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Oliver Stapel

Orest im deutschen Herbst

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1. Fremde

1 Widewidewitt

2 Mutter

3 Vater

4 Spaziergang

5 Evel Knievel

6 Zuhause

7 Leere

8 Etwas mehr

9 Spaziergang

10 Party

11 Nachspiel

12 Sonntag

13 Freispiel

14 Freispiel

15 Weihnachten

16 Weihnachtliche Besinnungskrise

17 Gespräche

18 Stille

19 Dumdumdumdumdumdumdumdum

20 Peepshow

21 Ausschluss

22 Straße

Teil 2. *bestimmt

23 Exodus

24 Langeweile

25 Hobel

26 Spaziergang

27 Iffi

28 Das Urteil

29 Geburtstag

30 Beim Orakel

31 Medusa

32 Bang Bang, Otto, Schraubendreher

33 Zoroaster Herzklabaster

34 Vierundvierzig Tage

35 Grabschändung

36 Der letzte Spaziergang

Teil 3. Das Tagebuch des Heinz Witt

37 Die Einträge

Teil 4. Vertreibung aus dem Para-Mief

38 Hoher Gruselfaktor

39 How does it feel to be? (Like A Rolling Stone)

Impressum

Teil 1. Fremde

1 Widewidewitt

Und manchmal, wenn ich morgens beim Rasieren meine Orangenhaut oder einige Tupfer pinkfarbener Kopfhaut zwischen den silbrigen Strähnen meiner Schläfen sehe, die Falten um die schlaffen Wangen, die herabhängenden Mundwinkel, wenn ich dieses Eindrucks griesgrämiger Rechtschaffenheit gewahr werde, manchmal auch in der Straßenbahn, als Reflektion beim Herausschauen auf graue Straßen, auf die ein langweiliger Regen herabpieselt, oder auch nur im Vorbeilaufen an hell erleuchteten Schaufenster, in denen eine Farbe oder ein Glitzern für einen Moment meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen gelingt, wenn ich so meiner selbst gewahr werde, dann überkommt mich ein Gefühl der Unwirklichkeit, denn in der Welt, in der ich lebe, sind verschiedene Dinge anders, und ich mag es nicht, wenn sich fade Trivialität einschleicht, wie sie in den Gesichtern geschrieben steht, oder vulgärer Trübsinn, den ich nicht ausblenden kann, denn der Dialekt, den ich nicht umhin kann in der Straßenbahn zu vernehmen, wenn ich mit der 12 von der Konstablerwache zum Waldfriedhof fahre, ist so penetrant Hessisch, dass es mich mitunter schaudert und ich jenen ersten Satz wieder höre, den ich ihn sagen hörte, damals, vor fast 40 Jahren, als ich noch die ersten Haare an meinem Sack zählte, dieses runzlige Beutelchen, das sich immer öfter regte und zu wirren Phantasien führte, in denen ich wildfremde Frauen beglückte, auf mir nicht immer klare Art und Weise, denn ich hatte keine Ahnung, was da passiert, nur dass ich der Held war, dass ich sie aus einem brennenden Haus trug, oder aus einer zusammen stürzenden Ruine, und dass wir uns dann näher kamen, wobei ich mir ein Gesicht vorstellte, welches ich tagsüber vielleicht in der Bäckerei gesehen hatte, in der ich ein Brötchen mit einem Schokokuss drin kaufte, oder auf dem Schulweg an einer Kreuzung, wenn ich darauf wartete, dass die Ampel grün wird, und die braune Cordjeans vor mir bemerkte, die sich herzförmig rundete und mich noch nächtelang inspirierte, solcherart waren meine Phantasien zu jener Zeit, während er ganz sicher schon Nägel mit Köpfen machte, zumindest glaubten wir das durch die Bank, und als ich im Pausenhof zum ersten Mal mit den andern um ihn rum stand, rein zufällig sozusagen, als Nachzügler, das Gespräch war schon im Schwange, ich quetschte mich zwischen Alf und Mähne, das Gespräch war auf Heinz Witt gekommen, auch Heinzelwitt genannt, oder Widewidewitt, und er, noch keine zwei Wochen unter uns, urteilte mit der Sicherheit eines ganz Alten, auf Hessisch, das in der Idylle unserer vorderpfälzischen Kleinstadt einen Flair von weiter Welt erzeugte, Marburg, das klang nach Großstadt für uns, wir wären erstaunt zu hören gewesen, dass dort kaum mehr Einwohner lebten als in unserer Stadt, aber die Linken marschierten dort in Reih’ und Glied, wurde gemunkelt, die Studentische Linke zeigte den Spießern wo’s lang geht, und wir hörten davon mit all der Ehrfurcht, wie sie nur verwöhnte Müßiggänger dem Terror des Zielgerichteten entgegen zu bringen imstande sind, und die sich hauptsächlich als Neugier zeigte, als Wunsch, gut unterhalten zu werden, und das konnte er tatsächlich, sei es mit Erzählungen oder mit Urteilen, die er apodiktisch auf Hessisch sprach, so wie er es jetzt tat, „Das ist doch en Pissä!“ – und wir lachten über diese messerscharfe Kühnheit, die das Geheimnisvolle wie ein Schnurgestrick einfach durchhaute und uns von der Last befreite, einen Mitschüler noch länger ernst zu nehmen, der uns vor allem dadurch entnervte, dass er nicht die geringsten Anstalten machte, zu uns gehören zu wollen, der nicht nur allein blieb, sondern auch noch gerne allein blieb, und ich lachte am lautesten über diesen Ausspruch, den er, ein Zigarettchen drehend, gemacht hatte, „de Simbert“, wie wir ihn nannten, oder etwas verwegenener, „de Simbad“, mit bürgerlichem Namen Bert Simm, stämmig, die langen Haare aschblond gelockt, mit platter Nase in rundem Gesicht, aus dessen Augenschlitzen zwei hellwache Augen hervorblitzten, denen nichts entging und hinter denen ein unruhiger Geist sich bereits eine Meinung gebildet hatte, wo unsereins noch nicht einmal gemerkt hatte, dass da was war, das nach einer Meinung verlangte, und ich beschloss in diesem Augenblick, ebenfalls mit dem Rauchen anzufangen, so einfach werden Entscheidungen gefällt, und noch am selben Tag kaufte ich mir ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier, drehte ein Dutzend Kippen, bis die erste einigermaßen gerade war, Mutter kam genau in diesem Moment ins Zimmer, sah die Kippen auf meinem Schreibtisch, sah mich fassungslos an, diese aufgerissenen Augen stummer Theatralik, eines Tages würde ich sie Realität schmecken lassen, die sie wie Stahl ins Gehirn treffen würde, ich drehte und rauchte ein weiteres Dutzend, bis ich den ekligen Geschmack gerade so ertragen konnte, während ich mir vorstellte, wie ich lässig in der Gruppe stand und leicht gedankenverloren den Blick ins Unendliche schweifen ließ, wie einer, der mit dem Leben im Reinen war, der die anderen nicht mehr brauchte, sich aber dennoch zu ihnen rechnen ließ, und das ich, der ich die anderen mehr als alles in der Welt brauchte, der ich mich nach der Anerkennung der anderen verzehrte, der ich alles zu tun bereit war, um respektiert zu werden, selbst von dieser Clique arroganter Schnösel, die ihren gutmütigen Eltern auch noch das letzte Geld ihres kümmerlichen Einkommens abschwätzten, nur damit der Herr Sohn eine neue Jeans kaufen konnte, mit Fußweite, wie es jetzt schick war, und wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich mir eingestanden, dass es Heinz Witt war, nach dessen Freundlichkeit mich verlangte, dass es seine Meinung war, die ich zu hören interessiert war, wohl ahnend, dass ihn meine Oberflächlichkeit abstieß, fürchtend, von ihm gewogen und für zu leicht befunden zu werden, denn er war uns ein Rätsel, konnte eine Deutscharbeit dadurch bestreiten, dass er ausschließlich Kierkegaard zitierte, passend zum Thema, wo wir noch nicht mal wußten, wer Kierkegaard war, konnte seine Schulbücher statt im Ranzen oder einem Aktenköfferchen in einer Jutetüte zur Schule bringen, und weil wir ihn nicht verstanden, weil wir seine Überlegenheit als Gefahr für unser Selbstbewußtsein ausmachten, entschied ich mich für Menschen, die ich kaum kannte, deren Lachen über den Pausenhof schallte und Sehnsüchte weckte, die augenzwinkernd mit den Mädels flirteten und ihnen freche Sachen hinterher riefen, die für ihre Knätter sparten und Kataloge verglichen, die Bert Simm nicht wirklich brauchten, ihn aber, da er nun einmal da war und sich beliebt machte, in die Gruppe aufnahmen, während ich hin und her driftete, mal ein Buch las und mich davon anrühren ließ, mal mit den Kumpels in die Flipperhalle ging und am Evel Knievel spielte, der ich selten länger als zwei Wochen mit dem monatlichen Taschengeld auskam und der ich vor allem eins sein wollte: so wie die andern.

Und manchmal, wenn ich einen Augenblick zu lange morgens beim Rasieren in den Spiegel schaue, wenn ich unversehens meiner selbst gewahr werde, unverhofft, unerwünscht, mit allen Merkmalen des Faktischen, dann steht sie da, die Frage, wie ein Schatten, was wohl gewesen wären, ob nicht alles anders gewesen wäre, wenn ich den Mut gehabt hätte, oder einfach die Bescheidenheit, mich auf seine Seite zu stellen, statt mit den anderen groß zu tun, mich aufzuführen wie ein feiges Schwein, ätzend, eine ungute Erinnerung wie eine schwärende Wunde in mir erzeugend, die ich nicht brauche, wenn ich bei einem langweiligen Pieselregen auf die Straße schaue und mich meinen Gedanken hingebe, meinen Eindrücken, die sich in mir bilden wie liebe Impressionen von einer besseren Welt, in der ich ein kleines Stück Land bearbeite, mit einer Harke und Gummistiefeln, einem Strohhut und einer erdverschmutzten Hose, wo mich Hühner und Vieh kennen und darauf warten, dass ich sie füttere oder tränke, wo Obstbäume leckere Früchte spenden und ich zeitlos an einem Haus baue, in dem ich wieder und wieder Parkettboden lege, Massivdiele, um genau zu sein, oder einen Ofen einbaue, mit der Befeuerung von außen, so dass die Innenräume nicht verrußen, und einem Heißwasserspeicher um den Heizkessel, so dass über die Wasserleitung Wärme ins ganze Haus überführt wird, und natürlich erzeuge ich meinen eigenen Strom mit einem Windkraftgenerator, nutze einen kleinen Bach, um von einem Mühlrad angetrieben mein Korn zu mahlen, und ab und zu kommen Menschen zu mir, um mich um Rat zu fragen, unliebsame Gäste, die manchmal vor meinen Augen ihr Gesicht verändern, von einem gewöhnlichen, ausdruckslosen Allerweltsgesicht zu einem hageren, schmalen Gesicht mit vollen, sinnlichen Lippen, die immer leicht geöffnet waren, was dumm ausgesehen hätte, wenn nicht die Augen den wachen Verstand verraten hätten, und die mich zu fragen scheinen: Warum? und mich wieder in jene Zeit versetzen, als ich im OhrSturm sitzend mit Socke und Alf mein erstes Bier trank, ein Pils, das so übel schmeckte, dass ich kaum warten konnte, bis ich ins Pissoir kotzen konnte, während die anderen munter weitertranken, und wir uns für morgen zum Flippern verabredeten, wo Socke in der Regel eine Stunde früher sein würde und aus einer Mark so um die 20 Freispiele am Evel Knievel rausholen würde, die er dann für vier oder fünf Mark verkaufen würde, er war einer der ersten, die am Evel spielten, und er brach einfach nur seine eigenen Rekorde, stupste den Flipper manchmal mit zärtlicher Gewalt an den Ecken, um der Kugel eine andere Richtung zu geben oder haute auch mal wie eine Ohrfeige auf die linke oder rechte Seite des Geräts um im richtigen Augenblick die Kugel dahin zu lenken, wo er sie haben wollte, und wenn wir das auch versuchten, tillte die Maschine und der Opa, der aufpasste und mit einem anderen Opa Filterzigaretten rauchend die Zeit vertrödelte, sah uns blöd an, und wir zückten unsere Geldbeutel und sagten „Scheiße“ wenn wir kein Kleingeld mehr hatten und Socke amüsierte sich, weil wir es nicht blickten, und dann gingen wir im Schulhof Fußball oder Basketball spielen, bis es dunkel wurde, manchmal war auch Oswald da, ein Epileptiker, der nur „Ossi“ genannt wurde, manchmal lag er plötzlich auf dem Boden und fing an zu zittern und bekam Schaum vor den Mund, nach ein paar Minuten stand er wieder auf und erinnerte sich an nichts, wir spielten ohne ihn weiter, ließen ihn auf dem Feld liegen und umspielten ihn wie ein Hindernis, und später, wenn sein Anfall vorbei war, stand er auf und taumelte vom Schulhof, irgendwohin, wir fragten ihn nicht.

Nach dem Kicken gingen wir nach Hause oder weiter zu einem Bier ins Haschmich oder ins OhrSturm, wo sie bessere Musik hatten, wie ich fand, und wir sprachen darüber, wie wir die Conny fanden, oder die Maike, oder Sandra, und warum die eine gut aussah und die andere nicht, und manchmal setzte sich dann auch Simbert zu uns, und beeindruckte uns, wenn er die Bedienung mit „Hey Erdbeer!“ zu sich rief und ein Weizen bestellte, und hier erzählten wir uns, was uns heute Morgen oder gestern Abend wieder passiert war, haarsträubende Geschichten von übelst schimpfenden Opas, sich in die Hose pinkelnden Betrunkenen, Unfällen mit Motorrädern, heißen Mädels, die einem zugelächelt hatten obwohl man sie nicht kannte, jeden Tag gab es was Neues, Sagenhaftes, das Leben war so intensiv und es war so wichtig zu lachen, sich zu amüsieren, den anderen zu beweisen, dass man’s drauf hatte, und dann die Nervosität, wenn man selbst auch was sagen wollte, irgendwas Witziges, oder Ausgefallenes, und die bange Frage, ob die andern auch lachen würden, oder ob sie die Augenbrauen hochziehen würden, oder Socke vielleicht sogar abfällig bemerken würde: „Was für ein Kalter!“ und die Stimmung tatsächlich abkühlte, bis zufällig der Schlumpf vorbeikäme oder eine neue LP aufgelegt wurde und sich die Aufmerksamkeit wieder neuen Themen zuwandte, wie an jenem Abend, als einer erzählte, dass der Wiedewidewitt den ganzen Speicher für sich hatte, direkt unterm Dach lebte er, über der Wohnung seiner Eltern, in einem jener Reihenhäuser, die alle eine Spur anders aussahen als die Häuser links und rechts und die sich trotzdem so sehr glichen, dass es kaum auszuhalten war, mit zwei und manchmal drei Stockwerken, einem Treppenhaus und einer oder zwei Wohnungen pro Etage, und der Witt mit einem ganzen Speicher für sich, über 60 Quadratmeter, natürlich kam an den Seiten das Dach runter und man konnte nur in der Mitte stehen, aber so ein großes Zimmer war ohne Frage spektakulär, „Wo hängen denn dann die andern ihre Wäsche auf?“ fragte der Schlumpf, Heribert, der so genannt wurde, weil er ständig im Unterricht einen Kuli auseinander- und wieder zusammenschraubte, bis ihn einmal ein Lehrer „Kulischlumpf“ genannt hatte, und während wir bereit waren, diese Frage ernsthaft zu erwägen, witzelte Socke, dass die anderen ihre Wäsche im Ofen trocknen würden, und Simbert sagte todernst, dass die Hausfrauen auch weiterhin ihre Wäsche im Speicher aufhängen würden und ab und zu fehlte dann ein heißer Slip oder ein BH, die sich der Heinz untern Nagel gerissen hätte, „Hey Erdbeer, gib mir noch ein Helles!“ sprach er dann die gerade vorbeilaufende Bedienung an, als sei nichts gewesen, und wir uns einen Moment lang wunderten, woher er das wußte, bis irgendeiner sagte, „Der Heinz doch nicht, der ist doch päpstlischer als der Papst,“ und Informationen darüber austauschten, dass er jeden Sonntag in die Kirche ging, dass er Messdiener war, dass er einmal im Monat beichten ging, und einer, vielleicht war es ich gewesen, wußte sogar zu berichten, dass er zur Firmung einen Aufsatz geschrieben hatte, der gekürzt im Gemeindeblatt von der Gemeinde St. Marien zu lesen stand, und worin er von seiner Konvertierung vom Atheismus zum Christentum sprach, „Adde was?“ fragte Socke mit unschuldigem Blick und Schlumpf lachte schrill, natürlich wußte auch Socke was Atheismus war, aber solche Worte nahm man nicht in den Mund, nicht ohne mit einer Bemerkung gefoppt zu werden, und Simbert sinnierte laut, dass er gern eine Fete in Wiedewidewitts Dachkeller schmeißen würde, das ging doch nicht an, dass er so einen geilen Speicher nicht nutzen würde, in so einer klasse Atmosphäre könnten wir durch die Bank unsere Mädels klar machen, er ließ es offen, was genau er damit meinte, natürlich müsse sich jemand um die Musik kümmern, mit Reinhard Mey sei nichts zu holen, und die Diskussion verlagerte sich auf die letzten Neuerscheinungen, 10cc hatte gerade The Original Soundtrack veröffentlicht, Socke fand David Bowie voll gut und „Neanderthaler“, eigentlich Robert, sang ununterbrochen „Fahrn fahrn fahrn auf der Autobahn“ vor sich her, als gäbe es kein Morgen, Alf nannte Crisis? What Crisis? von Supertramp das Beste aller Alben, Socke fand Supertramp schwul, Simbert nannte The Sweet „einfach nur geil“, Schlumpf brachte Pink Floyd ins Gespräch, bis Neanderthaler von Johnny Guitar Watson erzählte, wie er mit seinem Bruder in Mannheim auf einem Live-Konzert von ihm war, und wie gut das rein ging, und im OhrSturm spielten sie Summer in the City von The Lovin’ Spoonful, wir tranken Bier und sahen den Mädchen nach, und manchmal, wenn eine graue Luft den Lärm der Stadt wie mit einer Zeitung von gestern umhüllt, wenn Geräusche wie in Zeitlupe an mein Ohr dringen und ich mich dabei ertappe, wie meine Finger die Hookline von A Real Mother for Ya zupfen wollen, wenn mein träge dahin träumender Geist mit einem Mal wieder inmitten von Zigarettenschwaden und von Lachen unterbrochenem Gemurmel aufwacht, und sich dieses Gefühl aggravierten Lebens einstellt, welches wiederholte Aufenthalte in einer Kneipe so wichtig macht, wenn dann eine ausdruckslose Stimme „Nächste Station – Waldau“ sagt und ich mich innerlich darauf vorbereite, langsam aussteigen zu müssen, noch eine Station ist es weiter, noch eine Station weiter, nicht Waldau, nicht OhrSturm, nicht hier, nicht jetzt.

2 Mutter

Auf dem Grabstein steht Hannelore Richter, es ist ein schöner Grabstein, sehr schlicht, ich könnte ihn nicht beschreiben, er interessiert mich nicht wirklich, nur das Todesdatum, 15. November 1977, das stimmt fast, es ist fast richtig, deswegen komme ich hierher, früher war ich bei Marianne Ziegler, nach langer Krankheit 12. November 1977, mit Efeu und Steinengel, aber erst blieben die Blumen aus und eines Tages war das Grab ausgehoben, und so mußte ich aufs Neue suchen, bis ich Hannelore Richter fand, ein wahrer Glückstreffer, sogar das Geburtsdatum war fast richtig, 3. März 1939, es gab auf jeden Fall noch Verwandschaft, denn selbst 30 Jahre nach ihrem Tod war das Grab gepflegt, wenn auch die Blumen ausblieben, eine Zeitlang legte ich sogar selbst Blumen aufs Grab, blassblaue Vergissmeinnicht, die ich am Wegesrand entdeckt hatte, oder auch Hyazinthen aus dem Geschäft, bis ich es eines Tages wieder sein ließ, was wenn man mich anspräche, mir auflauerte, „Was tun Sie hier an diesem Grab,“ ich würde meine Fäuste in meinen Manteltaschen verstecken, etwas wie eine Entschuldigung dahinsagen und mich entfernen, was wenn man nicht locker ließ, mich beschimpfte, mir mit der Polizei drohte, es war mir zu gefährlich, es gibt nicht viele, die regelmäßig vor einem fremden Grab verweilen, und ich verweile regelmäßig vor einem Grab, und immer demselben fremden Grab, Hannelore Richter, 3. März 1939 bis 15. November 1977, noch nicht einmal 40 Jahre war sie alt, ich sehe noch die straff gespannten Sehnen ihres Halses, der wie ein Baumstamm aussah, nur dass es keine Wurzeln waren, die da in ihren Rumpf drangen, sondern ihre aufs äußerste angespannten Sehnen, das Gesicht eine einzige Maske der Bitterkeit, einer Frau, die vom Leben betrogen worden war.

Vielleicht hatte sie auch noch etwas Sperma entdeckt, das ich nach dem Masturbieren auf der Toilette aufzuwischen versäumt hatte, oder die Spuren eines Lippenstiftes am Hemd ihres Mannes, sie hatte kein Verständnis für diese Zeugnisse unbändiger Hormonstörung und hemmungsloser Genusssucht, und wenn sie mir das Essen auf den Tisch stellte, das sie unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte gekocht hatte, angeekelt von dem Lebenswillen, den es nach Kartoffeln und Wurst verlangte, sich an den Tisch setzte, damit ich sehen konnte, wie sie leidet, wenn mir dann die ersten Bissen im Munde stecken blieben und ich anfing, langsamer zu kauen, weil der Mund trocken wurde, wie immer hatte sie treffsicher mehlige Kartoffeln gekauft, ihr Haar war hinter dem Kopf zu einem Dutt zusammengebunden, das ganze Gesicht, die schmalen Lippen, die herben Falten, „Ich halt das nicht mehr aus,“ sagte sie, oder „Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll,“ ich würgte die letzten Bissen hinunter, ich sagte garnichts, denn jedes Wort, das man ihr sagte, war dazu verdammt, ausgelegt zu werden, wie konnte man ihr nur solches Unrecht antun, das hatte sie nicht verdient, „Herr, warum strafst du mich?“ oder „Womit habe ich das verdient,“ ich verabschiedete mich in mein Zimmer, wo ich mich vor ein Schulbuch setzte, das ich nicht las, sondern ansah, solange, bis sie in mein Zimmer kam, sie war eine einfach gestrickte Frau, ich sah von meinem Schulbuch auf, „Was lernst du?“ – „Geschichte,“ „Willst du nachher mit mir spazieren?“ – „Mal sehn,“ sie sah mich an mit diesem Was-mache-ich-nur-falsch-Blick, sie schloß die Türe und ich holte das Bild, das ich in der Schublade versteckt hatte, heraus und sah es mir an. Ich hatte das Bild vor einigen Wochen aus der Rheinpfalz geschnitten hatte, es war eine Schwimmerin im Bikini, sie hatte einen Rekord aufgestellt oder etwas in dieser Art, ich weiß es nicht mehr, ich hatte das Bild ohne den dazugehörigen Text ausgeschnitten, die Auflösung war schlecht und natürlich war das Bild nur in Grautönen, aber sie war im Bikini, ihre Kurven regten mich an, immer noch, wenn auch nicht mehr so stark wie beim ersten Mal, ein unvergessliches Erlebnis, ich hatte fast 30 Tage lang nicht onaniert, zu solchen asketischen Höchstleistungen konnte ich mich damals noch aufschwingen, bis ich zufällig in der Rheinpfalz ihr Bild sah, vielleicht war es einfach nur unglückliches Timing, wie auch immer, ich hatte fast sofort einen Ständer, aber ich mußte warten, bis die Zeitung auf dem Zeitungshaufen lag, und warten, bis sie mich nicht beobachtete, dann hielt ich den Schnipsel in Händen, ich sprang fast aufs Klo, es war unglaublich, nie wieder würde ich mich mit solcher Ekstase ergießen, noch Wochen später löste allein die Erinnerung daran Schauer der Wonne bei mir aus, ich sah das Bild an, „Göttin,“ flüsterte ich, „Ich kann nicht mehr ohne dich leben, ich will dich berühren, wie können wir uns näher kommen,“ vielleicht hätte ich den Text ausschneiden sollen, denn da stand doch ihr Name, wie konnte ich nur so kurzsichtig sein, ich würde sie anschreiben, und dann würde sie plötzlich vor mir stehen, natürlich im Bikini, ich ging aufs Klo, es war nicht mehr wie früher, ich bemerkte einzelne Rasterpunkte des Bildes, es störte mich.

Das Grab schien mir ungepflegter als sonst, ich bemerkte, dass der Efeu wucherte, Panik ergriff mich, was, wenn auch dieses Grab einen neuen Okkupanten fände, wer läßt denn schon dreißig Jahre lang ein Grab pflegen, ich würde mit Sicherheit kein drittes Grab finden, das meinen Ansprüchen gerecht würde, und wo sollte ich dann hin, wo würde ich dann mein Zentrum finden, meine Mitte, wo könnte ich dann Zwiesprache halten mit ihr, wo könnte ich mir ihr Leben ausmalen, das sie hätte leben können, „Hast du schon Ich bin ich gelesen, ganz tolles Buch, das würde dir gefallen,“ würde ich sie fragen, sie hatte bereits Ich bin OK gelesen, von einem amerikanischen Psychologen, und nervte mich unglaublich, weil sie zu den unpassendsten Gelegenheiten „Ich bin OK“ sagte, etwa wenn sie sich ein Stück Schokolade spendierte, „Ich darf das,“ würde sie sagen, „Ich bin OK,“ würde sie hinzufügen, und manchmal, wenn ich dann ihre Gestalt vor mir sehe, dieses früh verhutzelte, ihr Dasein hassendes Gesicht, das mit gespieltem Genuss in die Schokolade biss, während ihr ganzer Körper sie Lügen zieh, Lebensfreude war nicht ihr Ding, ihre Welt war Vorwurf, Schmach, Gewissensbiss, bei gleichzeitiger Ausklammerung aller Schritte, die eine Lösung bedeutet hätten, „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr dein Vater mich gekränkt hat,“ würde sie sagen, oder „Wir waren noch keine drei Jahre verheiratet, da hat dein Vater schon die Ehe gebrochen, wie hieß sie nochmal, Monika Burdi, das habe ich alles erst sehr viel später herausgefunden,“ wir gingen den Sonnenweg entlang, eine schöne Strecke, vorbei an Weinbergterassen und hübsch gepflegten Gärtchen, „Oh schau mal, wie schön doch diese Gerbera sind,“ würde sie plötzlich ausrufen, es klang wie wenn sie es auswendig gelernt hätte und sich dazu zwang, ein glückliches Gesicht zu machen, in solchen Momenten züngelte Mordlust in mir auf, die Belastung war unerträglich, der Widerspruch zwischen ihrem abgehärmten Gesicht, den Falten, die davon schrieen, dass hier jemand nur Essig zu trinken erhielt, und dann zu sehen, wie dieser Mund tatsächlich zu einem Lächeln benutzt wurde, unter sichtlicher Anstrengung, die Augen lachten nicht dabei, nur der Mund, es war ihre Contenance, die ich mehr haßte als alles andere.

Und abends, wenn ihr Mann es verpaßt hatte, ins Training zu gehen und auch ich aus finanziellen Gründen in der Wohnung blieb oder weil ich es versäumt hatte, mich zu verabreden, wenn wir dann alle abends zuhause sein würden, es geschah selten genug, ihr Mann setzte sich gewöhnlich an den gedeckten Tisch, schmierte sich ein Brot, er schaltete das Radio ein, „Oh La Paloma nimm mich mit in die Ferne,“ er trank ein Glas Bier, er sprach kein Wort, manchmal würde sie ihm erzählen, mit welcher Boshaftigkeit ich ihr heute wieder das Leben schwer gemacht hätte, „Dein Sohn hat mir heute wieder nur freche Antworten gegeben, ich weiß wirklich nicht, was ich mit diesem Kind machen soll,“ oder „Dein Herr Sohn glaubt, er müßte hier nicht im Haushalt helfen, ich habe schon hundertmal gesagt, dass er eine Abreibung braucht,“ er würde abwägen, ob eine Strafe erforderlich war, in der Regel hieß es dann „Du tust, was deine Mutter dir aufträgt, hast du mich verstanden?“ und wenn er fertig mit dem Abendessen war, packte er seinen Sportkoffer und ging Tennis spielen, ganz in weiß, immer adrett, nur wenn er keine Verabredung hatte, vielleicht weil er die monatlichen Finanzen durchging, oder weil ein Brief geschrieben werden mußte, oder weil nach der Tagesschau ein Film lief, den auch er unbedingt sehen wollte, dann würde sie plötzlich neben ihm stehen, eigentlich neben seinem Schreibtisch, ein massives Stück Holz, auf dem Kakteen auf drei Seiten eine klar erkennbare Barriere schafften, sie verstand die Botschaft nicht, und wenn wir tatsächlich an einem dieser unseligen Tage alle drei zuhause waren, verpasste sie die Gelegenheit nicht, sie nutzte die Stunde, stand mit einem Mal neben ihm und fand einen Grund, sich in Szene zu setzen, „Du hast schon wieder nicht den Schrank im Badezimmer aufgehängt, dabei hatte ich doch ausdrücklich darum gebeten, dass du das machst,“ und er „Jajaja, ich kann doch nicht alles machen,“ und sie, „Nein, darum geht es nicht, es geht darum, dass meine Wünsche nicht respektiert werden,“ und er, „Achdulieberhimmel, jetzt hör aber mal auf, das ist ja nicht zum aushalten hier,“ und sie, schrill, „Darf ich jetzt noch nicht einmal darum bitten, dass du einen Schrank aufhängst,“ und er würde ab ihrer veränderten Tonlage plötzlich nichts mehr sagen, sondern sich auf seine aktuelle Arbeit konzentrieren, während sie nicht verstand, dass aus seiner Sicht das Gespräch zu Ende war, für sie hatte es doch gerade erst angefangen, jetzt sprach sie sich in Fahrt, wenn der Schrank nicht zog, dann mußten andere Geschütze aufgefahren werden, sie teilte ihm mit, dass es sie kränkte, derart mißachtet zu werden, vielleicht quittierte er das mit einer Grimasse oder einem Kopfschütteln, meistens war ich zu dieser Zeit bereits in meinem Zimmer, wo ich die Tristesse meiner kahlen Tapeten mit zunehmender Wehmut betrachtete, mir das Rocky-Plakat vorstellte, das bei Socke im Zimmer hing, oder das von Supertramp, der Lieblingsgruppe von Alf, Zeugnisse beginnender Eigenständigkeit, wo ich nur Leere fand, und nachdem ich vor der Haustür eine Zigarette geraucht hatte und wieder über den Flur zurück in mein Zimmer ging, war sie bereits bei der Zusammenfassung der Kränkungen, die sie im Laufe ihrer 15jährigen Ehe erlitten hatte, manchmal schnappte ich Sachen auf, die vor zehn Jahren passiert waren, sie vergaß nichts, vielleicht führte sie ja, so wie er für seine Finanzen, ein Haushaltsbuch über erlittene Demütigungen.

Wieder im Zimmer würde ich danach suchen, welche Hausaufgaben ich für den morgigen Tag zu machen hätte, manchmal fand ich sogar den entsprechenden Zettel, ich hatte einen schwarzen Aktenkoffer, passend zu den karierten Hosen, die sie mir jedes Jahr zu Weihnachten kaufte, mit vielen Fächern, für Stifte, Notizen, Hefte und natürlich Bücher, ich fand immer wieder neue Zettel, mit Hausaufgaben, von denen ich nicht mehr wußte, ob ich sie nicht schon gemacht hatte, oder hätte machen sollen, ich schlug Schulbücher auf, ich blätterte zu den Seiten, die mir die Zettel angaben, es klopfte an der Tür, mein Vater öffnete und teilte mir mit, dass der Film gleich beginnt, „Mit Cary Grant,“ fügte er noch hinzu, oder „Der Große Preis!“ dann verschwand er wieder, um es sich in seiner Couch gemütlich zu machen, was ihm daran lag, ob ich ebenfalls diesen Film sah oder nicht, ich weiß es bis heute nicht, von 8 bis 11 lief die Kiste und offenbar wähnten sie es als Teil ihrer Erziehungsleistung, abends drei Stunden Unterhaltung bereitzustellen, während ich mit mir debattierte, ob ich mich dazu setzen sollte oder nicht, ich hatte keine Lust darauf, Hausaufgaben zu machen, mir war öde, nach einiger Zeit hörte ich sie lachen, schrill und verzweifelt, der Film hatte angefangen, sie hatte schon ihre Flasche Weißwein neben sich stehen, er kaute seine Nüsse, die er in einer Holzschale auf seinem bemerkenswert flachen Bauch stehen hatte, die Beine auf einem Sessel geparkt, fast liegend, meistens nahm ich mir einen Küchenstuhl, damit ich nicht zwischen ihnen sitzen mußte, ich beobachtete sie, wie sie den Film in sich aufsogen, Dialoge wie „Das Gebäck ist leicht wie Luft.“ – „Ja, Germaine hat sehr gefühlvolle Hände, einmal sah ich wie sie einen deutschen General erwürgte, völlig geräuschlos!“ schickten sie in Ausbrüche wiehender Heiterkeit.