Chronik fremder Zeit

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Chronik fremder Zeit
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Der Kreis öffnet sich

Sommer

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Sommer/Herbst

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Der Kreis schließt sich

 

Chronik fremder Zeit

Roman

Oliver Peters

Idee: André Bödecker und Oliver Peters

Lektorat und Beratung:

Manuela Peters & Stefanie Sennhenn

Coverfoto: Pixabay, mit Dank an Stax

Umschlagentwurf: Oliver Peters

1. Auflage 2010

2. Auflage 2011

3. Auflage 2018

www.oliver-peters.de

Impressum

© 2018 Oliver Peters

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

Softcover ISBN: 978-3-746778-61-7

E-Book ISBN 978-3-746778-59-4

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Nicole

Unsere Verabredung mit dem Leben findet im gegenwärtigen Augenblick statt.

Und der Treffpunkt ist genau da, wo wir uns gerade befinden.

Buddha

Der Kreis öffnet sich

Gefangen im Strom nordwärts führender Luft trug flatterndes Tuch großzügig gespannt den Stuhl. Er schwebte von Süden her, an sich selbst aufgehangen, steuerlos und doch mit Ziel. Wäre es nicht Winter gewesen, ein ungewöhnlich milder zwar, aber eben jene Zeit, in der die Vögel in den Süden gezogen waren, dann hätten sie das seltsame Gefährt begleitet. Frech hätten sie sich draufgesetzt, wären ein Stück mitgeflogen, hätten sich ausgeruht in luftiger Höhe, mit dem Schnabel nach den Dingen gepickt, die dort auf dem Stuhl noch waren.

Es war kein gewöhnlicher Stuhl, wie er in Küchen und Esssälen stand. Er war verkleidet und durchdrungen von Drähten und Röhren, die aus einer Halterung gerissen, roh verformt herabhingen und unsichtbar hinter - den Stuhl auskleidenden, angerissenen und angesengten - Stoffen verliefen. Es mochte einst gemütlich gewesen sein, auf ihm zu sitzen. Die Polsterungen durch die Stoffe waren großzügig, einiges mochte durch Federn verstärkt dem Sitz weichen Halt geben, sodass stundenlanges Verharren darin denkbar war. Und doch, im kalten Luftstrom, umschlungen von den ins Leere reichenden Zuleitungen und offenbar aus sicherem Milieu gerissen, sah er dort am Himmel einsam und verlassen aus, dass es einen rühren konnte.

Das mochte auch mit dem Leichnam zu tun haben, der, am Stuhl festgeschnallt wie ein alter Mann auf seiner Verandaschaukel, still die sanften Bewegungen durch den Luftstrom auffing und seltsam ruhig und hoffnungsfroh nach vorne zu blicken schien. Auch er war eingehüllt in verschiedene Tücher, denen ein Overall zugrunde war. Sein Kopf war gestützt von einem wärmenden und Stöße abwehrenden Kragen und bedeckt von einer Lederhaube. Alles sah sehr behütet aus, wäre der Leichnam darunter nicht ausgedörrt und nahezu mumifiziert. Verwelkt hing alles nutzlos herab. Der Tod war, soviel kann man sagen, nicht durch Kälte, nicht durch Stöße, Verletzungen an Bränden oder spitzen Gegenständen eingetreten. In dieser Hinsicht war der Leichnam völlig unversehrt und in guter Verfassung. Aber ein Mangel an Nahrung und Wasser hatte die erste Welle des Verdorrens über ihn kommen lassen, der dann der ewig am Stuhl und Körper zerrende Wind, die in diesem Luftstrom vorherrschende Temperatur und seine Luftdruckbedingungen als zweite Welle gefolgt war.

Es hatte den Stuhl von weit hergeführt. Sein Benutzer war vor Wochen bereits an den Folgen des Wasser- und Nahrungsmangels zugrunde gegangen. Man glaubte, er könnte das Ziel schon sehen. Aus unglaublicher Entfernung ragte es schon empor, und bevor er das letzte Mal einschlief, hatte er es tatsächlich noch wahrgenommen. Hoffend. Betend, es bald zu erreichen. Weil er so hungrig gewesen war. Und durstig. Weil er gefroren und Heimweh verspürt hatte. Er sah die steil aufragende Festung am Horizont, die hoch gebaut so weit sichtbar war. Er wusste, der Strom, in dem er so mühsam mit seinem Stuhl ritt, würde ihn zu ihr zurückführen. Denn der endete an der Mauer der Festung.

In jener Nacht schlug er mit seinem Gefährt auf. Sein vom Kragen gehaltener Kopf mochte den Eindruck erwecken, er nähme bewusst Kurs auf die Festung. Sein leicht gehobener, weil an einer Öse verhakter rechter Arm wirkte, als zeigte er auf sein Ziel. Doch er war führungslos, als er in die Aufbauten der Vogelstation krachte und die Brieftauben darin in hellen Aufruhr brachte. Wie ein Gespenst hing er in dem zertrümmerten Holz der Verschläge, und als der Postmeister ihn fand, da dämmerte der Morgen. Der Arm zeigte keinen Kurs mehr, sondern auf den hustenden alten Mann, der den Lärm in der Nacht nicht gehört hatte.

Sommer

1

Maria saß in der Waschküche, saß inmitten des immerwährenden Geschehens mit einer engelsgleichen Geduld. Sie gab so vielen der Menschen dort Rätsel auf und machte zugleich Mut. Saß dort in all ihrer Schönheit, geschützt durch Elias’ Clan und doch ungeschützt in muffiger Luft. Sie war von einer inneren Ausgeglichenheit, die bis in die letzte Nische des Kellergewölbes strahlte und sie aufzuhellen vermochte. Ihre Anwesenheit dort unten ließ manchmal das Schlappern und Schloddern der Wäschestücke in den Schächten leiser und gedämpfter erscheinen. Die Luft war reichhaltiger, die Berge von Wäsche kleiner. Die Tage kürzer und das Licht heller. Und obwohl Maria eine Grauhälsin war, schien sie wie keine andere weder am Körper noch am Herzen durch die freudlosen Bedingungen dort unten irritiert. Die seifige Lauge schien alles Fremdartige und Kranke von ihr abzuhalten. Kein Gift hatte sie bislang entstellt. Es war etwas, was die Grauhälse mit Reinheit in Verbindung brachten.

Sie sortierte geduldig gerade ein paar rote Röcke von Parlamentsdienern. Sie waren besudelt von den Alkoholexzessen der Adligen und bedurften dringender Reinigung. Maria wusste - im Gegensatz zu den meisten ihrer Mitbewohner - viel über das Leben in der Festung. Doch sie hätte niemals mit ihrem Wissen über jene andere Welt geprahlt. Es wäre auch gefährlich gewesen. Aber sie wusste zu schätzen, dort unten im Keller ihrem einfachen Handwerk nachgehen zu können. Weit weg von der in Intrigen versinkenden Geschäftigkeit am Hofe. Diesem kräfteraubenden Monster.

Sie hatte ein berichtenswertes Geheimnis, das ihr die Kraft gab, mit Gleichmut ihren Aufgaben nachzugehen. Solche wie sie sind selten.

Die meisten konnten der ewigen Dunkelheit, der kargen Lebensweise, der Hitze und dem Dreck, der auf ihr Leben herabfiel, nicht lange widerstehen. Man starb jung. Grauhälse haderten auf irgendeine Weise mit diesem Leben. Maria war da eine Ausnahme und man bewunderte sie dafür. Wenn sie fest am Trog stand und die Lauge rührte, den schweren Holzstab niederdrückte, um den Reinheitsgrad der Wäsche zu beurteilen, so war bei der Kraftaufwendung in ihrem Gesicht weniger als bei den meisten Leid und Entbehrung zu sehen.

Sie war Galionsfigur und Rätsel zugleich. Man behandelte sie wie eine Heilige. Es hätte die wenigen aber doch sehr strengen moralischen Grundfesten der Clans erschüttert, wenn bekannt geworden wäre, was Maria tat: Maria war eine Nachtgängerin.

Und während Maria in der Waschküche saß, dachte sie an die kommende Nacht. Sie würde wieder mit dem Dunkel verschmelzen und einmal mehr auf unbekannten Wegen aus dem Keller fliehen. Unbemerkt, ungesehen, mysteriös. Sie würde dem Ruf ihres Herzens folgen. Voller Sehnsucht war sie. Ersehnte sich nichts mehr, als dass es endlich Nacht würde.

2

Die enorme Höhe der Festung setzte den Bau unterschiedlichsten klimatischen Schichten aus, sodass sie einem mehrzelligen Wesen glich. Sie vereinte verschiedene Atmosphären in sich und verband diese in einem gegenseitigen Wechselspiel. Und manchmal schien es, als ob der faule Geruch, der durch wenige Öffnungen im Fundament nach draußen drang, der Auswurf der Festung war. Als ob es verbrauchter Atem sei. Als ob sie zu oberst den dort vorherrschenden reinen, gesunden und reichhaltigen, von kalten, aber würzigen Lüften und Wirbeln umhüllten Äther einsog - in ihrem Inneren aber diesen wunderbaren goldenen Odem transformierte und in ein immer muffigeres gehaltloses Gas verwandelte, je weiter er in die Tiefe des Schlosses eindrang.

Niemand vermochte genau zu sagen, welches Alter die Festung hatte. Die Waschküche gehörte aber zu dem ältesten Teil des Baus. Damals, als sie aus den ersten aufgeworfenen Massen an Erde und Stein langsam zu entstehen begann, hatten die Arbeiter nach dem Sonnenuntergang nicht mehr den beschwerlichen Weg hinunter in ihre Hütten gewagt. Damals, als der künstliche Hügel, der das Fundament der Festung wurde, schon vom Landesinneren aus zu sehen gewesen war. Es war der Weg zu lang, es war in der Dunkelheit zu gefährlich gewesen, es waren die Männer von der schweren Arbeit geschwächt. Hätte sie beim Abstieg ein Regenschauer überrascht, wäre er durch glitschigen Matsch und unbefestigte Wege versperrt gewesen. Der Versuch, die Familie in solchen Nächten zu erreichen, hatte oftmals ein tödliches Ende genommen.

Maria war Nachkomme dieser Menschen, die zu jener Zeit ihre Kraft aufgebracht hatten, das unglaubliche Werk für den König zu vollenden. Ihre Vorfahren hatten mit vielen der anderen begonnen, die Nächte auf dem Erdhügel zu verbringen und angenehm zu gestalten. Gegen den Regen hatte man Unterstand in kleineren Höhlen gefunden. Sie waren auch Schutz gegen den ewigen Wind gewesen, der auf jener niedrigen Höhe warm war und als Luftstrom aus dem Landesinneren über die Ebenen zog. Er war voller Gerüche aus der Ferne. Dahinein hatten sie sich sehnsüchtig in jenen Nächten an den Feuern geträumt. Doch auf Dauer hatte niemand dem immerwährenden Zerren an den Kleidern widerstehen können. Die Krankheiten, die der Wind gebracht hatte, waren so zahlreich gewesen wie die hergewehten Ahnungen von fernen Ländern.

Bald hatten sie die Unterstände und Höhlen ausgebaut. Die Frauen waren mit den Kindern gefolgt und man verblieb in den Provisorien, über die sich später die Festung erhoben hatte. Das Bauwerk hatte die Unterstände, Höhlen und Unterbauten unter sich eingekapselt und in den blasengleichen Auslassungen lebten die Menschen weiter.

Die Waschküche war jener tief in das Fundament eingelassene Bereich, der labyrinthartig aus einem Geflecht von verborgenen Hallen, Gängen, Höhlen und Nischen bestand. Die Festung, ein unermesslich hoch aufragender Turm, war in ihrem Fundament von Orten wie dem der Waschküche gleichsam durchlöchert. In seiner Basis porös, war doch der mächtige Bau von ihr getragen und konnte ohne sie nicht existieren.

Der Raum war gefüllt mit riesigen, schweren Seifenbottichen. Sie dampften heiß und erfüllten die üble Luft mit dem Geruch, den man auf der Welt so schnell nicht wieder findet - einer Mischung aus Lauge, Dreck und Fäkalien. Ein Geruch von Verbrauchtem. Ein Geruch von dem Schweiß derer, die Tag und Nacht damit beschäftigt waren, zu waschen; das heißt, in den großen, grob aus Holz gefertigten Behältern die Wäsche zu rühren, um sie gereinigt wieder zu bergen. Zu den Ausdünstungen kam der giftige Windzug vom Innern der Festung, der unten angelangt seinen tiefsten Wert erreicht hatte. Der war dann so schwer belastet, dass er nur noch danach strebte, das Innere blähend zu verlassen. Die Halle war geeignet, diese Dämpfe und Gerüche, vor allem die schädigenden, zu sammeln, schnell verdunsten zu lassen und abzuführen.

Neben den allgegenwärtigen Gerüchen, die sich immerwährend in die Wände und in die Bewohner gefressen hatten, erfüllte die Kellergewölbe ein alles dominierendes, stetiges Geräusch. Es war wie ein Summen. Ein beständiger, gleich bleibender Ton. Sanft, aber beharrlich. Unwiderstehlich und doch weit entfernt. Er schien allgegenwärtig zu sein. Er war zu hören in der Halle, in den Gängen, in der Peripherie des Kellerbereiches und sogar in den kleinen Kammern, in denen die Familien nach der Arbeit ihre Lager fanden.

Es war das Geräusch, das entstand, wenn die Wäsche der Festungsbewohner durch tausende von Kanälen von oben herab ihren langen Weg in die Keller suchte. Einem Venensystem gleich war die gesamte Festung von diesen Wäschekanälen durchzogen. Auf diesem Weg wurde alles verschmutzte Textil besorgt - angemessen und ohne sie vor den Augen der Festungsbewohner durch die Flure schieben zu müssen. Diese Wäscheschächte hatten in jedem Zimmer des Hofes ihren Anfang und waren zuoberst mit einer leicht zu öffnenden Klappe nahezu schalldicht versiegelt. Die seltsame Akustik dessen, das das Rohrsystem transportierte, sollte nicht seinen gespenstischen Widerhall in den Wohnräumlichkeiten finden. Horchte man aber trotzdem, zeichnete sich das bizarr verechote Geschehen im Gangsystem dadurch aus, dass metallisch nahes und fernes Rutschen, Surren und Knöpfeklappern dreidimensional eine ewige Melodie erklingen ließ. Sie hatte einen Grundton, der durch die unterschiedliche Schwere der Stoffe, die Anzahl der verschickten Wäschestücke und manchmal auch durch die leisen Stimmen aus dem Keller auf das Traurigste ergänzt und variiert wurde. Die meisten, die so gehorcht hatten, sprachen von einem klagenden Ton. Einem sehnsuchtsvollen Raunen und Rascheln, welches melancholisch stimmte wie der Herbst. Man hielt die Zeit, um die Wäscheklappe zu öffnen, deswegen recht kurz. Und das, was dennoch durchdrang, wurde geschickt überhört.

 

Unten in den Kellern gab es solche schützenden Klappen nicht. Der aus ihrer Mitte auffahrende stöhnende Ton erfasste die Menschen dort in seiner ganzen Traurigkeit ungefiltert. Unten im Keller kam alles an, was ansonsten in der Festung an Unrat übrig war.

Grauhälse rief man sie. Sie waren stumpf gegenüber den Menschen, deren Wäsche sie tagtäglich wuschen. Taub gegenüber dem Hof, dem Parlament, den Themen oder den Krisen des Tages. Grauhälse war einst der Name der lehmverschmierten Arbeiter gewesen, deren Bezeichnung sich immer noch hielt. Ein Name, der auch deswegen noch immer passte, weil die, die dort unten lebten, so gut wie nie die Sonne sahen. Das die gräuliche Hautfarbe der Menschen begünstigende Klima färbte genauso das Haar wie ihre Seele.

Ungetrübt ließen die Grauhälse das Geschehen am Hofe an sich vorbeiziehen. Ihr Alltag war hart, sodass sie keine Zeit gefunden hätten, diesen Dingen gebührend Aufmerksamkeit zu schenken. Man wusste von oben nicht viel. Als sei es eine abgeschiedene Welt, deren Dramen für sie keine Bedeutung hatten. Nicht einmal der jeweilige König war immer bekannt.

Grauhälse lebten entbehrungsreich in Düsternis, aber nicht ganz ohne Lohn. Seit jeher war es Brauch gewesen, die Reste aus der Palastküche nach unten zu schaffen. Anfangs über den Nahrungsschacht - ein ewig gemein riechender Schlund, dem damals nur einmal die Woche Besserung widerfuhr, wenn Seifenwasser durch den Kanal in den Keller gespült worden war. Ein unerfreulicher Vorgang. Einerseits, weil das Essen seifiger geschmeckt haben soll, andererseits, weil die üblen, da zumeist verfaulten Reste aus dem Gang zu Tage befördert worden waren. Und wenn der Koch sich verkalkuliert und zu viel Wasser den Schacht herunter gespült hatte, war es zu kleineren Überschwemmungen gekommen. Die exakt den Schächten zugeordneten Körbchen mit der gewaschenen Wäsche waren dann auf kleinen Seen geschwommen. Das Wasser bis zum Knöchel hoch, hatte man sich seinen Weg zu ihnen erkämpft. Die Rekonstruktion, welche Wäsche aus welchem Teil des Schlosses gekommen war, war heikel. Vielleicht waren es diese Unfälle gewesen, vielleicht die Routine ihrer Arbeit: Grauhälse schienen mit dem Tuche der Festungsbewohner verwachsen. Man sagte, sie konnten in ihm lesen.

Immer noch speiste sie die Palastküche mit dem Übriggebliebenen. Es war eine unberechenbare Versorgung, die mal reichhaltig, mal knapp ausfiel. Aber man bekam Qualität. Und in den letzten Jahrzehnten hatte man - der vielen Kranken wegen - den Nahrungsschacht versiegelt. Nun stand das Essen zur Abholung in speziellen Räumen bereit. Und manchmal wurden unter den Resten auch vollständige Früchte, Braten und Kuchen gefunden. Vielleicht waren es spezielle Geschenke vom Koch, vielleicht aber auch nur Überbleibsel aus einem Gelage.

3

»Maria«? Die Stimme hallte weit durch die Katakomben der Waschhallen und vermochte den nicht geringen Lärm der anderen Wäscherinnen zu übertönen.

»Maria!«, hallte es nochmals. Die Wäscherinnen schauten sich belustigt an und wussten, was nun folgen würde. Die Gerufene richtete sich auf und schaute mild lächelnd die Frauen, die sie umgaben, an. Kichernd steckten sie ihre Köpfe zusammen und beugten sich über ihre Arbeit. Marias Gestalt überragte sie, als sie, halb ironisch, die liebende Tochter mimend, zurückrief:

»Ja, Vater!« Ihre Stimme trug nicht weniger weit als die ihres Vaters, war indes aber klarer und reiner. Der Hall, der ewige Hall in den Hallen. Eine Geräuschkulisse, bestehend aus den gurgelnden Wassern in den Zubern, den Gesprächen der Wäscherinnen und dem Zurren der Kleidung in den Schächten. Alles war aufs Eigentümlichste verstärkt und überlappt. Sie vermochte nicht so wie ihr Vater zu brüllen, aber sie fand eine Intonation, die einem Gesang gleichkam.

»Maria, wo bist du?« Der harte Klang der Männerstimme zerschnitt die traumhafte Sphäre, die Marias Stimme hinterlassen hatte. Ungeduldig war sie, nahezu gequält. Noch bevor seine Tochter Atem geholt hatte, um eine Antwort zu geben, erschien aus den ungenutzten hinteren Hallen ein älterer Mann. Er war klein von Wuchs und hager, aber von geschäftiger Eile getrieben.

Seine Kleidung hob sich von der einfachen Kluft der Arbeiter ab. Das war nur bei solchen Grauhälsen denkbar, denen ihr Alter geholfen hatte, sie in den ehrbaren Stand der Weisen zu heben. Davon gab es nicht viele. Elias hatte diesen Stand mit einer starken Konstitution erreicht, die er im Laufe seines Lebens in den verseiften Zubern seiner Arbeitsstätte sich auflösen gesehen hatte. Wie alles, was er aus seiner Jugend mitgebracht hatte. Und dennoch, Elias, der immer mehr gearbeitet, immer mehr gehoben und immer mehr Körbe sortiert hatte als andere, war durch seine verbliebene Kraft noch immer in der Lage gewesen, sich mit mehr zu beschäftigen als mit Waschen.

Es war ihm vergönnt gewesen, lesen zu lernen, und er sammelte Schriften. Natürlich sammelte er wahllos und nur das, was ihm zufällig aus den Wäscheschächten zugespielt worden war. Aber es reichte, selbst ein wenig zu schreiben und einen Verstand auszubilden.

Was er über seine Arbeiten hinaus aber noch gut verstand, das war die Schönheit seiner Tochter und ihren Effekt auf die Welt zu begreifen. Sie machte ihn stolz. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass Maria und ihre Anmut all das auf die Welt gebracht hatte, nach dem er sich im Innern stets gesehnt hatte. Maria war mehr für ihn als nur seine Tochter. Sie war ein Kleinod für ihn, bedroht von den Begehrlichkeiten der Männer. Ein Schatz, der stets in Gefahr war. So, wie dieser Schatz eigener lebendiger Ästhetik in ihm, der von Geburt an schon gestohlen war. Sie war Teil von ihm. Er beanspruchte sie. Und Maria war liebevoll genug, sich nicht verletzend diesem Zugriff zu entziehen. Zumindest nicht sichtbar. Denn dadurch, dass sie Nachtgängerin war, dadurch erschlich sie sich die Freiheit, die ihr der Vater so sehr beschnitt.

»Maria!«, rief Elias, und fand sie bei der Arbeit. »Maria, du weißt offenbar nicht, wie spät es schon ist. Die Nacht ist schon angebrochen und du bist immer noch am Waschen. Lass das hier liegen und komm, wir warten schon auf dich. War es anstrengend heute? Hat man dich angesprochen? Wenn ja, wie ist sein Name? Ach, du lächelst nur. Manchmal denke ich, du sagst mir nicht die ganze Wahrheit. Du weißt, du bist hier einem Reh gleich, das im Wald unter Jägern einsam dahintrabt. Du lächelst aber nur. Komm! Wir wollen essen.«

4

Und so gingen sie in den fensterlosen Abschnitt, ihre Heimat war. Ein Winkel, groß genug, Elias’ Familie aufzunehmen; der trocken lag, die Wärme des Feuers zu halten vermochte und den Rauch durch einen geschickt durchdachten Fang ableitete. Fenster waren in der Unterwelt des Kellers ein Luxus, den es nur an wenigen Stellen gab. Und nur zum Preis der unerbittlichen, unaufhaltsamen Einwirkung der Natur. Es waren unverglaste Öffnungen. Sie waren zumeist nur dienlich, die von den Höhen herabgesunkene, verbrauchte und alles Übel der Festung kumulierende Luft abzulassen. Das ist ein Prozess, dem im Wege zu stehen nicht geraten ist. Außerdem fror man dort, wo der Blick nach draußen möglich war, obwohl der Wind vom Land kommend warm war. Aber Grauhälse waren perfekt eingestellt auf die sich nie ändernden klimatischen Bedingungen der Waschküche und somit gegenüber jeder Wetterschwankung empfindlich. Die Sonne brannte ihrer blassen Haut gleich Flecken auf, Blütenpollen verstopften Nase und Lungen, der Wind presste an den Atemwegen, dass die Luft wegblieb. Vom beginnenden Frühling vor der Festung bekamen sie nichts mit.

Man mied die Nähe solcher Öffnungen, wenn möglich mied man auch den Weg vor die Festung. Er lag allen offen, doch keiner nutzte ihn. Allein um den Fuß der Festung zu erreichen, durch das Labyrinth der Gänge, durch das mächtige Fundament, die bewachten Torbögen außen verlaufenden Serpentinen, musste man fast zwei Stunden herabsteigen. Die meisten, die in den Gewölben der Festung arbeiteten, vermochten diesen Weg gar nicht zu gehen. Es fehlte den Lungen die Luft, diese Strapaze zu überstehen.

Obwohl man hier von den Kellern der Festung berichtet, waren diese noch sehr hoch gelegen. Die Öffnungen lagen vielleicht 300 Meter über den Eingangstoren. Kein einfacher Weg führte nach unten, was der Verteidigung geschuldet ist. Alles, was den Weg von außen nach innen ermöglichte, war unangenehm, beschwerlich und eng geführt ausgelegt. Es fiel auch deswegen den Grauhälsen nicht ein, die Höhlen ihrer Unterkunft zu verlassen.

Maria aß an diesem Abend vergnügt und ohne Worte. Sie hörte dem Stimmengewirr der Familie zu. Elias versuchte, die Kinder mit Lebensweisheiten aufzuladen. Die wiederum versuchten, Elias zu beweisen, dass er nichts zu sagen hätte. Ein ewiges Spiel. Wenn die Frechheiten der Kleinen zu groß wurden, mischte sich die Mutter ein. Das empfand Elias als Schmach und sogleich fing er Streit mit allen an. All dies in einem Ton humorvollen Bemühens um den anderen. Selbst der schärfste Streit gab dem anderen stets das Gefühl, respektiert zu werden.

Diese Kraft mochte die Quelle der Ausstrahlung Marias sein, so sagte man im Clan. Eine Fähigkeit Elias’, die sich auf seine Familie übertrug. Seine Gabe, so wenig verletzend zu sprechen. Elias hatte viel Unterstützung bei den Clans, seines ausgleichenden Redens wegen. Er hatte eine zarte Art, mit Menschen umzugehen. Einzig seine Eifersucht um das Wohl seiner Tochter war anerkanntermaßen Anlass für Schärfe in seinem Ton.

Man ging früh zu Bett und das Feuer brannte herunter. Das Stöhnen aus den Röhren war in diesem Teil der Höhlen weniger stark zu hören. Es schien wie ein Wind in der Ferne. Wenn man lauschte, war es, als fingerte es nach ihnen. Und als ob seine Kraft sich am Stein brach.

Maria horchte dem Wäscheschacht. Dieser Ton aus dem Innern der Festung zog sie an wie nichts Zweites auf dieser Welt. Ja, ihr Gleichmut, ihre Gelassenheit, ihre innere Ruhe, das waren nicht ihre einzigen Eigenschaften. Es kamen noch Leidenschaft und Ehrgeiz hinzu. Kräfte, die sie dem stöhnenden, ächzenden Röhrensystem entgegengehen ließ, um es zu erforschen. Der Wäscheschacht schien nach ihr gerufen zu haben, nachts mit unsichtbaren Tentakeln nach ihr zu greifen, um sie in sich hineinzuzerren. Irgendwann hatte sie nicht mehr widerstehen können. Sie hatte das ergründen müssen, was sie hören und fühlen konnte; das, was sie nachts zu sich rief. Und seit einem Jahr folgte sie diesem Ruf.

Die größte Kunst war es von Beginn an, unbemerkt aus der eigenen Höhle hinaus zu schleichen. Denn Elias wachte über sie. Es wäre ihm kaum leicht zu vermitteln gewesen, wohin sie in der Nacht wollte. Einfach war es für Maria nicht, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um sich aus der Höhle zu stehlen. Bald aber hatte sie herausgefunden, dass Elias von ein Uhr nachts bis fünf Uhr morgens am tiefsten schlief und dann die Flucht am einfachsten war. Sie folgte dabei einer inneren Uhr, die nur ungefähr den Stand der Nacht einschätzte. Doch hatte sie bisher bei der Bestimmung des Zeitpunkts zum Verlassen des Lagers Glück gehabt. Und genauso glücklich war sie bei der Festlegung des Moments der Rückkehr gewesen.

Die Röhren, in die sie zu kriechen gedachte, die waren gut zu besteigen und nicht besonders eng. Anfangs, wenn ihr ein Wäschesack entgegengekommen war, dann hat dieser sie durchaus zu ergreifen und mit in den Keller zurückzureißen vermocht. Das war zweimal geschehen, sodass ihr nächtlicher Ausflug im Bassin der Frischwäsche geendet hatte. Wie durch ein Wunder ohne Zeugen. Aber solche Rückschläge waren seltener geworden. Sie hatte in der letzten Zeit ein System erarbeitet, mit dem sie sich vortrefflich im Röhrensystem zurechtfand. Mittlerweile waren ihr Zugänge, Verwinkelungen und Bahnen bekannt, die wohl seit der Erbauung der Festung in Vergessenheit geraten waren. Sie hatte unwissend Dinge wiedergefunden, die seit Jahrzehnten verschollen waren. Sie hatte Räume in der Festung erreicht, von denen die meisten Bewohner nichts wussten. War Maria anfangs in den Schacht gestiegen, um das Labyrinth zu erforschen und den Tönen nachzuspüren, zeichnete sich bald ein neues, umtriebiges Motiv ab: sich verschiedene Zugänge zu Räumlichkeiten zu verschaffen und sie von ihrem Schacht aus einzusehen und zu belauschen.

Das Klappensiegel des Wäscheschachts zu jedem Raum der Festung war ein Rätsel der Erbauer. Es ermöglichte, vom Röhrensystem aus Einblick in die Räumlichkeiten dahinter zu nehmen. Unentdeckt lauschend zu verharren, ohne die Bewohner aufmerksam werden zu lassen. Ein wunder Punkt im Schutzgeflecht der Festung, ein blinder Fleck, mit dem Maria verschmolzen war. Sie wurde nicht bemerkt. Sie war wie ein Schatten – unbemerkt, ignoriert, ungesehen.

Ihre nächtlichen Spaziergänge waren zu Erkundungsfahrten in eine andere Welt geworden. In eine Welt, von deren Existenz Maria als Kind schon gewusst hatte, aber nur durch die zahlreichen Vorträge ihres Vaters, dessen Meinung zu den Dingen sie nicht immer teilte. Und durch die wenigen, von Elias ausgewählten Papiere, die sie zum Lesen hatte.

Im Dunkel der Rohre hatte sie vielfach die Möglichkeiten genutzt, die Menschen zu beobachten. Auf diese Weise hatte sie vieles gelernt, was ihr in den Kellern verborgen geblieben gewesen wäre. Es war eine Welt mit vielen Gesichtern. Sie lernte Intrigen, Parteilichkeiten und tagespolitische Verstrickungen kennen, doch auch menschliche Seiten, die ihr Elias bisher vorenthalten hatte. Tief hatte sie schon aus dem Kelch menschlicher Stärken und Unzulänglichkeiten getrunken. Aber sie genoss jeden Schluck und war berauscht von dem Trank. Es war ein Theater, sie war die Zuschauerin.

5

Für diese Nacht nahm sich Maria ein neues Stück des Rohrsystems vor. Da war diese Strecke, die etwas geheimnisvoll abzuzweigen und weiter nach oben zu führen schien. Es war immer viel Organisation notwendig. Aber diesmal dachte sie das erste Mal darüber nach, etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen. Der Weg konnte beschwerlich und lang werden, aber das schreckte sie nicht. Sie hatte gelernt, dass das Theater des Lebens umso seltsamer und eindrucksvoller wurde, je höher sie stieg. Man kann sagen: Desto fremder wurden die Menschen ihr. Und das weckte ihre Neugierde.