitspflichten sind und deren Erfüllung nicht als Recht eingefordert werden kann. Manche Arten von Handlungen können nicht für alle anderen vollzogen werden, daher können sie keine universelle Pflicht sein oder entsprechende Rechte begründen. Und doch sind sie nicht von einer bestimmten Beziehung abhängig, sodass sie auch nicht zum Gegenstand einer speziellen, institutionellen Pflicht werden können. Nichtsdestotrotz können sie eine Pflicht darstellen. Eine Theorie der Pflichten ermöglicht – anders als eine Theorie der Rechte – auch „unvollkommene“ Verpflichtungen, die sich nicht bestimmten Trägern zuordnen lassen und daher nicht eingefordert werden können.

Dies eröffnet uns einen weiteren Weg, wie wir Bedürfnisse sinnvoll in eine Theorie menschlicher Pflichten einbinden können. Wir wissen, dass Bedürftige schwach sind und sich nicht selbst helfen können. Daraus folgt: Selbst wenn sie nicht gezwungen werden, sind sie unter Umständen unfähig zu handeln und damit nicht in der Lage, jetzt und in der Zukunft autonom zu agieren aufgrund von Prinzipien, die sich universell teilen lassen. Ist unsere grundlegende Verpflichtung aber die, andere als Akteure zu behandeln, die dieselben Prinzipien verfolgen können, die unser Handeln leiten, dann müssen wir uns zu Strategien und Maßnahmen verpflichtet fühlen, die ihnen jetzt und in Zukunft erlauben, selbstbestimmte Akteure ihres Lebens zu bleiben. Handeln wir anders, dann sehen wir andere nicht als selbstbestimmte Elemente, wie wir selbst es sind. Doch niemand, auch kein Akteur, kann alles tun, um die Autonomie der anderen zu garantieren. Daher kann die Pflicht zur Hilfe niemals die Verpflichtung sein, alle Bedürfnisse zu erfüllen. Sie kann in der Pflicht bestehen, unser Leben nicht auf Prinzipien zu gründen, die anderen und ihren Bedürfnissen schaden bzw. sie außer Acht lassen oder welche Dinge auch immer, die ihnen helfen, ihre Akteurschaft aufrechtzuerhalten. In manchen Situationen erfordern solche „unvollkommenen“ Pflichten ganz spezifische und anstrengende Bemühungen. Die Tatsache, dass wir nicht allen helfen können, zeigt nur, dass wir nicht die Pflicht haben, jedem zu helfen, und nicht, dass wir keine Verpflichtung haben, niemandem zu helfen.

Wenn wir die Anforderung, die Autonomie der anderen aufrechtzuerhalten, nicht gleichgültig übersehen oder vernachlässigen, werden wir, meiner Ansicht nach, in unserem Umgang mit den Armen und Schwachen eine Verpflichtung eingehen, die sich nicht nur auf Gerechtigkeit bezieht, sondern auf verschiedene weitere Prinzipien. Erstens werden wir uns verpflichtet sehen zu materieller Hilfe, die sie in die Lage versetzt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir helfen den Menschen damit, die Armutsschwelle zu überwinden, unterhalb derer autonomes Handeln nicht oder nur in sehr geringem Maße möglich ist. Da wir, wenn Armut und Abhängigkeit sich nicht endlos fortschreiben sollen, dauerhafte und systematische Hilfe brauchen, umfasst dies auch die Verpflichtung zu sinnvollen Entwicklungshilfestrategien und Nahrungsmittelhilfslieferungen.

Hilfe, auf die kein Verlass ist, kann nicht für Autonomie sorgen. Und selbstverständlich führt auch der Verzicht auf Hilfslieferungen in Notfällen nicht zu mehr Autonomie. Da menschliche Bedürfnisse stets wiederkehrende sind, reicht die bloße Nahrungsmittelhilfe nicht aus. Essen verzehrt man, dann ist es weg. Hilfe kann die Handlungsfähigkeit der Armen nur dann sichern, wenn sie soziale und ökonomische Institutionen schafft, die die menschlichen Bedürfnisse langfristig erfüllen. Das bedeutet, dass Hilfe für die Armen und Schwachen auf nachhaltige Produktion setzen muss, damit auch nach dem Abflauen eines Konsumzyklus noch etwas in der Pipeline ist. Soll Entwicklungshilfe wirklich relevant sein, kann sie sich nicht nur auf ökonomische Eingriffe stützen, sondern muss dafür sorgen, dass durch Bildung und institutionellen Wandel menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden, die den Armen und Schwachen helfen, die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen.

Da die Grundlage für diese Pflichten der Anspruch ist, dass Handlungsmaximen von allen gleichermaßen geteilt werden können, darf die Entwicklungshilfe die Fähigkeiten anderer zum selbstbestimmten Handeln nicht einschränken oder beschädigen. Sie darf nicht daran scheitern, dass den Hilfsbedürftigen nicht der nötige Respekt erwiesen wird. Die Helfer müssen die Wünsche und Ansichten der Hilfsbedürftigen erkunden und achten. Die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben wird nicht gefördert, wenn die Armen die „Gebenden“ als neue Herren erleben. Die Autonomie der Menschen stellt sich nicht ein, wenn man ihnen das Gefühl gibt, Opfer guter Werke zu sein.