Read the book: «Gerechtigkeit über Grenzen», page 3

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Erste Klasse versus Zwischendeck auf dem Rettungsboot Erde

Stellen wir uns nun vor, auf einem Rettungsboot gäbe es ein besonderes Deck für die Erste-Klasse-Passagiere, und Wasser sowie Proviant für alle Passagiere wären auf diesem Deck untergebracht. Damit hätten wir ein klares, wenn auch grobes Modell der aktuellen Situation auf dem Rettungsboot Erde. Denn selbst wenn wir annehmen, dass genug da ist, um das Überleben aller zu sichern, so haben doch einige Passagiere die Kontrolle über die Mittel zum Überleben und so indirekt über das Überleben anderer. Manchmal führt das Ausüben dieser Kontrolle, selbst auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot, dazu, dass einige der Passagiere, denen es an dieser Kontrolle fehlt, Hunger leiden oder sterben. Auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot müssen in jedem Fall einige Insassen sterben, und wie wir bereits gesehen haben, sind einige dieser Fälle als Tötung zu betrachten, wenn auch aus unter Umständen gerechtfertigten Gründen. Ähnliche Situationen können und werden sich auch auf dem Rettungsboot einstellen, soweit das nicht schon der Fall ist. Diesen Fragen sollten wir uns zuwenden und dabei sowohl die gegenwärtige Situation untersuchen, in der die Mittel für das Überleben aller angeblich ausreichen, wie auch die künftige Lage, für die man global mit einem nicht mehr ausreichend ausgestatteten Rettungsboot rechnet.

Situationen ohne Knappheit

Auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot ist jede Verteilung von Nahrung und Wasser, die einen Todesfall herbeiführt, als Tötung zu betrachten und nicht nur als ein Fall von „Sterbenlassen“. Denn die Handlungen jener, die die Nahrungsmittel- und Wasservorräte verteilen, sind Ursache eines Todes, der nicht eingetreten wäre, hätten diese Akteure entweder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder ganz anders gehandelt. Im Gegensatz dazu hätte man einen Menschen, den man im Wasser zurückgelassen hat, damit er ertrinkt, nur sterben lassen, denn sein Tod wäre (wenn alle übrigen Umstände gleich sind) ohne ursächliche Handlung dieser Akteure eingetreten, obwohl er hätte verhindert werden können, hätte man ihn aus dem Wasser gezogen.12 Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen, wie er hier konstruiert wird, hängt nicht von irgendwelchen Prämissen in Bezug auf die anderen Rechte der Getöteten ab. Der Tod des geprellten Passagiers von Beispiel 1B hat seine Eigentumsrechte ebenso verletzt wie sein Recht, nicht getötet zu werden, aber der Grund dafür, dass sein Tod als Tötung einzustufen ist, ist darin zu suchen, inwiefern die Handlungen der anderen Personen ihn verursacht haben. Wenn wir davon ausgehen, dass ein blinder Passagier auf einem Rettungsboot keinen Anspruch auf Nahrung und Wasser hat und ihm beides verweigert wird, dann werden seine Eigentumsrechte dadurch nicht verletzt. Trotzdem wird er, wenn man obige Definitionen anwendet, getötet und nicht einfach nur sterben gelassen. Denn wenn die anderen Passagiere keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder anders gehandelt hätten, wäre sein Tod nicht eingetreten. Ihre Handlungen – in diesem Fall: Nahrung nur an jene zu verteilen, die ein Anrecht darauf haben – haben den Tod des blinden Passagiers verursacht. Dieses Tun wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Eigentumsrechte in manchen Fällen das Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen würden.

Nun würde so mancher natürlich vorbringen, dass die Situation auf dem Rettungsboot Erde nicht analog zu der auf normalen Rettungsbooten ist, da es ja nicht selbstverständlich ist, dass wir alle einen Anspruch auf die Ressourcen der Erde haben, geschweige denn einen gleichwertigen Anspruch. Vielleicht sind einige von uns ja blinde Passagiere. Ich werde hier nicht den Ansatz verfolgen, dass wir alle einen Anspruch auf die planetaren Ressourcen haben, obwohl ich denke, es wäre plausibel, das anzunehmen. Ich gehe vielmehr davon aus, dass, selbst wenn Menschen ungleiche Eigentumsrechte besitzen und manche Menschen gar nichts haben, daraus nicht hervorgeht, dass B’s Ausübung seiner Eigentumsrechte A’s Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen kann.13 Wo unser Tun zum Tod eines anderen Menschen führt, der nicht eingetreten wäre, hätten wir anders gehandelt oder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt, kann die Berufung auf unsere Eigentumsrechte nicht genügen, um uns vom Vorwurf der Tötung freizusprechen.

Es ist keineswegs weit hergeholt anzunehmen, dass gegenwärtige ökonomische Aktivitäten verschiedener Gruppierungen zum Tod anderer Menschen führen. Ich werde einige Beispiele für Aktivitäten anführen, die in diese Kategorie fallen, aber damit ist nur die Spitze des Eisbergs genannt. Keines dieser Beispiele hängt davon ab, dass wir die Existenz ungleicher Eigentumsrechte infrage stellen. Sie setzen nur voraus, dass diese Rechte das Recht, nicht getötet zu werden, nicht aufheben. Bei keinem der Beispiele ist es plausibel, die Tötung als Akt der Selbstverteidigung anzusehen.

Den ersten Fall könnte man mit Auslandsinvestitions-Fall überschreiben. Eine Gruppe von Investoren gründet ein Unternehmen, das im Ausland investiert – zum Beispiel in eine Plantage oder eine Mine. Das Unternehmen wird so geführt, dass ein Großteil der Gewinne ins Ursprungsland rückgeführt wird. Die Löhne für die Arbeiter im Ausland aber sind so gering, dass ihre Überlebenschancen sinken. Ihre Lebenserwartung ist also niedriger, als sie es wäre, hätte das Unternehmen nicht in diesem Land investiert. In solch einem Fall werden Investoren und Management nicht allein tätig, sind nicht unmittelbar für die Todesfälle verantwortlich und wissen auch nicht im Voraus, wer sterben wird. Vermutlich beabsichtigen sie die Tötung noch nicht einmal. Aber durch ihre Beteiligung an der Volkswirtschaft eines unterentwickelten Landes können sie nicht behaupten, dass sie ja „nichts tun“, wie es ein Unternehmen könnte, das dort nicht investiert. Ganz im Gegenteil, sie bestimmen ja über die Strategien, die den Lebensstandard der Arbeiter festlegen und damit auch deren Überlebenschancen. Wenn Menschen sterben, weil ein die lokale Wirtschaft beherrschendes Unternehmen oder eine Unternehmensgruppe entweder die Menschen zwingt, zu ihren Konditionen zu arbeiten, oder deren Chancen auf einen anderen Arbeitsplatz unterminiert, weil es die traditionellen ökonomischen Strukturen zerstört und dadurch einen niedrigen Lebensstandard verursacht, und wenn dieses Unternehmen oder diese Unternehmensgruppe auch höhere Löhne zahlen oder der Gegend überhaupt fernbleiben könnte, dann verletzen die Menschen, die derartige Strategien festlegen, das Recht anderer Menschen, nicht getötet zu werden. Auslandsinvestitionen hingegen, die den Lebensstandard heben, selbst wenn er dann immer noch auf einem katastrophal niedrigen Niveau verharrt, können nicht für Todesfälle verantwortlich gemacht werden, weil sie ja keine vermehrten Todesfälle verursachen, außer unter bestimmten Umständen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Selbst wenn ein Unternehmen in einem unterentwickelten Land für höhere Löhne und Sozialleistungen sorgt und so die Lebenserwartung der Beschäftigten erhöht, dann kommt es häufig nur dann in die Gewinnzone, weil ihm Steuernachlässe gewährt werden. In diesem Fall wird das Unternehmen subventioniert durch das allgemeine Steueraufkommen eines Entwicklungslandes.14 Das Unternehmen trägt nichts zur Infrastruktur des Landes bei, zum Bau von Straßen, Häfen und Flughafen, obwohl es davon profitiert. Auf diese Weise haben sich in vielen unterentwickelten Volkswirtschaften durchaus entwickelte Enklaven gebildet, die ihren Standard auf Kosten der ärmeren Mehrheit erlangen. In solchen Fällen wirken die Strategien von Unternehmen und Regierung so zusammen, dass auf Kosten des Niedriglohnsektors ein Hochlohnsektor entsteht. In der Folge sterben vielleicht einige Menschen aus dem Niedriglohnsektor, die ihr Leben andernfalls nicht verloren hätten. Diese Menschen, wer auch immer sie sein mögen, werden getötet. Es geht also nicht um einen Fall von Sterbenlassen. Manche dieser Tötungen mögen sich rechtfertigen lassen – zum Beispiel, wenn ihre Zahl mehr als aufgewogen wird durch Leben, die der entwickelte Sektor zu retten vermag –, aber es handelt sich nichtsdestotrotz um Tötungen. Schließlich hätten die Opfer überleben können, wenn sie nicht durch die Transferzahlungen an den entwickelten Sektor ihre Lebensgrundlage verloren hätten. Allerdings gibt es in diesem Fall gewisse Unterschiede, was Management und Investoren angeht. Selbst wenn das Management sich für eine bestimmte Lohnhöhe und damit für entsprechende Überlebenschancen entscheidet, wissen die Investoren davon gewöhnlich nichts. Doch selbst in diesem Fall sind die Investoren für die Unternehmenspolitik verantwortlich. Sie üben diese Kontrolle meist nicht aus, doch das Gesetz gesteht sie ihnen zu. Sie entscheiden sich, ihr Geld in ein Unternehmen zu stecken, das Auslandsinvestitionen tätigt. Sie profitieren davon. Sie können – was andere nicht können – die Unternehmenspolitik grundlegend beeinflussen. Sicherlich macht sie das rechtlich gesehen nicht zu Mördern – sie haben ja nicht die Absicht, andere Menschen zu töten. Auch das Management des Unternehmens plant ja nicht, dass seine Politik zu Todesfällen führt. Doch selbst in diesem Fall, in dem Investoren und Management zusammenarbeiten und es zu solchen Ergebnissen kommt, verletzen die Akteure das Recht einiger Personen, nicht getötet zu werden. Dabei können sie diese Tötungen nicht als Selbstverteidigung oder unvermeidlich rechtfertigen.

Den zweiten Fall, bei dem selbst bei ausreichenden Lebensbedingungen die ökonomischen Aktivitäten bestimmter Leute zum Tod anderer Menschen führen, könnte man als Rohstoffpreis-Fall bezeichnen. Wenig entwickelte Länder sind häufig massiv abhängig vom Preisniveau einiger weniger Rohstoffe. Wenn also der Weltmarktpreis für Kaffee oder Zucker oder Kakao fällt, kann das für ganze Regionen den Ruin bedeuten, was natürlich auch zu vermehrten Todesfällen führt. Und das Abstürzen der Preise ist ja keineswegs in allen Fällen nicht von Menschen verursacht. Wo der Preisverfall auf das Handeln von Investoren, Rohstoff-Brokern und Regierungsbehörden zurückgeht, entscheiden sich diese Leute bzw. Institutionen für eine Politik, die einige Menschen töten wird. Auch hier kann man die Verantwortung nicht einem einzelnen Menschen zuschreiben. Sie ist nicht unmittelbar, denn der für die Tode Verantwortliche kann auch nicht vorhersehen, wer sterben wird. Vermutlich hat er nicht einmal die Absicht zu töten.

Da die meisten Länder heute wirtschaftlich hochgradig voneinander abhängig sind, können Todesfälle selbst durch den Anstieg von Preisen verursacht sein. So gehen Agrarwissenschaftler davon aus, dass die Hungersnöte in der afrikanischen Sahelzone und auf dem indischen Subkontinent Mitte der 1970er-Jahre auf klimatische Veränderungen und den Preisanstieg für Öl zurückzuführen sind, der wiederum Düngemittel, Weizen und andere Getreidesorten verteuerte.

Auch der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel führt regelmäßig zu höheren Todesraten bei den Menschen, die weltweit die unterste Einkommensgruppe bilden. Sie verfügen nicht über genug Einkommen, um ihre Lebenshaltungskosten entsprechend anzupassen. Sie leben ja ohnehin schon nahe dem Existenzminimum.15

Natürlich werden nicht alle Menschen, die sterben, getötet. Menschen, die aufgrund der Dürre sterben, hat man sterben lassen. Und einige der Menschen, die sterben, weil ihr Acker zu wenig abwirft, da sie zu wenig Düngemittel hatten, sterben ebenfalls aus Gründen, die weit jenseits des Einflussbereiches von Menschen liegen. Aber wo der Anstieg der Ölpreise auf arabische Diplomatie zurückgeht bzw. auf Managemententscheidungen der Ölfirmen und nicht nur ein unerwarteter Gewinn ist, dort handelt es sich bei den Todesfällen um Tötungsdelikte. Einige dieser Todesfälle mögen sich vielleicht sogar rechtfertigen lassen (wenn sie zum Beispiel mehr als aufgewogen werden durch die Anzahl geretteter Leben in der industrialisierten arabischen Welt), Tötungsdelikte sind es trotzdem.

Selbst wo die Erde genügend Mittel zum Überleben hervorbringt, können Menschen getötet werden, weil andere Menschen Verteilungsentscheidungen treffen. Die Kausalketten, die zu dieser ungleichmäßigen Verteilung und damit zu den Todesfällen führen, sind mitunter unglaublich komplex. Wo sie mit einiger Klarheit auszumachen sind, sollten wir, wenn wir das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen und nicht nur versuchen, andere nicht zu töten, sondern auch Dritte an solchen Handlungen zu hindern, für politische Strategien eintreten, die diese Todesfälle verhindern. Zum Beispiel – und das sind nur einige Beispiele – könnten wir für bestimmte Hilfsprogramme eintreten, für andere nicht; wir könnten uns gegen bestimmte Auslandsinvestitionen zur Wehr setzen; wir sollten gegen Spekulation mit Grundnahrungsmitteln vorgehen und preisstützende Maßnahmen für bestimmte Rohstoffe festlegen (von denen von Armut betroffene Länder besonders abhängig sind).

Sind wir jedoch der Ansicht, dass wir nicht verpflichtet sind, die Rechte anderer durchzusetzen, dann lässt sich daraus keine allgemeine Schlussfolgerung ableiten, die uns verpflichten würde, eine bestimmte Wirtschaftspolitik zu unterstützen, die ungerechtfertigtes Töten verhindert. Vielleicht aber müssen wir trotzdem davon ausgehen, dass wir aktiv werden sollten, entweder, weil unser eigenes Leben von den wirtschaftlichen Aktivitäten anderer bedroht ist oder weil unser ökonomisches Handeln das Leben anderer gefährdet. Nur wenn wir sicher wüssten, dass wir nicht teilhaben an Handlungen, die ungerechtfertigte Tode nach sich ziehen, dürfen wir annehmen, dass wir nicht verpflichtet sind, Maßnahmen zu unterstützen, die diese Todesfälle verhindern könnten. Die kausalen Verflechtungen in der modernen Wirtschaft sind so vielschichtig, dass nur Menschen, die wirtschaftlich völlig isoliert sind und autark leben, wissen können, dass sie nicht Teil eines solchen Systems sind. Menschen, die glauben, dass sie in solche todbringenden Aktivitäten verstrickt sind, haben einige derselben Pflichten, wie sie jenen eigen sind, die glauben, es sei ihre Pflicht, das Recht anderer auf Nicht-Getötetwerden durchzusetzen.

Situationen der Knappheit

Der letzte Abschnitt zeigte, dass, selbst wenn ausreichend Mittel vorhanden sind, Menschen manchmal dadurch getötet werden, dass andere die Mittel zum Überleben ungleichmäßig verteilen. Auf lange Sicht aber sind jene Situationen wichtiger, die sich wirklich mit dem Rettungsboot-Szenario vergleichen lassen: Situationen, in denen die Ressourcen knapp werden. Wir stehen vor Umständen, in denen nicht jeder Mensch, der geboren wird, auch mit einer normalen Lebenserwartung rechnen kann. Und wir können davon ausgehen, dass sich diese Spanne verkürzen wird. Wann solch eine ernsthafte Verknappung eintreten könnte, ist Gegenstand von Debatten, aber selbst die optimistischen Propheten sehen sie nur wenige Jahrzehnte entfernt.16 Wie schnell diese Situation eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel der technologischen Innovation, dem menschlichen Erfindergeist, vor allem im Bereich Landwirtschaft und Bevölkerungskontrolle, und dem Erfolg von Programmen zur Geburtenkontrolle.

Solche Vorhersagen scheinen uns von der Mittäterschaft am Hungertod zu entlasten. Wenn der Hunger unvermeidlich ist, dann müssen wir uns vielleicht entscheiden, wer gerettet werden soll, doch der Tod jener, die wir weder retten werden noch retten können, stellt keine Tötung dar, für die wir Verantwortung tragen. Diese Todesfälle wären auch eingetreten, wenn wir keinerlei ursächliche Einflüsse ausgeübt hätten. Die Entscheidungen, die hier zu treffen sind, mögen entsetzlich schwierig sein, doch wir können uns zumindest damit trösten, dass wir den Hunger weder verursacht noch dazu beigetragen haben.

Doch diese tröstliche Sicht auf den Hunger vernachlässigt die Tatsache, dass solche Vorhersagen von bestimmten Annahmen darüber abhängen, was die Menschen in der Zeit vor dem Auftreten einer Hungersnot tun. Der Hunger nämlich ist nur dann unvermeidlich, falls die Menschen ihre Fortpflanzung nicht kontrollieren, ihr Konsumverhalten nicht ändern und Umweltverschmutzung und die daraus folgende ökologische Katastrophe nicht verhindern. Es ist die Politik der Gegenwart, die die Hungersnöte verursacht, verzögert oder ganz vermeidet. Wenn es also zu einer Hungersnot kommt, sind die damit zusammenhängenden Todesfälle Konsequenz von früher getroffenen Entscheidungen. Nur wenn wir keinen Anteil an Systemen oder Aktivitäten haben, die zu Hungersnöten führen, können wir davon ausgehen, dass wir entscheiden, wen wir retten, und nicht, wen wir töten, sobald sich eine Hungersnot eintritt. In einer wirtschaftlich eng vernetzten Welt gibt es nur wenige Menschen, die Hunger als Naturkatastrophe verstehen dürfen, vor der sie gnädigerweise einige Menschen bewahren, für deren Eintreten sie jedoch keinerlei Verantwortung tragen. Wir können nicht stoisch bestimmte Hungertode als unvermeidlich betrachten, wenn wir zum Eintreten und zum Ausmaß der Hungersnot beigetragen haben.

Tragen wir Verantwortung für das Auftreten des Hungers, dann ist jede Entscheidung über die Verteilung des Hungersnot-Risikos eine Entscheidung darüber, wen wir töten. Selbst die Entscheidung, die Selektion der Natur zu überlassen, ist als Strategie in der Hungersnot eine Entscheidung darüber, wen wir töten – denn mit einer anderen Strategie hätten vielleicht andere Menschen überlebt, mit einer anderen Strategie vor dem Auftreten des Hungers hätte es vielleicht gar keine Hungersnot gegeben oder sie wäre weniger gravierend ausgefallen. Die Entscheidung für eine bestimmte Politik während der Hungersnot mag sich rechtfertigen lassen durch Verweis darauf, dass sich ohnehin nicht mehr viel machen lässt, weil die Situation ist, wie sie eben ist, und dass es nun mal Tote geben wird. So ähnlich wie auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot. Aber selbst in diesem Fall ist die Entscheidung für eine bestimmte Verfahrensweise während der Hungersnot keine Entscheidung für die Rettung bestimmter, aber nicht aller Personen vor einer unvermeidlichen Katastrophe.

Natürlich können Einzelpersonen keine individuellen Strategien gegen den Hunger entwickeln. Maßnahmen in Zeiten des Hungers und davor werden von Regierungen und möglicherweise auch von Nichtregierungs-Organisationen individuell und kollektiv entschieden. Es kann sich sogar als politisch unmöglich herausstellen, weltweit eine kohärente Strategie für Zeiten des Hungers und davor festzulegen. Wenn dem so ist, müssen wir uns für kleinteilige und bruchstückhafte Lösungen entscheiden. Aber jeder Mensch, der in der Position ist, solche Maßnahmen, sei es nun global oder lokal, zu unterstützen oder abzulehnen, muss entscheiden, welche Maßnahme er für gut befindet und welche nicht. Selbst bei Einzelpersonen kommen Tatenlosigkeit und Gleichgültigkeit häufig Entscheidungen gleich – Entscheidungen, die Maßnahmen gegen den Hunger während und vor der Hungersnot zu unterstützen oder den Status quo fortzuschreiben, ob dies nun durch aktive Teilhabe oder passives Geschehenlassen passiert. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den Bürger, solche politischen Maßnahmen zu beeinflussen. Zum Beispiel, indem sie sich für oder gegen Entwicklungshilfe und Auslandsinvestitionen einsetzen, indem sie sich Organisationen oder Gruppierungen wie Zero Population Growth anschließen oder nicht, indem sie Technologien nutzen, die die Umwelt bewahren, und einen entsprechenden Lebensstil pflegen. Wir haben also ganz individuell jeder die Pflicht, das Töten zu verhindern. Denn selbst wenn wir

a) die Hungertoten nicht im Alleingang getötet haben,

b) die Hungertoten nicht unmittelbar getötet haben,

c) nicht wissen, welche Menschen in der Folge der von uns unterstützten Maßnahmen gegen den Hunger und zur Vorbeugung einer Hungersnot sterben werden (außer natürlich, wir vertreten eine Art Völkermord durch Hunger),

d) nicht beabsichtigen, dass jemand vor Hunger stirbt,

töten wir und lassen die anderen nicht einfach nur sterben. Denn als Resultat unseres Handelns im Einklang mit anderen werden Menschen sterben, die hätten überleben können, hätten wir anders gehandelt und nicht ursächlich Einfluss genommen.