Read the book: «Blut und Scherben», page 3

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»Schon mal gehört.« Werner Tremmel überlegte. »Und das war in diesem Februar?«

Werner Blöhmer nickte.

»Wir hatten doch letztes Jahr im Oktober einmal diesen heftigen Schneefall«, wandte Patrick ein. »Da gab es in und um Berlin ein Wahnsinns Verkehrschaos.«

Werner Blöhmer zögerte, schüttelte dann langsam den Kopf. »Nee, nee, das mit Börder und Eckermann war im Februar oder sollte ich mich so irren? Jedenfalls habe ich danach nicht mehr viel von Börder gesehen, bis mir dann vier oder fünf Wochen später die Wohnungskündigung mitgeteilt wurde. In der Woche habe ich auch diesen Eckermann wiedergesehen. Der hat nämlich die Wohnung aufgelöst. Es gab noch Ärger wegen des Wohnungsschlüssels. Den soll Börder nämlich angeblich per Post geschickt haben, ist aber nie angekommen. Obwohl der Zweitschlüssel in der Wohnung lag, gab das eine ordentliche Rechnung, weil der Schlüssel auch für die Haustür hier unten passt. Das ging alles von der Kaution ab und die durfte natürlich die Sozialbehörde zahlen, nehme ich an.«

»Dieser Eckermann, Rainer Eckermann, hat also die Wohnung von Herrn Börder ausgeräumt?«, fragte Werner Tremmel. »Wann war das?«

»Am 30. April, die Wohnung war zum Ende des Monats gekündigt.«

»Und wer hat Ihnen das mit dem Wohnungsschlüssel erzählt?«, fragte Patrick Arnold. »Also, dass Herr Börder den per Post geschickt hat und dass er verloren ging?«

»Das hat Eckermann mir erzählt, weil ich ihm doch die Wohnung aufschließen musste. Das sah da vielleicht aus. Ich wusste ja, dass die da zuletzt gezecht hatten. Da war sogar noch dreckiges Geschirr. Dann hat mich Eckermann herausgedrängt und ich habe ihn machen lassen. Die hatten unten an der Straße einen kleinen LKW stehen, da kamen die Möbel und der Müll rein. Ich habe mir das natürlich angesehen und war hinterher auch in der leeren Wohnung. Die hatten natürlich nichts gemacht, nicht gestrichen und der Teppich war auch hin. Das habe ich selbstverständlich gemeldet. Da haben wir komplett renovieren müssen und der Kammerjäger war auch drin. Das wird dann wohl auch von der Kaution abgegangen sein.«

»Steht die ehemalige Wohnung von Herrn Börder noch leer?«

Werner Blöhmer schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, die Leute stehen Schlange. Da war die Farbe noch nicht trocken, da haben die mir schon einen Nachmieter geschickt. Mit dem gab es zum Glück bisher keine Probleme.«

Patrick notierte eifrig. Werner Tremmel nickte. »Sie sagen, Rainer Eckermann war bei der Wohnungsauflösung nicht alleine. Kannten Sie die anderen Männer, es waren doch Männer?«

»Ja, auch so Typen wie der Eckermann, aber die kannte ich nicht, habe sie nie vorher gesehen.«

»Hat Ihnen Herr Eckermann auch erzählt, warum Ken Börder seine Wohnung nicht selbst auflöst?«

Werner Blöhmer verzog das Gesicht. »Ja, das hat er wohl, aber nicht mir persönlich. Ich habe das erst ein paar Tage später erfahren, von ein paar Leuten aus dem Haus hier, mit denen Eckermann gesprochen hat. Börder musste sich angeblich ins Ausland absetzen, aber so weit ist er wohl nicht gekommen.«

»Was meinen Sie damit, dass Herr Börder nicht so weit gekommen ist?«, fragte Werner Tremmel.

»Naja, Sie haben doch gesagt, dass man ihn tot im Wald gefunden hat.«

»Stimmt, das haben wir gesagt.« Werner Tremmel nickte.

*

Hausmeister Blöhmer sah den beiden Kriminalern nach. Patrick Arnold und Werner Tremmel gingen zu ihrem Dienstwagen. Tremmel setzte sich ans Steuer. Sie fuhren in die nächste Seitenstraße und parkten dort sofort wieder, direkt neben einem riesigen Rhododendron, der jetzt Ende Juli in einem tiefen Violette blühte.

Werner Tremmel stellte den Motor ab. »Rainer Eckermann, der stand doch auch auf deiner Liste.«

Patrick nickte. »Der Kollege Leidtner hat das Umfeld unseres Opfers abklopfen lassen. In dem Bericht wurden dieser Rainer Eckermann und ein paar andere genannt. Eckermann haben wir gleich ganz oben auf die Liste gesetzt.«

»Treffer!«, sagte Werner Tremmel und lächelte. »Gute Arbeit, Patrick. Dann haben wir also unseren Tatverdächtigen. Passt doch alles zusammen. Der Streit im Februar, das fast zeitgleiche Verschwinden von Ken Börder, Rainer Eckermanns Rolle bei der Wohnungsauflösung, die Lüge, als er behauptet, dass Ken Börder sich ins Ausland abgesetzt hat. Da kommt einiges zusammen.«

»Soll ich Thomas anrufen, der hat bestimmt schon die Adresse und alles recherchiert?«

Werner Tremmel schüttelte den Kopf. »Das kannst du doch selbst ganz fix herausfinden. Ich will in diesem Fall ohne Umwege Nägel mit Köpfen machen.«

»Und das heißt?«, fragte Patrick.

»Der Chef soll beim Staatsanwalt einen Haftbefehl beantragen. Das muss jetzt schnell gehen. Du kannst dich inzwischen um die Daten von Rainer Eckermann kümmern.«

Werner Tremmel zückte sein Handy, öffnete die Fahrertür und verließ den Wagen. Er stellte sich hinter den Rhododendron und begann sein Telefonat. Patrick zögerte, dann rief er Thomas im Präsidium in der Keithstraße an und berichtete ihm von dem Gespräch mit Hausmeister Blöhmer.

»Fazit, es gibt eine Spur zu einer der Personen aus Ken Börders Umfeld«, sagte Patrick schließlich.

»Rainer Eckermann«, wiederholte Thomas. »Ich war nicht ganz untätig, obwohl Tremmel mich ja verhungern lässt ...«

»Komm, schieb das doch beiseite«, versuchte Patrick Thomas zu beschwichtigen. »Das wird sich irgendwann noch wieder ändern. Werner braucht immer etwas länger, um mit einem neuen Kollegen warm zu werden.«

»Ich will gar nicht mit ihm warm werden, ich will meine Arbeit machen.« Thomas holte Luft. »Ich habe jedenfalls weiter recherchiert. Was brauchst du?«

»Wo finden wir diesen Rainer Eckermann, oder hast du schon Kontakt aufgenommen?«

»Nein, nein, ich habe nur die Personendaten von Ingo Bayer und Rainer Eckermann abgefragt. Diesen Söhnke Robrak wollte ich mir gleich vornehmen. Dann sollten wir Lars auch noch einmal bemühen.«

»Deinen Kontakt zum Personenerkennungsdienst?«, fragte Patrick.

»Ja, Lars Meier«, bestätigte Thomas. »Natürlich müsste Tremmel sein Okay geben, wenn Lars tiefer einsteigen soll.«

»Das wird er machen. Jetzt interessiert uns erst einmal, wo wir Rainer Eckermann finden können.«

»Gut, soll ich es Tremmel schicken?«, fragte Thomas.

»Das lass mal lieber«, sagte Patrick schnell. »Verstehe das nicht falsch, aber es reicht, wenn ich die Infos habe.«

Thomas schwieg für ein paar Sekunden. »Ist raus.«, sagte er schließlich.

Patricks Handy kündigte wenig später den Eingang einer E-Mail an. Er las sich das Dossier durch, das Thomas zusammengefasst hatte. Dann näherte sich ein Schatten. Werner Tremmel öffnete die Fahrertür, setzte sich wieder in den Dienstwagen und schüttelte den Kopf.

»Scheiß Bürokratie«, fluchte er. »Natürlich sollte ich mich selbst im Büro des Staatsanwaltes melden. Wenn man einmal Rückendeckung von einem Vorgesetzten benötigt. Da sollen die sich hinterher aber nicht wundern, wenn man dann immer alles im Alleingang macht.«

»Und was sagt der Staatsanwalt?«, fragte Patrick vorsichtig.

»Nichts, der konnte nichts sagen, ich bin beim Assi gelandet, oder wie der sich schimpft. Assi oder Referent oder Bürokratenheini.« Werner Tremmel schüttelte erneut den Kopf. »Jetzt heißt es warten.«

Patrick nickte. »Aber wir können Rainer Eckermann doch schon einmal auf den Zahn fühlen.«

»Das ist nicht das Problem«, raunte Werner Tremmel. »Ich will den Mann dingfest machen, und zwar sofort. Ich habe da so ein Gefühl.«

Patrick überlegte. Er zögerte kurz. »Ich habe mir jedenfalls schon einmal die Personendaten besorgt. Rainer Eckermann wohnt in Tegel. Er ist Taxifahrer bei einem privaten Taxendienst, der seine Zentrale in Berlin-Lichtenberg, in der Nähe der Deutschen Post Zentrale in der Buchberger Straße hat. Vielleicht arbeitet er ja gerade.«

»Hast du die Nummer?«

Patrick nickte. »Soll ich mich nach ihm erkundigen?«

»Ja, aber ganz vorsichtig«, sagte Werner Tremmel. »Ich will nicht, dass irgendjemand Eckermann warnt.«

»Ich mach das schon.« Patrick tippte die Nummer des Taxidienstes in sein Smartphone ein und stellte das Telefon auf laut, während die Verbindung gewählt wurde.

»Taxiservice Lichtenberg, wo können wir Sie hinfahren?«, trällerte eine Frauenstimme.

»Guten Tag, ist Rainer Eckermann heute unterwegs?«, fragte Patrick, ohne seinen Namen zu nennen.

»Geht es um einen Krankentransport?«

»Bitte?«, fragte Patrick überrascht.

»Haben Sie ein Transportabo bei Herrn Eckermann. Wir können Ihnen auch einen anderen Fahrer vermitteln. Benötigen Sie einen liegenden Transport?«

»Oh, ich glaube das ist ein Missverständnis. Ich wollte eigentlich nur wissen, wo ich Herrn Eckermann erreichen kann, ob er gerade Taxi fährt.«

»Warten Sie, ich schaue nach.« Durch das Telefon war Tastaturklappern zu hören. Dann meldete sich die Dame des Taxidienstes nach ein paar Sekunden wieder. »So, Herr Eckermann ist diesen Monat nur nachts gefahren. Er hatte gestern frei, weil er am Freitag wieder die Tagschicht übernimmt.«

»Also ist er jetzt zu Hause?«, fragte Patrick und sah Werner Tremmel an.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wollen Sie eine Fahrt anmelden? Herr Eckermann hat morgen noch keine Terminfahrten. Wo dürfen wir Sie abholen, wann soll das Taxi bei Ihnen sein?«

»Nein, nein«, sagte Patrick schnell, »nicht nötig.«

»Herr Eckermann fährt die 533, das ist ein Großraumtaxi, ein Mercedes Vito. Das sollten Sie bitte bedenken, falls Sie Herrn Eckermann als Fahrer wünschen.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Patrick.

»Falls Sie einen liegenden Transport benötigen müssen Sie den bitte rechtzeitig vorher anmelden. Ansonsten kann Herr Eckermann eine Gruppe bis zu sieben Personen mitnehmen.«

»Ach so, nein. Sie sagten Nummer 533?«

»Ja, Wagen 533. Sie können direkt die Nummer buchen. Es ist ein Mercedes Vito, Siebensitzer für Liegendtransport umbaubar ...«

»Ja, danke für die Information.« Patrick legte einfach auf.

Werner Tremmel startete den Motor. »Wohin?«

Patrick bemühte die E-Mail, die ihm Thomas geschickt hatte. »Pavelmoor Straße. Die kenne ich sogar, die geht von der Holzhauser Allee ab. Du könntest über die A111 fahren und am Saatwinkler Damm runter.«

Werner Tremmel blinkte nicht, scherte einfach aus der Parkbucht, gab Gas und beschleunigte in der kleinen Straße. Er fuhr zunächst wieder auf die Bunger Allee und von dort über den Tegeler Weg auf die Stadtautobahn. Die Autobahn verlief am Flughafen Tegel ein kurzes Stück unterirdisch. Nach zwanzig Minuten fuhren sie auf die Holzhauser Allee und bogen von dort links in die Pavelmoor Straße ein. Zwischen Straße und Bürgersteig gab es links und rechts großzügige, mit altem Baumbestand bepflanzte Grünstreifen. Die gepflegten vier- und fünfstöckigen Häuser reihten sich auf beiden Straßenseiten wie bunte Perlen aneinander. In einigen Häusern waren im Erdgeschoss Ladenlokale eingerichtet.

»Es ist die Nummer 56«, gab Patrick an.

Werner Tremmel musste an dem Haus vorbeifahren, fand erst fast am Ende der Straße vor einer Schnellreinigung einen freien Parkplatz. Sie stiegen aus und gingen das kurze Stück zu Fuß. Die Nummer 56 war rot gestrichen. Die weißen Fenster wirkten neu.

»Er wohnt im zweiten Stock.« Patrick deutete auf das Klingelschild, auf dem feinsäuberlich der Name Rainer Eckermann stand. Der Name war nicht einfach mit der Hand eingetragen, sondern auf einem weißen Kunststoffplättchen mit schwarzen Buchstaben eingeprägt. Alle Klingelschilder waren so ausgeführt und boten damit eine gewisse Einheitlichkeit. Werner Tremmel übernahm die Initiative und drückte die Klingel. Gleichzeitig stellte er fest, dass die Tür ins Haus verschlossen war. Nach einer halben Minute klingelte er ein zweites Mal, aber es tat sich noch immer nichts.

»Sollen wir die Nachbarn fragen?«, schlug Patrick vor.

Werner Tremmel schüttelte den Kopf. »Ich will hier keine Wellen schlagen. Wir wollen ihn uns ganz vorsichtig einsacken. Keine Warnung, der soll keine Gelegenheit bekommen, abzuhauen.«

»Ich habe auch eine Telefonnummer.«

»Festnetz?«

»Handy«, antwortete Patrick. »Aber das kann uralt sein. Die Nummer wurde vor zwei Jahren bei einer Personenkontrolle festgehalten.«

»Das ist doch illegal«, sagte Werner Tremmel.

Patrick zuckte mit den Schultern. »Ist aber trotzdem irgendwie in den Akten gelandet. Soll ich?«

»Um Gotteswillen!«, raunte Werner Tremmel und drückte noch einmal die Türklingel. »Eckermann kann doch überall mit seinem Handy stecken. Eine bessere Warnung kann der sich doch gar nicht wünschen.«

Sie warteten erneut ein, zwei Minuten, bis Werner Tremmel entschied, dass ihr Auftritt bereits zu auffällig war. Er sah sich um und deutete auf das Stehcafé schräg gegenüber der Nummer 56.

»Hunger? Ich gebe einen aus.«

Sie blieben fast eine halbe Stunde und beobachteten das Haus. In der Zeit betrat oder verließ niemand die Nummer 56, lediglich der Postbote füllte einmal die Briefkästen, war aber schnell fertig. Werner Tremmel zog sich zweimal zurück, um den Staatsanwalt doch noch zu erreichen, was ihm aber nicht gelang. Die Laune des Kriminalhauptkommissars wurde immer schlechter. Sie gaben ihren Beobachtungsposten schließlich auf, fuhren zurück ins Präsidium. Unterwegs musste Patrick Arnold die Gerichtsmedizin und den Tatorterkennungsdienst anrufen. Werner Tremmel plante eine erste Besprechung zu dem neuen Fall.

*

Kerstin trocknete sich gründlich Hände und Gesicht ab, nahm das Bündel mit der benutzen Laborkleidung und brachte es in die Wäschekammer gleich neben den Toilettenräumen. Sie hatte zwei Obduktionen hinter sich und brauchte jetzt eine Kaffeepause. Im Krankenhaustrack der Ersten Gewaltschutzambulanz in der Birkenstraße gab es eine Cafeteria, die auch vom Personal des rechtsmedizinischen Instituts der Charité besucht wurde. Der Nachmittagsansturm war vorüber. An den Tischen saßen nur noch wenige Gäste, einige im Bademantel und Pantoffeln, die sich hier mit ihren Angehörigen trafen. Kerstin hatte sich am Selbstbedienungsautomaten eine Tasse Kaffee gezogen und eine Dreierpackung Kekse aus dem Tresen genommen. Sie bezahlte und trug ihr Tablett zu den Tischen. Sie steuerte auf einen freien Platz zu, sah dann aber Uwe Rand hinten in einer Ecke alleine an einem Tisch sitzen. Der Sektionsassistent nickte ihr zu und Kerstin schlug den Weg zu ihm ein.

»Ist hier noch frei, oder störe ich?« Sie lächelte Uwe an.

»Für dich doch immer, Frau Doktor.«

Er zog ihr einen Stuhl heran. Sie stellte ihr Tablett ab und setzte sich. Dann riss sie die Packung Kekse auf und bot ihm einen an. Uwe nickte und nahm sich das Gebäck.

»Das ist anständig von dir.«

»Und, viel zu tun?«, fragte Kerstin.

»Du hast die Liste doch gesehen. Es stimmt, ich bin ziemlich ausgebucht.«

»Aber nur von einem Kollegen«, deutete Kerstin an.

»Du meinst den Poli? Ja, der hält nichts von deinem Bäumchen wechsel dich.«

»So nennst du das?«

Uwe schüttelte den Kopf. »So nennt Dr. Pohlmann das. Ich fand das gleich ganz gut. So kann man mal sehen, dass jeder von euch Coronern seinen eigenen Stil hat. Die Erwartungen an einen Sektionsgehilfen sind ja auch von Kollege zu Kollege unterschiedlich.«

»Und wo liegt der Unterschied zwischen Dr. Pohlmann und mir?«, fragte Kerstin.

»Ach, das weißt du doch selbst.«

»Nein, wirklich nicht«, drängte Kerstin.

Uwe grinste, dann überlegte er. »Pohlmann redet nicht viel. Er erklärt nichts, bezieht seinen Sektionsassistenten nicht in den Teil der Obduktion mit ein, den er abarbeitet. Natürlich hat bei einer Obduktion jeder seine festgelegten Aufgaben. Er braucht mir nicht zu sagen, wie ich die Organe zu wiegen habe oder welche Instrumente er für die Körperöffnung benötigt.«

»Aber ich mache das doch auch nicht anders«, warf Kerstin ein. »Das wäre ja so, als wenn ich meinte, du würdest deinen Job nicht verstehen. Ich würde dir doch niemals vorbeten, was ich am Tisch brauche, es sei denn ich benötige etwas Bestimmtes.«

»Ja, das meine ich doch, dieses Bestimmte. Du weißt selbst, jede Obduktion ist anders. Bei Pohlmann ist jede Obduktion gleich, der gleiche Ablauf, die gleichen Ergebnisse.«

»Die gleichen Ergebnisse, das kann doch nicht sein.« Kerstin runzelte die Stirn.

»Nicht die gleichen Ergebnisse in dem Sinne«, erklärte Uwe. »Es gibt natürlich eine ganze Liste von Todesursachen oder Verletzungsmustern, aber es ist eine feste Liste, aus der sich Pohlmann meistens bedient. Er mag keine Überraschungen, er sucht auch nicht nach Überraschungen und darum findet er auch keine.«

»Das klingt aber nach grobfahrlässig«, meinte Kerstin. »Wenn das stimmt, geht das ja schon in Richtung Fehleinschätzungen. Das kann ich nicht glauben.«

»So krass ist es auch wieder nicht«, korrigierte sich Uwe sofort. »zu neunundneunzig Komma neun Prozent sind seine Gutachten ja korrekt. In der Realität sind es eben immer dieselben Todesursachen und Verletzungsmuster, aber dabei kann man schnell übersehen, wenn es mal anders kommt.«

»Und hast du ein Beispiel?«, fragte Kerstin.

Uwe zögerte. »Ja, aber ich meine was anderes, ich meine die Kommunikation während der Arbeit. Bei dir wird man einbezogen, bei Pohlmann ist man ein Außenstehender. Kaum ein Wort von dem was er mit seinen Augen sieht. Bei dir erfährt man alles, du beziehst deine Sektionsassistenten mit ein, das sagen auch andere Kollegen.«

»Das freut mich zwar, dass du mich auf diese Weise schätzt, aber bei Dr. Pohlmann müsstest du doch auch erfahren, was er denkt, was er bei der Obduktion für wichtig hält. Oder benutzt er kein Diktiergerät?«

»Doch, doch. Er hat zwar noch so ein altes Bandgerät, kein Digitales, und er benutzt es auch bei der Arbeit. Allerdings ist das Wie entscheidend. Pohlmann flüstert ins Gerät. Ich habe immer den Eindruck, er will nicht, dass man hört, was er sagt.«

»Naja, das wird er doch nicht mit Absicht machen. Du kannst es ihm doch sagen.«

»Oh nein, das macht der mit Absicht«, sagte Uwe und erhob kopfschüttelnd den Zeigefinger. »Wenn ich mal näher an den Tisch komme, wendet er sich gleich ab und spricht noch leiser.«

Kerstin musste lächeln. »So hat jeder seinen Arbeitsstil.«

»Ja, und dein Stil ist es, klar und deutlich ins Diktiergerät zu sprechen und uns hinterher noch das eine oder andere fachliche zu erklären, wenn es etwas Besonderes ist.«

»Und Dr. Pohlmann hat nie etwas Besonderes zu berichten«, folgerte Kerstin. Sie zögerte. »Du wolltest mir noch ein Beispiel nennen.«

Uwe zuckte mit den Schultern. »Ein Beispiel für was?«

»Du hast angedeutet, Dr. Pohlmann übersieht bei seinen Obduktionen Überraschungen, weil er sie nicht sehen will.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er nicht will. Er kann nicht, ich glaube, das ist nicht einmal Absicht.«

»Beispiel!«, forderte Kerstin.

Uwe biss sich auf die Unterlippe. »Pohlmann darf keine Exhumierungen machen, davon hat er meiner Meinung nach überhaupt keine Ahnung. Und noch viel schlimmer, ich glaube, er ekelt sich davor.«

»Also, wenn sich ein Gerichtsmediziner vor der Leichenöffnung ekelt, dann hat er seinen Beruf verfehlt.« Kerstin schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Dr. Pohlmann macht die Arbeit doch schon viel zu lange.«

»Diesen Ekel meine ich ja gar nicht«, sagte Uwe schnell. »Ich finde es auch nicht schön, Erdleichen zu obduzieren, aber was gemacht werden muss, macht man in diesem Job eben. Pohlmann macht es auch, aber sehr schnell und oberflächlich.«

»Ihr hattet doch gestern eine, was sagtest du, Erdleiche?«, fragte Kerstin.

Uwe nickte. »Der Tote aus dem Wald. Der war eigentlich gar nicht so schlimm. Vielleicht waren wir deshalb so schnell fertig, aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass Pohlmann sich nicht alles genau angesehen hat. Todesursache Denis axis und fertig. Selbst ich habe gesehen, dass die Leiche noch andere Verletzungen hatte.«

»Und die hat Dr. Pohlmann übersehen?«, fragte Kerstin.

»Nein, nein, das nicht, er hat sie nur zu schnell zu den Akten gelegt. Ich habe später den Bericht gelesen. Wie gesagt während der Obduktion erfährt man von Pohlmann ja nicht viel, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht.«

»Und was war im Bericht, das dich gestört hat?«

»Naja, Genickbruch ist doch ein weites Feld. Sturz, Schlag auf den Kopf oder Rücken, Gewaltsame Richtungsänderung, Scherbewegung des Kopfes und dir wird sicher noch mehr einfallen. Meines Wissens gibt es noch keine Tatwaffe, Pohlmann hat aber bereits eine Keule oder Ähnliches in seinem Bericht erwähnt.«

»Das ist doch nicht verkehrt«, warf Kerstin ein. »Das hätte ich unter Umständen auch diagnostiziert.«

»Aber du hättest zehnmal so lange gebraucht, um dir das Verletzungsmuster genau anzusehen, und hättest dann noch die anderen Möglichkeiten in deinem Bericht mit einbezogen. Die Zeit hat sich Pohlmann nicht genommen und sein Bericht ist meiner Ansicht nach sehr oberflächlich.«

»Er hat halt große Erfahrung und sieht die Fakten sofort.« Kerstin glaubte selbst nicht, was sie sagte und das merkte auch Uwe.

Er schüttelte den Kopf. »Der Tote kam aus der Erde, Verwesung und andere Prozesse. Ja, das habe ich von dir gelernt, weil du dich bei der Arbeit mitteilst. Pohlmann hat nicht so gründlich gearbeitet, wie du es getan hättest.«

»Was denkst du, soll ich ein zweites Gutachten erstellen?«

Uwe machte eine abwehrende Geste. »Herr Gott, diese Entscheidung kann ich mir nicht anmaßen. Die Polizei wird bei den Ermittlungen schon die richtigen Schlüsse ziehen, auch wenn Pohlmanns Aussage zum Todeszeitpunkt ebenfalls nicht astrein war.«

»Und was hat er da falsch gemacht?«, fragte Kerstin.

»Ich habe jetzt schon einige ausgebuddelte Leichen gesehen, weil das ja dein Spezialgebiet ist und sich die Kollegen nicht um so einen Job reißen. Ich glaube, ich kann unterscheiden, ob ein Körper ein Jahr oder nur ein paar Monate in der Erde lag. Wie gesagt, unser Toter sah ja noch vergleichsweise gut aus, wenn der Gestank nicht gewesen wäre.«

»Stimmt, der Verwesungsgeruch ist nicht unbedingt ein Indiz«, gab Kerstin zu. »Aber es gibt Leichen, die sehen nach drei Jahren besser aus, als andere nach sechs Monaten.«

Uwe zuckte mit den Schultern. »Lass uns das Thema beenden. Vielleicht hat Pohlmann mit seiner Obduktion ja doch alles erkannt und richtiggemacht, mich würde es allerdings wundern.«

Kerstin nickte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch gar nicht von ihrem Kaffee getrunken hatte. Sie griff nach der Tasse und fühlte gleich, dass sie nur noch lauwarm war. Uwe sprang sofort auf.

»Sorry, meine Schuld, ich habe mal wieder zu viel gequatscht. Das kommt davon, wenn man im Betriebsrat ist und die Kollegen immer einnorden muss. Ich hole uns jetzt mal zwei frische Tassen. Die Zeit hast du doch noch?«

Bevor Kerstin etwas entgegnen konnte, war Uwe schon auf dem Weg zum Tresen.

*

Marek hatte Thomas am Nachmittag angerufen und ihn über die Fakten des neuen Falles informiert. Thomas hatte dann aber erst von Patrick Arnold erfahren, dass KHK Werner Tremmel am Nachmittag zu einer großen Runde eingeladen hatte. Der Tatorterkennungsdienst und die Gerichtsmedizin sollten präsentieren, was sich seit dem Leichenfund am Vortag ergeben hatte. Thomas trug den Beamer in den Besprechungsraum im zweiten Stock der Keithstraße 30. Er schloss den Laptop an und richtete die Leinwand aus. Die Damen aus dem Sekretariat hatten sich gefreut, dass er die Bewirtung selbst übernahm, je eine Kanne Kaffee und Tee kochte und das Geschirr in den Besprechungsraum brachte. Er baute alles auf, sah dabei immer wieder auf die Uhr und hoffte, dass nicht Werner Tremmel der Erste war, der im Raum erschien.

Dann klopfte es an der offenen Zimmertür. Dr. Pohlmann trat ein. Er gab Thomas die Hand, suchte lange nach einem geeigneten Platz, um dann auf das Laptop zu starren.

»Ich habe richtige Folien dabei«, sagte er schließlich. »Wir hatten hier doch immer einen Overheadprojektor.«

»Hatten wir«, bestätigte Thomas.

Er ging zu einem der Wandschränke und fand das Gerät dort auch. Er stellte es auf den Tisch neben den Laptop. Die Lampe des Projektors funktionierte noch. Dann waren Stimmen auf dem Flur zu hören. Thomas blieb sitzen. Als erster betrat Hans Schauer den Raum, gefolgt von Torsten Regener. Thomas erhob sich und begrüßte die Kollegen, die er seit Jahren kannte.

»Unsere Schlecht-Wetter-Typen sind da, Schauer und Regener, lange nicht gesehen.«

»Der Witz ist älter als dieser Overheadprojektor dort auf dem Tisch«, entgegnete Torsten.

Sie gaben sich die Hände, hatten aber nicht viel Zeit für einen Plausch, weil Patrick zwei Minuten später erschien. Ihm folgten Werner Tremmel und Marek, die im Gespräch waren.

»Soll ich Roose anrufen, damit er seinen Urlaub um einen läppischen Tag verkürzt«, raunte Werner Tremmel gerade. »Wir brauchen hier volle Unterstützung und zwar von der Chefetage.«

»Die haben Sie ja mit mir«, entgegnete Marek, »aber wenn ihnen das nicht reicht, müssen Sie das selbst mit meinem Chef klären.«

»Das werde ich auch.«

Werner Tremmel nickte heftig, dann sah er Thomas neben Laptop und Overheadprojektor sitzen und verstummte. Thomas ließ sich nicht irritieren, stand auf und bot den Anwesenden Kaffee und Tee an. Alle setzten sich an den U-förmigen Tisch und Werner Tremmel eröffnete die Sitzung, nachdem er Thomas noch ein paar Sekunden mit seinem Blick durchbohrt hatte.

»Danke, dass Sie alle erschienen sind. Die Leiche von Ken Börder wurde erst vor knapp achtzehn Stunden aufgefunden, wir sind also noch in einer sehr frühen Phase der Ermittlungen. Bevor die einzelnen Fraktionen über ihre Untersuchungsergebnisse berichten, würden wir gerne ein kurzes Bild des Opfers geben, soweit diese Fakten noch nicht bekannt sind. Patrick, du hast das Wort.«

Patrick Arnold übernahm, nachdem Thomas die Präsentation aufgerufen hatte, die schon auf dem Desktop des Laptops bereitlag.

»Der Tote heißt Ken Börder, geboren am 3. Mai 1979 in Würzburg.«

Die erste Folie zeigte eine Fotografie des lebenden Ken Börders, die nicht von seinem Personalausweis oder Führerschein stammte. Patrick fuhr fort. »Der Vater ist unbekannt, die Mutter im Jahre 2009 verstorben. Ken Börder hatte eine vier Jahre ältere Halbschwester, die 1984 an einer nicht öffentlichen Badestelle im Main ertrunken ist. Nach diesem Vorfall kam Ken Börder für drei Jahre ins Heim, zog dann aber wieder zur Mutter zurück.« Patrick wechselte auf die zweite Folie. »Ken Börder machte nach dem Hauptschulabschluss eine Ausbildung zum Speditionshelfer. In den Jahren 1997 bis 2001 verpflichtete er sich für vier Jahre bei der Bundeswehr. Den kompletten Dienst leistete er in der Balthasar-Neumann-Kaserne im Kraftfahrausbildungszentrum und im Sanitätszentrum ab. Dort erwarb er auch den Führerschein der Klasse CE für Lastzüge und Sattelkraftfahrzeuge. Dieser Führerschein wurde 2001 in einen regulären EU-Führerschein übertragen, da Ken Börder nach seiner Bundeswehrzeit eine Stellung bei einer Berliner Spedition annahm. Die Firma meldete 2003 Insolvenz an, Ken Börder wurde allerdings schon Mitte 2002 entlassen. Seither galt er als arbeitssuchend. Ken Börder ist nach 2003 mehrfach straffällig geworden.«

Patrick gab eine Kurzzusammenfassung von den Rechercheergebnissen, die Thomas und er am Vormittag von Lars Meier erhalten hatten. Er nannte auch die Namen der Männer, die mit Ken Börder in Verbindung standen, betonte den von Rainer Eckermann aber nicht übermäßig. Er erwähnte auch nicht, dass Rainer Eckermann die Wohnung von Ken Börder aufgelöst hatte. Werner Tremmel hatte vor, seinen Haupttatverdächtigen erst zum Ende der Sitzung zu verkünden.

»Ken Börder war zuletzt in Charlottenburg, in der Bunger Allee 17, wohnhaft«, fuhr Patrick fort. »Der Vermieter hat Herrn Börder allerdings im März dieses Jahres abgemeldet, ohne eine Folgeadresse anzugeben. Dies ist möglich, weil die Meldebehörde annehmen muss, dass die betreffende Person anderweitig gemeldet ist, wenn der angemietete Wohnraum vom Mieter oder Vermieter gekündigt wurde.«

Mit dieser Information schloss Patrick seinen kurzen Vortrag. Werner Tremmel bedankte sich. Es war üblich, erst alle Fakten zu präsentieren und so war Marek jetzt an der Reihe. Er steckte seinen Datenstick selbst in den USB-Port des Laptops und wartete, bis Ordner und Datei erkannt wurden. Dann öffnete er die Präsentation.

Marek wiederholte die wesentlichen Fakten, die er Werner Tremmel bereits am Leichenfundort mitgeteilt hatte. Angaben zur Kleidung des Toten, die Tatsache, dass Ken Börder eine große Menge Bargeld bei sich gehabt hatte, weitere Informationen über den Inhalt der Brieftasche. Auf dem Beamer erschienen die Fotografien einzelner Geldscheine, Vorder- und Rückseite von Personalausweis und Führerschein und einige Bilder von der Brieftasche selbst. Auf der zweiten Folie präsentierte Marek die unscheinbare Armbanduhr. Das Lederarmband hatte in der feuchten Erde gelitten. Das Uhrglas war leicht zerkratzt, die Einfassung dunkel angelaufen. Die dritte Folie zeigte den Schlüsselanhänger, ein etwa fünfmalzwei Zentimeter großer Boxhandschuh aus Leder mit angenähten weißen Schnüren. Am Schlüsselring hing ein moderner Bohrmuldenschlüssel mit quadratischem Griff. Es war der fehlende Schlüssel zu Ken Börders Wohnung, den Hausmeister Blöhmer gegenüber Werner Tremmel erwähnt hatte.

»Alle persönlichen Gegenstände des Toten, also Brieftasche samt Inhalt, Schlüsselanhänger mit Schlüssel und die Uhr haben wir in der Kriminaltechnik untersucht. Die Sachen liegen jetzt für eine DNA-Analyse bereit und können von Herrn Dr. Pohlmann angefordert werden. Sofern nicht gewünscht ist, dass die Kriminaltechnik diese Untersuchungen durchführen lässt.«

Dr. Pohlmann nickte. »Ich werde mich zu gegebener Zeit darum kümmern.«

»Danke«, sagte Werner Tremmel mit einem Lächeln in Richtung des Gerichtsmediziners.

Marek fuhr mit seinen Ausführungen fort. »In der unmittelbaren Umgebung des Leichenfundortes haben wir keine Objekte gefunden, keine Grabewerkzeuge, keine Waffen und auch keine weiteren persönlichen Gegenstände, die möglicherweise dem Toten zuzuordnen wären. Wir haben auch die dem Toten fehlenden Gliedmaßen nicht auffinden können.«