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Read the book: «Das Schweigen der Prärie»

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Denen aus meinem Volke

die bei der großen Landnahme

dabei gewesen sind — ihnen und

ihren Geschlechtern widme ich

diese Aufzeichnungen

O. E. Rölvaag St. Olafs College Northfield, Minn.

Die Riesen waren auf Erden in

jenen Zeiten ...; das sind die

Recken der Ur-Zeit, die hochberühmten.

Genesis 6, Vers 4.

Der sinkenden Sonne nach

I

Endlose Ebene. — Ebene ringsum, Ebene bis zum Horizont. Darüber ein Himmel — sprühend klar, heute und morgen und alle Tage.

Und Sonne! — Und immer noch mehr Sonne!

Jeden Morgen ließ sie den Himmel aufflammen; stieg tagsüber in bebendem Gelb empor; verglomm zum Abend in allen Tönen von Rot und Purpur. Fegte mit einem Windhauch die weite Fläche, wellte sie gelb und blau und grün. Auch ein Schwarz jagte bisweilen wie ein wogender Schatten darüber hin — bisweilen.

Jetzt war es später Nachmittag. Durch das Gras bahnte ein Häuflein Menschen sich seinen Weg. Ihre Fährte nahm sich aus wie der Strudel hinter einem Boot, nur daß sie sich wieder schloß, statt sich zu weiten.

»Tissch-ah,« sagte das Gras. — »Tissch-ah, tissch-ah!« schrie es und richtete sich sogleich wieder auf, um diesem merkwürdig Harten nachzuschauen, das es so geschwinde zu Boden zwang und sogleich seines Weges weiterzog. —

Ein breitschultriger, stämmiger Mann schritt an der Spitze des Zugs. Er sah in dem hohen Gras und unter dem grobstrohigen, breitkrempigen Hut kürzer aus, als er eigentlich war. Ein paar Schritt hinter ihm kam ein etwa neunjähriger Bub. Sein helles Haar hob sich scharf von dem nußbraunen Nacken ab; bei dem Mann an der Spitze waren Haar und Nacken von gleichem Braun. Nach dem Aussehen und mehr noch dem Gang war leicht zu erraten, daß hier Vater und Sohn gingen.

Hinter den beiden stampfte bedächtig ein Gespann Ochsen vor einem Gefährt, das vermutlich einstmals ein Wagen gewesen war, jetzt aber ob mannigfacher und erklecklicher Gebrechen längst zum Gerümpel gehörte, — wo der Mann es denn auch tatsächlich gefunden hatte.

Über dem Wagengestell bogen sich lange Weidengerten zu Bögen wie im Chor einer Kirche, — sechs waren‘s im ganzen. Darüber lagen, sorgsam am Wagen befestigt, zu unterst zwei handgewebte Decken, die in alten Zeiten den Wänden eines Herrensitzes zur Zierde gereicht hätten; über den Decken wieder lagen zwei Schafpelze mit der Wolle nach innen. — Das Wageninnere war bis an den Planhimmel vollgepackt: eine Auswandererlade stand zu unterst — sie war ungemein groß und beanspruchte das meiste des Raumes; rings um sie und darüber waren Möbel, Werkzeug, Geräte, Kleidung dicht verstaut.

Rückwärts an dem Wagen war noch ein Gefährt vertäut, unverkennbar selbstgefertigt und höchst eigenartig, jedoch so solide gebaut, daß es schon allein darum einen Platz in einem Museum verdient hätte. War übrigens tatsächlich so etwas wie ein Wagen oder wenigstens als solcher beabsichtigt. Es verfügte über zwei aus Bretterenden zusammengezimmerte Räder und ein Gestell, das bedeutend geräumiger war als das des vorderen Wagens. Auch hier war alles vollgeladen und gehörig festgeseilt. Beide Wagen quietschten und krachten geradezu grausig, so oft sie über einen Grasschopf in eine Bodensenkung kippten oder aus einem Loch heraufrumpelten.

Ein gut Stück hinterher zockelte eine rotscheckige Kuh; der Zug karrte so gemächlich dahin, daß sie sich ab und zu ein paar Maulvoll Gras abrupfen konnte. Und die hatte sie auch nötig; denn nun war sie schon den ganzen lieben langen Tag schwanzschwingend hinterher getrödelt und hatte abends für die Milch zum Habermus für alle die Menschen da vor ihr aufzukommen.

Über das Gestell des vorderen Wagens war ein ungehobeltes Brett quer gelegt. Darauf saß rechts eine Frau mit einem Kopftuch; sie lenkte die Ochsen. An ihrem linken Schenkel lehnte der blonde Kopf eines schlummernden Dirnleins; bisweilen strich die Hand der Mutter leise darüber hin, um die Mücken zu verscheuchen, die sich mit dem Abend einstellten. Zur Linken des Kindes wieder saß ein Bub von etwa sieben Jahren— gutgewachsen, sonnengebräunt und mit etwas Leuchtendem im Blick. Er hatte die Hände ums Knie gefaltet und guckte ins Weite.

Das war der Per Hansen mit den Seinen und aller seiner Habe, auf Wanderung begriffen von Filmore County, Minnesota, nach Dakota Territory; dort wollte er Land nehmen und sich einen Hof erbauen, den man weit und breit rühmen sollte; dort draußen fehlte es, wie er gehört, nicht an Gelegenheit. — Per Hansen schritt voran, um die Richtung festzulegen; Ole, der Bub, ›der Olamann‹ genannt, hielt sich dicht dahinter und ›befuhr die Strecke‹; die Beret, Per Hansens Weib, lenkte die Ochsen und hütete Klein-Annemarie, die im Hausgebrauch das Gössel Junges Gänschen. hieß und gar so putzig war. Hans Christian — stets zum Unterschied von seinem Paten, der auch Hans hieß, der ›Große-Hans‹ genannt — saß neben der Mutter und paßte auf, daß jeder das Seine tat. — Und Buntscheck, die Kuh, folgte den Schweif schwingend und wedelnd dem Trupp immer weiter in die Unendlichkeit hinein.

»Tissch-ah, tissch-ah!« schrie das Gras. — »Tissch-ah, tissch-ah!«

II

Wie jämmerlich und zwergenhaft sich der Trupp ausnahm, als er durch die endlose Einöde am Himmelsrand entlang kroch! Keine Spuren von Weg oder Steg. Und hatte sich das Gras erst wieder aufgerichtet, so vermochte niemand mehr zu sagen, woher das Häuflein Menschen gekommen oder wohin es gegangen war. Der Per Hansen mit Weib und Kindern, mit Wagen und Kuh und allem, was sein war, hätte soeben vom Himmel herabgefallen sein können. Jedenfalls schien er jetzt vorzuhaben, in den Himmel hineinzuwandern; denn der Kurs blieb stets der nämliche: geradeaus auf den westlichen Himmelsrand zu.

Einsam karrte sich der Zug weiter in die blaugrüne Unendlichkeit hinein, — immer tiefer hinein, und abermals tiefer hinein.

Und es ging der sinkenden Sonne nach.

Jetzt waren sie schon über drei Wochen unterwegs. Sie hatten Blue Earth durchfahren, Chain Lakes hinter sich gelassen, waren eines Tages in Jackson am Demoines River eingezogen. Menschenalter schienen seither verstrichen. — Von dort war es weiter gegangen nach Westen, bis nach Worthington; darauf an den Rock River. Und dann hatte der Per Hansen westlich vom Rock River plötzlich die Spur verloren. War auch später nicht wieder auf sie gestoßen.

Und wußte jetzt nicht, wo er sich eigentlich befand. Aber er hatte es gewissermaßen im Gefühl, daß Split Rock Creek Creek = Bach. hier so irgendwo herum lag, in der Westsonne. Und kam er überhaupt einmal an den, dann war er auch der Mann, sich weiter zurechtzufinden! — War nur so merkwürdig, daß er nicht schon längst beim Split Rock Creek war? Hätte eigentlich schon seit etwa drei Tagen dort sein müssen. Und immer noch nicht die leiseste Andeutung!

Die Wagen knirschten und krachten. Per Hansens Augen suchten und suchten; das bärtige Antlitz wandte sich von Südwest nach Nordost und wieder nach Südwest. Zwischendurch suchte er die Ebene ab von sich bis zum Himmelsrand. Dann wieder schnupperte er, etwa wie ein Tier, das Witterung sucht. Unablässig guckte er auf die alte Silberuhr in seiner Linken, ließ den Blick spähend über den halben Horizont gleiten.

Die Uhr ging jetzt schon auf sechs; seit drei Uhr heute nachmittag war er des Kurses wieder sicher gewesen; denn da hatte er mit Hilfe von Uhr und Sonne Peilung genommen. — Ja, hier hieß es, unbekümmert die Zeit ausnutzen.

So wanderten sie schweigend vorwärts. —

Endlich sagte er zu dem Buben hinter ihm, ohne aber seinen Schritt zu mäßigen:

»Treib du jetzt eine Weile die Ochsen an, du Ola; und schwätz dabei ein wenig mit der Mutter, daß ihr die Zeit nicht so lang wird. — Und halt derweile Ausguck, so gut du kannst.«

»Ich bin aber noch gar nicht müd!« zauderte der Bub.

»Geh du nur! Ich spür‘s doch auch; wollen uns bald ein Mus kochen. Mußt aber noch eine Weile aufs Abendrot zusteuern.«

»Glaubst du, wir erreichen die anderen heut abend?« Der Bub zögerte noch immer.

»Aber nein! Bist nicht gescheit! Die sind weit voraus. — Schau gut um dich, und entdeckst du Verdächtiges, so rufe.«

Der Per Hansen sah wieder auf die Uhr und schritt unverdrossen weiter. Der Ole sträubte sich nicht mehr, trat neben die Fährte und wartete auf den nachfolgenden Wagenzug. Der Große-Hans sprang schnell herunter, und der andere kletterte hinauf.

»Habt ihr etwas von ihnen entdeckt?« fragte die Mutter.

»O nein — vorläufig noch nicht,« sagte der Olamann leichthin.

»Kriegen wir sie überhaupt je wieder zu Gesicht, dann mag es auch noch eine Weile währen!« sagte sie vor sich hin. »Hier geht‘s gewiß bis ans Ende der Welt und noch ein Stück weiter!«

Der Große-Hans, der noch neben dem Wagen herlief, hörte es und sah auf; kindliche Unerschrockenheit strahlte von dem braunen Gesicht, — wie konnte die Mutter nur alles so trüb ansehen! »Aber wenn die und wir immer der Sonne nachfahren, dann müssen wir ja doch am selben Orte landen? — Die Sonne, die hält Kurs!«

Das hatte er gestern abend den Vater sagen hören. Er fand das so sonnenklar, erstens, weil der Vater es gesagt, zweitens, weil es sich so selbstverständlich und richtig anhörte. — Aber jetzt lief er zum Vater vor und faßte dessen Hand; so fühlte er sich am besten geborgen.

Die beiden wanderten nebeneinander her; bisweilen lugte der Bub verstohlen in das Gesicht über ihm, das so ernst und unerschütterlich war wie die Prärie selber. Er hätte eigentlich gern ein wenig geplaudert, aber es fiel ihm nichts ein, was sich männlich genug ausgenommen hätte. — Allmählich aber schien ihm das Schweigen doch gar zu lang zu werden; er versuchte so ganz nebenher und möglichst wie der Vater, ein paar Wörter fallen zu lassen:

»Wenn ich erst groß bin und Pferde habe, dann baue ich einen Weg über dies ewige Flachland hier, und dann — und dann ramme ich Pfähle ein, nach denen sich die Leut richten können. — Glaubst du wohl, daß das geht?«

Ein Lächeln blinkte in dem Bart: »Aber gewiß, Großer-Hans, das bringst du alleweil fertig. — Vielleicht, daß ich dann auch die Zeit hab, dir ein paar Arbeitsschichten dabei zu helfen!«

Der Bub merkte am Tonfall, daß der Vater gut aufgelegt war, und das stimmte ihn so fröhlich, daß er sich vergaß und tat, was die Mutter nicht leiden konnte: er fing an zu pfeifen, und er versuchte ebenso große Schritte zu nehmen wie der Vater. Aber bei ihm sagte das Gras bloß: »Swisch-ih, swisch-ih!«

Und weiter ging es nach Westen — tiefer hinein ins Abendrot.

Die Mutter hatte Klein-Annemarie auf den Schoß genommen und lehnte sich zurück; das tat dem müden Rücken wohl. Das Spielen und Kosen und Plaudern des Kindes ließen sie Sorge und Furcht vergessen — und die Unendlichkeit, die sie von allen Seiten umdrohte. — Der Ole neben ihr lenkte die Ochsen wie ein Großer; und woran es auch liegen mochte: er brachte den Ochsenbeinen mehr Beweglichkeit bei als sie — das sah sie selber; seine geschwinden Augen ließen nichts in der Nähe oder Ferne unbeachtet.

Die große Ebene stieg jetzt am Horizont an; es glich eigentlich einer Schwellung unter der Haut. Der Per Hansen hielt scharf auf den höchsten Punkt zu, obgleich es ein wenig vom Kurse abwich.

Die Nachmittagsbrise flaute ab. Die Sonne verlor unmerklich ihren Goldglanz, bekam ein rotes Licht, das seltsam und matt erglänzte und doch noch viel Macht besaß, — verglomm dann in Rotviolett. Sie wuchs zu gewaltiger Größe an, sank der Ebene näher und näher, sank mit eins fröstelnd geschwinde. — Die Erhabenheit des Abends nahm sie alle gefangen; die Ochsen schüttelten die Ohren, Buntscheck machte sich Luft in einem langgedehnten Brüllen, das in der Stille zähe dahinstarb. Gerade als die Sonne ihr Auge schloß, wuchs die gewaltige Einöde empor. Es wurde plötzlich so öde über der Landschaft; etwas Kaltes, Erloschenes verwebte sich mit der Stille. Hinter ihnen lag jetzt tief grüne Widde Die Bezeichnung für die weite öde norwegische Hochebene, hier von den norwegischen Fischerwirten auf die Prärie angewandt. mit schwarzblauem Dunkel darüber. — — — Dicht über der Höhe in Nordwest schwebten leichte Gutwetterwolken; sie hatten sich mit blankgeputzte Goldkanten geschmückt, die milde leuchteten. Die Wolken schwebten so leicht dahin, als wären sie ohne Schwere.

Die Mutter saß wieder aufrecht; das Kind hielt sie noch immer auf dem Schoß. Per Hansen und der Große-Hans schritten weit voran durch den Abend.

Während der beiden letzten Tage war der Per immer gar so weit vorausgegangen, und sie meinte zu wissen weshalb.

»Per,« rief sie müde, »rüsten wir nicht bald zur Nacht?«

»O gewiß.« Er ging jedoch keineswegs langsamer.

Die Mutter weinte jetzt leise. Der Olamann tat, als merke er nichts, obwohl er große Klumpen im Halse hinabwürgen mußte; er spähte unermüdlich umher.

»Vater!« rief er nach einer Weile, »ich sehe im Westen Wald!«

»Ho, wirklich, du Gernegroß? Den haben der Große-Hans und ich schon lange gesehen!«

»Wo ist er, wo?« fragte der Große-Hans eifrig.

»Da unten links am Höhenzug fängt er an und zieht sich nach hinten herum. — Sieht übrigens nicht gerad nach viel was aus.«

»Glaubst du, Vater, daß sie dort sind?«

»Aber nein! — Doch haben wir die Richtung.«

»Sind die anderen hier gewesen?«

»Freilich, — jedenfalls nicht weit ab. — Ein Bach soll da sein, der so etwas wie Split Rock Creek heißt, oder wie‘s der Kuckuck auf Englisch nennen mag.«

»Wohnen hier Menschen, glaubst du?«

»Menschen? Bist nicht gescheit, Bub! In diesen Gegenden gibt‘s überhaupt keine Menschen!«

Die blaudunkle Finsternis legte sich jetzt schnell und dicht um die kleine Schar; man konnte die Nacht kommen fühlen; sie atmete Kühle aus.

Endlich blieb Per Hansen stehen: »Nein, jetzt aber stopp; am Ende krepieren wir sonst noch mitsamt den Tieren.« Damit wandte er sich nach den Ochsen um, streckte die Arme seitwärts wie Querbalken an einem Kreuz, rief ein langgezogenes »Ho-o!« — und damit hatte das Karren für diesen Tag ein Ende.

III

Die Vorbereitungen zum Abend und zur Nacht waren schnell getroffen; jeder hatte seine bestimmte Obliegenheit und war jetzt gut eingeübt.

Der Große-Hans sorgte fürs Holz; das Holzbündel hing unter dem hinteren Wagen und bestand aus Kleinholz und Reisig vom letzten Wäldchen, an dem sie vorbeigekommen waren. — Der Ole richtete die Feuerstätte her; zwei an dem einen Ende gespaltene Eisenstäbe wurden in die Erde gebohrt und ein dritter quer darüber gelegt. Ferner war der Ole dafür verantwortlich, daß bei jeder Rast genug Wasser in dem Holzfäßchen war. Außerdem hatte er der Mutter zur Hand zu gehen. — Der Vater besorgte das Vieh. Er hob zuerst das Joch von den Ochsen und koppelte sie los; dann molk er Buntscheck und ließ sie laufen. Zuletzt richtete er unter dem Wagen das Nachtlager ein für sich und die Seinen. — Während die Mutter das Aufkochen im Kessel abwartete, deckte sie den Tisch. Sie breitete eine Decke auf dem Erdboden aus, legte für jeden einen Löffel darauf, setzte zwei Schalen zur Milch hin und holte eine Schüssel für das Mus. — Und außerdem durfte sie das Gössel nicht aus den Augen verlieren, das im Grase herumtappelte, hinfiel, vergnügt quietschte, wieder aufstand, mit dem Fuß in das lange Röckchen trat, von neuem hinpurzelte und lachte, daß es durch den Abend trillerte; von Zeit zu Zeit ließ sich die warnende Stimme der Mutter vernehmen.

Der Große-Hans war zuerst mit der Arbeit fertig. Er zögerte einen Augenblick, begab sich dann aber doch auf eigene Faust auf eine Spritztour nach Westen. Wie weit mochte es wohl bis zu dem Hügel da vorne sein? Spaßig zu sehen, wie es wieder westlich von dem aussah! Vielleicht waren die anderen dort? Denn irgendwo mußten sie doch sein? Dann wollte er sie mit Indianergeheul überraschen und ihnen fürchterliche Angst einjagen! — Er war schon ein gut Stück gegangen, als er sich umsah. Und da durchfuhr ihn ein Schreck: die Wagen waren jetzt Pünktchen auf dem Boden eines unendlichen schummerigen Raumes! Ich muß schauen, schleunigst wieder heimzukommen, überlegte er mit offenem Mund; die Mutter hat jetzt auch gewiß das Mus bereit! Und er machte unverzüglich kehrt. Aber selbst der Gedanke an Mutter und Mus gaben ihm noch nicht das entbehrte Sicherheitsgefühl, und so nahm er seine Zuflucht zu einem Kirchenlied, das er laut und herzlich falsch vor sich hersang, bis ihm der Atem verging. Aber da wuchsen sich die Wagen auch schon wieder groß, und es war nicht mehr ganz so gefahrvoll.

Die Mutter rief jetzt zum Essen. Auf der Decke standen zwei Schalen mit dem Habermus, eine größere für den Vater und die beiden Buben, eine kleinere für die Mutter und das Gössel. Die gesamte Abendmilch war auf die beiden Schalen verteilt. Die arme Buntscheck gab in diesen Wandertagen nicht viel her! — Der Vater verzichtete auch heute abend auf seine Milch: sie habe Beigeschmack, und er trinke lieber Wasser zum Mus. Als aber auch der Ole sich über den Geschmack der Milch zu beschweren begann und lieber Wasser haben wollte, da hieß ihn der Vater gefälligst den Schluck Milch hinuntertrinken. — Mehr als die Milch und die beiden Schüsseln Mus bescherte der Abendbrottisch nicht.

Plötzlich gerieten der Ole und der Große-Hans sich in die Haare; der eine warf dem andern vor, er esse zu weit da hinein, wo das Mus schon kalt geworden. Der Vater hörte erheitert zu. Dann stellte er Frieden her, indem er mit seinem Löffel drei Linien über die Musoberfläche zog.

»Schaut her, ihr Buben! Dies ist dein Landstück, Großer-Hans; nimm es in Besitz und gib dich damit zufrieden! Der Ole muß einen Morgen Land mehr haben, weil er größer ist als du. Und nun stopft euch die Mäuler!« Der Per Hansen selbst bekam an dem Abend das kleinste Mus-Areal.

Im übrigen wurde bei Tisch nicht gesprochen. Auf ihnen allen lastete etwas, und sie vermochten es nicht abzuschütteln.

Als der Vater gegessen, leckte er den Löffel gründlich ab, wischte ihn am Hemdärmel trocken und warf ihn auf das Tischtuch. Die Buben machten‘s ihm nach; nur das Gössel wollte seinen Löffel in sein Röcklein einwickeln und ihn bis morgen früh da aufheben.

Jetzt waren sie fertig. Und das Kleinste sagte mit feinem Stimmchen das Tischgebet her: »Hab Dank, o Gott im Himmelreich, der du uns geschaffen hast ... — Und jetzt lege ich mich zu dir!« erklärte sie, kaum daß sie das Amen vorgebracht, kletterte in den Schoß der Mutter und hing sich ihr an den Hals.

Die Mutter drückte das Kind an sich. — »Huff, wie schnell es hier finster wird!« entfiel es ihr.

»O ja,« meinte Per Hansen trocken und wiegte den Oberkörper, »desto schneller wird es wohl morgen früh wieder hell!«

Und jetzt braute sich weit weit weg, dort hinten, wo sie hergekommen waren, etwas zusammen. Das Himmelsgewölbe wurde vom Rande her in trollhafte Helle getaucht, — mattgelb, grünspanfarben, mit einem Fünkchen Rot darin. Die Helle verbreiterte sich nach oben, wurde farbenfrischer, gewaltiger, — noch zauberischer kupfergrün.

Sie schauten stumm zu.

Das Gössel vermochte zuerst die Zunge wieder zu rühren, und am Halse der Mutter hängend, rief es: »Nein, schaut die Sonne! — — Da ist ja die Sonne!«

Ernst erhob sich über der Einöde der Mond. Schon mehrere Abende war er so früh aufgegangen, und doch erschien ihnen der Anblick jedesmal gleich neu und gewaltig. Wie am Abend zuvor irgendwo weiter östlich auf der Prärie sahen sie ihn langsam über dem Himmelsrand aufsteigen. Die Silberstreifen verstärkten sich, das erste mattgrüne Kupferlicht fing an zu zittern, wechselte in grünblaue, gelbgrüne Nebel hinein.

Das Gössel war ganz überzeugt, daß der Mond heute abend noch viel größer sei. Das war sie auch gestern schon gewesen; trotzdem versuchte der Große-Hans sich noch einmal mit der Erklärung, daß der Mond doch wohl ebensogut wachsen dürfe, wie sie selbst! Das fand sie auch recht und billig und wollte nur noch von der Mutter wissen, ob denn auch der liebe Mond jeden Abend Mus und Milch bekomme wie sie.

Der Per Hansen hatte derweil, auf der Wagenstange sitzend, seine Pfeife geraucht. Jetzt stand er auf, klopfte die Asche aus, steckte die Pfeife in die Tasche, sah auf die Uhr und kommandierte alle Mann in die Kojen.

Gleich darauf streckten sie sich unter die Decken und sahen in das grünblaue Licht,

Als die Mutter glaubte, daß die Kinder schliefen, sagte sie sorgenvoll: »Glaubst du, daß wir sie wieder auffinden?«

Der Per Hansen antwortete so sonderbar gedehnt: »Das meine ich wohl. Wenn sie nicht geradeswegs in die Erde gesunken sind!« Und dann gähnte er lange und nachdrücklich, als sei er entsetzlich schläfrig, und legte sich auf die andre Seite.

Da sagte auch sie nichts mehr.