Read the book: «Friede, Freude, Frust?»
Anselm Grün
Fried, Freude, Frust?
Was für ein gutes Zusammenleben wichtig ist
Vier-Türme-Verlag
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Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020
ISBN 978-3-7365-0320-5
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020
ISBN 978-3-7365-0342-7
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Covermotiv: Ljupco Smokovksi / shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Inhalt
Einleitung – Sehnsucht nach Gemeinschaft und Individualismus
Realitätssinn statt Idealisierung
Aushalten und Ertragen
Den anderen sein lassen
Die Verschiedenheit annehmen
Konzentration auf das Wesentliche
Respektvoller Umgang mit den Dingen
Vergeben und Verzeihen
Einssein
Schlussgedanken
Literatur
Einleitung – Sehnsucht nach Gemeinschaft und Individualismus
Wir leben in einer Zeit der Umbrüche. Auf der einen Seite sehen wir, dass viele alten Modelle von Gemeinschaft nicht mehr funktionieren: Kirchen und Parteien verlieren Mitglieder, aber auch viele Vereine, in denen sich früher viele Menschen zusammengeschlossen haben, um bestimmte gemeinsame Interessen zu verfolgen und Gemeinschaft zu erleben, haben heute Probleme, neue Mitglieder zu finden, während die alte Generation nach und nach wegstirbt. Offensichtlich interessieren sich junge Menschen nicht mehr für diese Art von Gemeinschaft. Sie finden hier nicht die Art des Miteinanders, nach der sie sich sehnen.
Auf der anderen Seite gibt es dennoch eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft. Vielleicht war die Sehnsucht auch noch zu keiner Zeit größer. Sicher ist es heute durch das Internet viel leichter, miteinander in Kontakt zu treten und zunächst virtuelle Gemeinschaften aufzubauen. In diesen Interessensgruppen auf verschiedensten Plattformen erlebt man Zugehörigkeit, wenn auch auf ganz andere Weise als früher in einem Verein. Zudem gibt es neue Formen von Gemeinschaft, zum Beispiel Bürgerinitiativen oder andere, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Zusammenkünfte. Oft sind es nur Bündnisse auf Zeit. Aber auch diese Gemeinschaften haben es nicht leicht. Häufig gibt es Konflikte, wenn man näher zusammenwächst. Dann werden die Meinungsverschiedenheiten schnell deutlich und nicht immer auf gute Weise ausgetragen. Oft stehen die zu hohen Erwartungen an die Gemeinschaft dabei im Wege. Wenn man zu viel erwartet, wird man umso mehr enttäuscht von der Realität.
Ein Hindernis, das bei der Bildung von Gemeinschaft heute im Wege steht, ist der zunehmende Individualismus: Menschen achten auf ihre Freiheit und auf die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse. Es fällt ihnen schwer, sich auf andere und auf die Gemeinschaft einzulassen und sich in ihrer Freiheit zu beschränken. Auf der einen Seite ist der Individualismus eine Chance, dass die Gemeinschaft die Einzelnen nicht vereinnahmt, sondern sie freilässt. Auf der anderen Seite tun sich Individualisten schwer, sich an eine Gemeinschaft zu binden und sich ihren Strukturen unterzuordnen. Aber auch in einer Gemeinschaft von Individualisten braucht es Haltungen, die ein gutes Miteinander ermöglichen.
Trotz allem gibt es weiterhin die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Das wird besonders deutlich in einer Krise, wie jüngst in der ersten Zeit nach dem Ausbruch des Coronavirus zu beobachten war. Dann entsteht plötzlich ein neues Miteinander, eine Solidarität mit den Betroffenen. Da bieten zum Beispiel Hausgemeinschaften den alten Mitbewohnern Hilfe an beim Einkaufen. Es ist also durchaus ein Gespür für das Miteinander da. Natürlich gibt es auch in der Krise Menschen, die nur an sich denken, ohne Rücksicht auf die anderen. Aber wir sehen eben immer beide Tendenzen: die Sehnsucht, Probleme gemeinsam zu meistern und Solidarität füreinander zu zeigen, und die Tendenz, nur für sich zu sorgen, ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft oder die Gesellschaft.
Was von den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft gilt, das gilt auch für die Familien. Auch hier fällt es den Partnern oft schwer, Konflikte durchzustehen und miteinander um eine gute Gemeinschaft zu ringen. Die Erwartungen an den anderen sind häufig so hoch, dass man sich enttäuscht abwendet, wenn die Liebe einmal nicht mehr so stark ist. Man verwechselt die Liebe zu sehr mit einem Gefühl. Werte wie Treue und Durchhalten spielen für viele keine Rolle mehr.
Wenn ich bei Kursen Einzelgespräche anbiete, dann kreisen die meisten inhaltlich um Beziehungsschwierigkeiten, um Probleme in der Partnerschaft, in der Familie, oder Konflikte im Unternehmen, in Vereinen oder Pfarrgemeinden. Offensichtlich ist es heute nicht mehr so leicht, Konflikte in der Partnerschaft durchzustehen oder mit Konflikten in den Vereinen und Firmen umzugehen. Auf jeden Fall suchen viele nach Hilfen, wie sie gut miteinander leben können.
Seit 1500 Jahren leben benediktinische Gemeinschaften zusammen. Hier findet man ganz sicher auch keine »heile Welt«. Aber sie halten es miteinander aus. Trotz der verschiedenen Charaktere vermögen sie offensichtlich, in einer guten Weise miteinander auszukommen. In der langen Tradition der benediktinischen Gemeinschaften haben sich Regeln und Haltungen herausgebildet, die das Gelingen des Miteinanders möglich machen. Vor allem aber verdanken die benediktinischen Gemeinschaften ihr jahrhundertelanges Bestehen der Weisheit der Regel, die der heilige Benedikt von Nursia für seine Mönche im 6. Jahrhundert geschrieben hat.
Daher möchte ich in diesem Buch Anregungen aus der Regel Benedikts und Erfahrungen aus meiner 55-jährigen Zugehörigkeit zu einer benediktinischen Gemeinschaft aufgreifen, die uns heute helfen könnten, miteinander zu leben und nicht gegeneinander. Die alten Weisheiten der Regel Benedikts könnten wie eine Zukunftsvision für uns sein, wie Gesellschaft heute funktionieren könnte, wie ein Miteinander in den verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft möglich wird. Dabei möchte ich in acht Punkten Aspekte eines gelingenden Miteinanders meditieren. Acht ist die Zahl der Transzendenz. Eine Gemeinschaft genügt nie sich nur selbst. Sie ist immer offen für etwas, das sie übersteigt, für etwas, was ihr Sinn verleiht, aber auch für das Geheimnis Gottes.
Realitätssinn statt Idealisierung
Am Beginn der benediktinischen Gemeinschaften standen sicher auch ideale Vorstellungen. Die Kirchenväter begründeten das Mönchtum als Gemeinschaft vor allem auf dem Vers aus Psalm 133,1: »Seht doch, wie gut es ist und wie schön, wenn Brüder beieinander wohnen in Eintracht.« Augustinus meint zu diesem Psalmvers: »Hat doch dieser Psalmtext, dieser süße Klang, diese sowohl für das Ohr wie für das Verständnis so liebliche Melodie auch die Klöster gegründet. Dieser Klang weckte Brüder, die den Wunsch hatten, miteinander zu wohnen« (Enarrationes in psalmos 132,2, zitiert in der Beuroner Ausgabe der RB, 16).
Ursprünglich waren die Mönche Einsiedler. Lukas beschreibt in der Apostelgeschichte ein idealisiertes Bild der Urkirche, aber gerade diese weckte in den Mönchen die Sehnsucht nach brüderlicher Gemeinschaft. Manche Theologen sprechen vom »Heimweh nach der Urkirche«, das hier zum Tragen kam. So stand zu Beginn der Mönchsgemeinschaften sicher das Ideal der Urkirche, das Lukas für die Urgemeinde in Jerusalem so beschreibt: »Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt« (Apostelgeschichte 2,44–47).
Das klingt sehr schön – und vielleicht nicht gerade realistisch. In der Apostelgeschichte finden sich auch genügend Situationen, in denen Konflikte aufgetreten sind und wo dieses Ideal nicht durchgehalten werden konnte. Da gab es Streit zwischen den mehr jüdisch orientierten Christen und den Hellenisten, die als Christen griechische Bildung genossen hatten. Doch trotz aller Konflikte machte man doch die Erfahrung, dass da ein neues Miteinander entstanden war, ein Miteinander von Männern und Frauen, von Juden und Griechen, von Armen und Reichen, von Jungen und Alten. Diese Erfahrung war für Lukas ein Zeichen, dass das Reich Gottes durch Jesus wirklich gekommen ist.
Auch wenn Benedikt das Ideal der Urkirche in Jerusalem vor Augen hatte, so erliegt er nirgends in seiner Regel der Versuchung, die Gemeinschaft der Mönche zu idealisieren. Im Gegenteil, er geht von täglichen Konflikten aus. Und er rechnet damit, dass manche Mönche sich ganz und gar nicht an die Regel halten, sondern aus der gewohnten Ordnung ausbrechen werden. So ordnet er an, dass der Abt am Ende der beiden Gebetszeiten Laudes und Vesper laut das Vaterunser betet, »dass alle es hören können; denn immer wieder gibt es Ärgernisse, die wie Dornen verletzen« (Regel Benedikts 13,12). Das laut gebetete Vaterunser soll die Atmosphäre in der Gemeinschaft täglich reinigen. Benedikt weiß aber, dass es trotzdem täglich Trübungen des Miteinanders geben wird, dass die Brüder sich gegenseitig verletzen, dass sich manche Brüder übersehen oder übergangen fühlen. Benedikt weiß, dass die Gemeinschaft keine heile Welt ist. Die Reibereien können die Atmosphäre vergiften. Daher braucht es ein tägliches Ritual, um das Gift aufzulösen und die Trübungen zu klären.
In den sogenannten Strafkapiteln der Regel schreibt Benedikt, es komme immer wieder vor, »dass ein Bruder trotzig oder ungehorsam oder hochmütig ist oder dass er murrt« (Regel Benedikts 23,1). Manche halten sich nicht an die Regel, lassen sich nicht von ihr einengen. In ihrem Hochmut stellen sie sich über die Regel und über die Gemeinschaft. Sie schauen auf die anderen Brüder herab, sie murren, sind unzufrieden mit sich und mit der Situation und kritisieren alles. Sie haben den Eindruck, dass die Gemeinschaft schuld ist an ihrer Unzufriedenheit. Aber sie stellen sich nicht der eigenen Realität.
Benedikt verurteilt das Murren scharf. Offensichtlich hat er es als echtes Problem in den Gemeinschaften erlebt. Murren bedeutet, die Schuld immer bei anderen zu suchen, die eigene Unzufriedenheit auf die anderen zu projizieren. Der Murrer fühlt sich als Opfer und weigert sich, selbst die Verantwortung für den Zustand der Gemeinschaft zu übernehmen. Das Murren vergiftet die Atmosphäre und spaltet die Gemeinschaft.
Das Murren ist auch heute in vielen Gemeinschaften ein Problem. Da gibt es in Firmen Menschen, die die Atmosphäre vergiften, indem sie hinter dem Rücken der anderen alles in der Firma kritisieren. Sie lassen kein gutes Haar am Chef, sie schimpfen ständig über die Kollegen. Die Murrer brauchen immer Mitläufer. Sie hetzen andere auf, vor allem gegenüber dem Chef oder den Führungskräften. Aber oft wird das Murren auch zum Mobbing gegenüber Mitarbeitern, die anders sind. Weil sie eben anders sind, schimpft man über sie.
Die Murrer üben Macht aus über die anderen. Wer sich nicht ihrer Meinung anschließt, wer sich nicht anpasst und nicht mitmurrt, wird ausgestoßen und lächerlich gemacht. Man nennt ihn einen Streber oder den Liebling des Chefs. Das geschieht nicht nur in Firmen, sondern fängt schon in der Schule an. Kinder können auch grausam sein und andere Kinder, die vielleicht bessere Leistungen bringen als sie, als Streber bekämpfen. Die Murrer, die in der Schule oder in einer Firma den Ton angeben, sind oft die, die in einer Gemeinschaft keinerlei Verantwortung übernehmen. Aber sie sind immer die ersten, die anderen Versagen oder Führungsschwäche vorwerfen.
Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik an einem Unternehmen und seinen Führungskräften. Doch eine berechtigte Kritik bringt man immer offen vor, weil es dann darum geht, Dinge auch wirklich ändern zu wollen. Wenn ich aber mit meiner Unzufriedenheit die Atmosphäre vergifte, weil ich alles schlechtmache, dann verstecke ich mich hinter dieser Methode, bin ich nicht bereit, wirklich eine Konfrontation auszuhalten oder Lösungsvorschläge vorzubringen. Ich spreche hinter dem Rücken der anderen, aber nur in kleinen Gruppen, von denen ich weiß, dass sie meiner Meinung sind. Doch solche Gruppen können allen, die in einem Unternehmen arbeiten, den Job vergällen. Man kann es nicht richtig greifen und spürt nur, dass eine negative Stimmung herrscht.
Benedikt verlangt vom Abt, dass er murrende Brüder eine Zeitlang vom gemeinsamen Tisch und Gebet ausschließt. Das ist heute natürlich so nicht möglich. Aber es ist wichtig, dass man die Murrer isoliert. Die Isolierung kann nicht von oben, also von der Führungskraft ausgehen, sondern muss von der Gemeinschaft der Mitarbeiter ihren Anfang nehmen. Sie nehmen dem Murrer die Macht, wenn sie sich nicht anstecken lassen von seiner Unzufriedenheit, sondern ihn stattdessen damit konfrontieren, dass die Kritik an der richtigen Stelle vorgebracht werden sollte. Wenn der Murrer keine Mitläufer mehr hat, wird er irgendwann aufhören. Er spürt, dass er mit seinem Murren bei den anderen nicht ankommt, sondern sich selbst mehr und mehr isoliert.
Benedikt schärft dem Abt ein, dass er sich besonders um die Brüder kümmern muss, die sich verfehlt haben. Als Begründung gibt er das Wort Jesu an: »Denn nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken« (Regel Benedikts 27,1; vgl. Matthäus 9,12).
Der Abt soll wie ein weiser Arzt vorgehen und den Bruder, der sich verfehlt hat, trösten, »damit er nicht in zu tiefe Traurigkeit versinkt« (Regel Benedikts 27,3). Benedikt mahnt den Abt, sich immer bewusst zu machen, »dass er die Sorge für gebrechliche Menschen übernommen hat, nicht die Gewaltherrschaft über gesunde« (Regel Benedikts 27,6).
Daher hält er ihm das Bild des guten Hirten vor Augen. Wie Jesus soll er dem verirrten Schaf nachgehen und es auf seine Schultern nehmen, um es zur Herde zurückzutragen. Benedikt verlangt vom Abt, dass er das Laster des Murrens ausrotten sollte, aber er sollte wie ein guter Hirt auf die Murrer zugehen und in ihnen gleichsam verlorene Schafe sehen, Menschen, die sich selbst verloren haben, die nicht in Beziehung sind mit sich selbst und sich daher auf die Fehler der anderen fixieren. Der Abt soll die Murrer so führen, dass sie ihrer eigenen Wahrheit ins Auge schauen können.
Viele Gemeinschaften haben hohe Ideale. Da preisen sich Firmen in ihren Leitbildern selbst in den höchsten Tönen. Oder Vereine beschreiben die hehren Ziele, die sie mit ihrem Verein verfolgen. Parteien verkünden ihr Programm mit großen Worten. Doch die Realität sieht oft ganz anders aus. Es gibt einen Grundsatz: Dort, wo ich den Mund zu voll nehme, gibt es viele Schattenseiten. Das führt häufig zu einem Zwiespalt, der für die einzelnen Mitglieder schmerzlich ist. Ich erlebe auch spirituelle Gemeinschaften, die von sich sagen, dass sie eine besonders tiefe mystische Spiritualität pflegen. Doch der tägliche Umgang miteinander zeugt vom genauen Gegenteil. Da ist vor lauter spiritueller Höhenflüge im menschlichen Verhalten keine Wärme und Liebe zu spüren, sondern nur Kälte und Arroganz. Innerlich ist man häufig zerstritten. Da gibt es die Fans des Leiters, die anderen Mitarbeitern keine Chance lassen.
Bei Führungsseminaren erlebe ich immer wieder, wie Führungskräfte darunter leiden, dass die Leitsätze der Unternehmen nur nach außen hin verkündet werden, aber die Realität innerhalb ganz anders aussieht. Von benediktinischen Gemeinschaften können diese Firmen lernen, sich zwar als Ziel zu setzen, Werte zu leben, sich aber zugleich auch der Realität zu stellen. Nur wenn ich mich der Wirklichkeit stelle, kann ich sie verwandeln. Sonst hängen die Werte und Leitbilder in der Luft.
Das gilt nicht nur für Unternehmen, sondern in gewisser Weise auch für Beziehungen. Hans Jellouschek hat als Psychotherapeut erkannt, dass für das Scheitern vieler Ehen neoromantische Vorstellungen verantwortlich sind. Man erwartet, dass man in der Partnerschaft immer Glück erfahren muss und immer eine große Nähe zum Partner oder zur Partnerin. Wenn es dann die täglichen Reibereien gibt, ist man enttäuscht und meint, die Ehe aufgeben zu müssen, weil sie das nicht bringt, was man sich von ihr erwartet hat. Jellouschek meint, die Ehe sei keine Glücksveranstaltung, sondern ein Übungsweg, auf dem man immer wieder Glück erfahren kann.
Ähnliches lässt sich gesamtgesellschaftlich beobachten: Wenn eine Gesellschaft zu sehr davon schwärmt, wie demokratisch sie ist, wie gerecht alles geordnet ist, wie gut die Infrastruktur funktioniert, dann gibt es sicher viele Schattenseiten. Häufig überdecken solche Lippenbekenntnisse dann auch nur den Unmut, der in der Bevölkerung herrscht. Das war zum Beispiel in der Zeit der Studentenrevolution von 1968 so: Nach außen hin hatte Deutschland sich von der Katastrophe des Krieges durch ungeheuren Fleiß zu einem wirtschaftlich blühenden Land hochgearbeitet. Aber die jungen Menschen spürten, dass unterschwellig etwas nicht stimmte. Viele hatten das Unrecht des Naziregimes verdrängt und waren innerlich erstarrt. Alexander Mitscherlich hat in seinem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« als Grund für diese Erstarrung die Weigerung genannt, das begangene Unrecht zu betrauern. Man hat die Augen davor verschlossen und sich mit Eifer dem wirtschaftlichen Aufbau gewidmet. Doch immer, wenn man sozusagen auf einem Auge blind wird, rächt es sich irgendwann. Das erleben wir gerade wieder in Deutschland: Lange Zeit hat man die Gefahr von rechts verharmlost. Man war sich einig, dass Rassismus und Antisemitismus zu verurteilen seien – was aber nicht bedeutet, dass es ihn in der Realität nicht gibt. Man hat sich ein Idealbild einer toleranten Gesellschaft gemacht. Doch dieses Idealbild ist spätestens mit dem Anschlag in Hanau und dem Tod des Regierungspräsidenten Walter Lübcke zerbrochen.
Jede Gemeinschaft hat auch durchschnittliche Seiten. Das gilt für Familie, Unternehmen und Gesellschaft. Wenn man diese Durchschnittlichkeit nicht betrauert, erstarrt man innerlich oder aber man sucht den Grund für die eigene Unzufriedenheit in den anderen. Viele Politiker sehen den Grund für die Probleme in ihrem Land in der Politik anderer Länder. Doch sie weigern sich, sich die eigenen Probleme wirklich einzugestehen. Es ist immer leichter, andere zum Sündenbock zu machen, als den Dreck vor der eigenen Türe wegzuräumen.
Es gibt noch eine andere Gefahr in dieser Hinsicht: Wenn Firmen oder Vereine sich selbst idealisieren, erzählen sie meistens von ihren Großtaten in der Vergangenheit oder eben von ihren hohen Idealen. Der Schweizer Psychotherapeut Carl Gustav Jung meinte einmal, alles, was lebendig ist, müsse sich wandeln. Das gilt für den einzelnen Menschen, aber genauso für eine Gemeinschaft. Als größten Feind dieser Verwandlung sieht Jung ein erfolgreiches Leben an: Wenn der Einzelne Erfolg hat, steht er in Gefahr, sich auszuruhen und dann innerlich zu erstarren. Das gilt auch für Gemeinschaften. Viele Unternehmen haben sich auf ihrem Erfolg ausgeruht und sind dann gescheitert. Ähnlich läuft es in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien.
Wenn man sich zu sehr auf der Vergangenheit ausruht, erstarrt man und wundert sich dann, dass nichts mehr vorangeht. Ein Beispiel dazu sind die großen Volksparteien in Deutschland. Sie haben sich zu lange auf ihren Erfolgen in der Vergangenheit ausgeruht. Ihre Konzepte und Ideen haben Wohlstand gebracht. Und so meinen sie, sie könnten immer so weitermachen, die alten Konzepte nur etwas anpassen und moderner kleiden. Doch jetzt spüren sie, dass ihnen die Wähler davonlaufen, weil sie die Wandlung verpasst haben, die Herausforderung, sich an einen modernen und daher in vieler Hinsicht auch anderen Alltag ihrer Wähler anzupassen. Jede Partei muss sich wandeln, um lebendig bleiben zu können.
Verwandlung bedeutet jedoch kein planloses Ändern. Manche Firmen, Vereine oder Parteien spüren den Mitgliederschwund sehr deutlich. Sie versuchen, alles anders zu machen, doch dann verliert die Gemeinschaft ihre Identität. Verwandlung heißt: Ich würdige die Gemeinschaft so, wie sie geworden ist. Aber sie ist noch nicht die, die sie von ihrem Wesen her sein könnte. Das Ziel der Verwandlung ist, dass die Gemeinschaft immer mehr die wird, die sie von ihrer Geschichte und von ihrer ursprünglichen Vision her sein könnte.
Für Benedikt hängt das Gelingen von Gemeinschaft davon ab, dass der Abt sich um die schwachen und kranken Brüder kümmert. Das Gelingen einer Gesellschaft hängt daher davon ab, dass auch die Schwachen gehört werden. Das Erstarken des Rechtspopulismus hat sicher viele Ursachen. Da ist einmal das Minderwertigkeitsgefühl, das man durch einen übertriebenen Nationalismus zu überspielen sucht. Aber es hat seine Ursache sicher auch darin, dass man die Bedürfnisse der Schwachen überhört hat, die sich dann auf extreme Weise äußern. Wer sich ungehört fühlt, meldet sich oft auf ungehörige Weise zu Wort, damit man ihn endlich hört und ernst nimmt.
Benedikt hat in seiner Regel immer wieder die Demut betont. Demut kommt vom lateinischen Begriff humilitas und hängt mit humus, dem Wort für »Erde«, zusammen. Demut ist der Mut, sich der eigenen Erdhaftigkeit bewusst zu werden. Aber Demut gilt auch für die, die an der Macht sind. Daher fordert Benedikt vor allem vom Cellerar, dem Klosterverwalter, Demut.
Der Cellerar kann wie Politiker oder Firmenchefs nicht alle Erwartungen erfüllen. Aber Benedikt mahnt ihn, dass er den, der unvernünftige Forderungen stellt, nicht durch Verachtung kränkt, sondern er »schlage ihm die unangemessene Bitte vernünftig und mit Demut ab« (Regel Benedikts 31,7). Die Verantwortlichen sollen die Demut besitzen, sich auf den Schwachen und Bedürftigen einzulassen und ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Sie sollen nicht alles vom hohen Thron her regeln, sondern brauchen den Kontakt mit den Schwachen und Verletzten. Nur dann wird auf Dauer ein gutes Miteinander möglich.
Jede Gemeinschaft bietet uns immer zwei Erfahrungen an: die von Erfüllung und von Enttäuschung. Das gilt zum Beispiel für geistliche Gemeinschaften: Manchmal blitzt im Gottesdienst oder in einem Bibelgespräch oder in einem gemeinsamen Projekt, das gelingt, die heilende Nähe Gottes auf. Aber oft genug erleben wir auch Enttäuschungen. Wir denken, dass alle in der Gemeinschaft sich vom Geist Jesu leiten lassen. Doch dann merken wir, dass manche die Gemeinde als Ort benutzen, ihr Bedürfnis nach Macht auszuleben, oder dass sie im Miteinander schwierig sind und ihre neurotischen Lebensmuster das Miteinander stören.
Diese zweifache Erfahrung gilt aber für jede Gemeinschaft. Am Anfang hält der Verein, die Partei zusammen. Alle sind sich einig. Doch dann »menschelt« es. Auch in Vereinen oder Bewegungen, die sich dem Umweltschutz oder der Friedensbewegung verpflichtet wissen, entstehen Machtkämpfe. Vielleicht greift auch jemand in einem wohltätigen Verein in die Vereinskasse. Beides gehört zur Erfahrung in jeder Gemeinschaft. Da gibt es Parteitage, bei denen alle euphorisch sind und meinen, einen neuen Aufbruch zu wagen. Und dann endet es im Gerangel um die Posten in der Partei und in der Politik.
Für eine klösterliche Gemeinschaft gilt, dass uns beide Erfahrungen für Gott aufbrechen wollen. Denn es geht nicht nur darum, sich in der Gemeinde wohlzufühlen, sondern sich vom Miteinander immer mehr auf Gott hin öffnen zu lassen. Dazu gehören gerade die Enttäuschungen, die mich letztlich antreiben, mich immer mehr für Gott aufbrechen zu lassen. In einer weltlichen Gemeinde, einem Verein oder einem Unternehmen können wir dankbar sein für die erfüllenden Erfahrungen. Aber auch die Enttäuschungen haben ihren Sinn. Sie bewahren uns davor, abzuheben und uns für besser zu halten als alle anderen. Die Enttäuschungen dürfen uns nicht lähmen, sondern sollen uns aufbrechen, dass wir für neue Wege offen sind und uns ehrlich den Problemen stellen. Gerade wenn wir in aller Demut und Ehrlichkeit miteinander umgehen, kann ein gutes Miteinander entstehen.
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