Der kleine Bibelcoach

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Der kleine Bibelcoach
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Anselm Grün

Der kleine Bibelcoach

Eine Lese-Anleitung zum Buch der Bücher


Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2019

ISBN 978-3-7365-0270-3

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020

ISBN 978-3-7365-0340-3

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlen Fritsch

Covergestaltung: derUhlig.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Wo beginnen?

Verschiedene Ausgaben und Übersetzungen der Bibel

Schriftauslegung

1. Historisch-kritische Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

2. Spirituelle und mystische Schriftauslegung

Lectio divina

Anregungen für das Bibellesen heute

3. Theologische Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

4. Kirchliche Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

5. Tiefenpsychologische Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

6. Befreiungstheologische Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

7. Persönliche Schriftauslegung

Anregungen für das Bibellesen heute

Die Bibel lesen – individuell und gemeinsam

Persönliche Betrachtungsmethoden

Anregungen für das gemeinsame Bibellesen

Literatur

Einleitung

Viele Menschen sagen mir: »Ich möchte so gerne die Bibel lesen. Aber sobald ich anfange, merke ich, dass sie mir fremd ist. Ich verstehe nicht, was mir die Bibel heute sagen möchte. Und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit dem Lesen. Wenn ich im Alten Testament beginne, dann bleibe ich an den Kriegsgeschichten hängen, an unverständlichen Gesetzen, die Mose seinem Volk gibt, an dunklen Prophetentexten. Zwischendrin gibt es immer Lichtblicke, aber ich kann dann nicht weiterlesen in den Texten, die ich nicht verstehe. Wenn ich das Neue Testament nehme, weiß ich oft nicht, wie die Texte heute auszulegen sind. Es gibt soviele verschiedene Auslegungen, in Predigten, in Büchern, im Internet. Ich kenne mich gar nicht mehr aus.« Auf diese Unsicherheit möchte ich mit diesem Buch antworten und so einige Weisen nennen, wie wir die Bibel heute lesen können.

Wo beginnen?

Zunächst einmal kann ich nicht empfehlen, das Alte Testament von vorne bis hinten zu lesen. Denn da gibt es doch zu viele Texte, die wirklich einer Erklärung bedürfen. Man kann jedoch gut mit den ersten beiden Büchern starten:

Das Buch Genesis mit der wunderbaren Schöpfungsgeschichte und den Erzählungen über Abraham, Jakob und Josef. Und dann die Geschichte vom Auszug aus Ägypten im Buch Exodus bis zum 20. Kapitel.

Dabei hilft es, diese Texte als Poesie zu lesen, als dichterische Werke. Sie bringen alte Erfahrungen zum Ausdruck, die Menschen mit sich selbst und mit Gott gemacht haben.

Zudem wäre es falsch, unsere moralischen Maßstäbe von heute an diese Texte anzulegen. Vielmehr beschreiben sie die Höhen und Tiefen des Menschseins. Sie zeigen uns die eigenen Abgründe und immer wieder das Erbarmen Gottes mit uns, der uns annimmt, so, wie wir sind.

Im Alten Testament bietet sich außerdem das Buch Tobit an sowie die Weisheitsbücher: Hiob, die Psalmen, das Buch der Sprichwörter, das Buch Kohelet, das Hohelied, das Buch der Weisheit und das Buch Jesus Sirach. Hier wird die Weisheit der Menschen in einer sehr offenen Sprache beschrieben. Und die Psalmen bieten uns Gelegenheit, unsere eigenen Erfahrungen vor Gott zu bringen, vor allem dann, wenn wir nicht mehr wissen, was und wie wir beten sollen.

Auch in den Büchern der Propheten Jesaja und Jeremia gibt es wunderbare Texte. Wir hören sie vor allem in der Advents- und Weihnachtszeit. Für manche mögen diese prophetischen Texte uns eine zu schöne Welt verheißen. Doch solche Worte haben eine Sprengkraft in sich. Wir können sie hören oder lesen mit dem Gefühl: Mit diesen Worten zeigt uns Gott, welche Möglichkeiten uns erwarten. Wir sehen die Welt oft mit eher pessimistischen Augen. Die prophetischen Texte wollen uns neue Augen schenken, mit denen wir das Wirken Gottes schon hier und jetzt, in dieser Welt wahrnehmen. Mitten in dieser Welt voller Angst und Terror gibt es auch Spuren von Gottes Wirken. Er wird unsere Wüste immer wieder zum Wasserteich werden lassen, er wird Brunnen in der Wüste aufspringen lassen, er wird die Schwerter zu Pflugscharen verwandeln. Wenn wir diesen Worten trauen, erleben wir die Welt anders.

Im Neuen Testament ist es gut, mit den vier Evangelien anzufangen, sich aber Zeit dafür zu nehmen, um die einzelnen Texte wirken zu lassen. Wie wir die Evangelien auslegen können, darüber möchte ich im Folgenden vor allem schreiben. Darüber hinaus sind die Briefe des Paulus und die anderen Briefe des Neuen Testamentes zu empfehlen. Manchmal werden wir sie als zu abstrakt empfinden. Wir müssen auch nicht alles verstehen. Aber wir können dann sehen, wie verschieden etwa Paulus und Johannes oder Petrus und Jakobus unser Leben als Christen sehen. Die Verschiedenheit will unser Herz weiten, damit wir offen für das Geheimnis unseres Christseins sind und unser christliches Leben nicht einseitig auf eine bestimmte Theologie festlegen.

Verschiedene Ausgaben und Übersetzungen der Bibel

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich entschieden haben, eine Bibel zu kaufen, stehen Sie wahrscheinlich zunächst einmal vor dem Problem, dass es verschiedene Ausgaben gibt. Zunächst gibt es schon zwischen katholischen und evangelischen Bibelausgaben Unterschiede.

Die katholische Kirche rechnet zum Alten Testament alle Schriften, die in der sogenannten Septuaginta aufgeführt sind. Die Septuaginta (= siebzig) ist die angeblich von siebzig jüdischen Gelehrten vom Hebräischen ins Griechische übersetzte Bibel. Die Autoren des Neuen Testamentes zitieren die Bibel immer nach dieser griechischen Übersetzung. Die Reformatoren nahmen für ihre Bibelausgaben die sogenannten deuterokanonischen Schriften wieder heraus, die in der ursprünglichen hebräischen Bibel fehlen und nur in der Septuaginta als biblische Texte überliefert sind. Es handelt sich um die Bücher Judith, Weisheit, Tobias, Jesus Sirach, Baruch, 1. und 2. Makkabäerbuch. Martin Luther hat diese Schriften zwar übersetzt, rechnete sie aber nicht zum eigentlichen Kanon, das heißt, zu der vom Judentum und dann später von der Kirche festgelegte Auswahl der heiligen Schriften. Diesen Kanon hat die Kirche zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert festgelegt, das heißt, sie hat entschieden, welche Schriften zur Bibel gehören und welche nicht. Denn außer den jetzigen im Neuen Testament gesammelten Schriften kursierten in den ersten Jahrhunderten noch andere Schriften, zum Beispiel das Thomasevangelium oder das Petrusevangelium. Diese Schriften rechnet man heute zu den sogenannten apokryphen (verborgenen) Schriften. Sie beschreiben das Leben Jesu, sind aber oft auch von gnostischen Gedanken durchzogen. Daher hat sie die Kirche nicht in den Kanon aufgenommen.

Dann geht es um die verschiedenen Übersetzungen der Bibel. In der evangelischen Kirche ist die Lutherbibel beliebt. Sie zeugt von großer Sprachkraft, wurde über die Jahrhunderte in ihrer Übersetzung aber immer wieder auch dem neueren Sprachgebrauch angepasst.

Daneben gibt es die Zürcher Bibel, die auf Huldrych Zwingli, den ersten Schweizer Reformator, zurückgeht und erstmals 1531 erschien. Sie wurde zwischen 1987 und 2007 neu nach dem Grundtext der Bibel übersetzt.

Im katholischen Bereich ist es vor allem die Einheitsübersetzung, die von vielen katholischen Exegeten im Auftrag der deutschen Bischofskonferenz erstellt wurde. Am Neuen Testament und an den Psalmen haben auch die evangelischen Übersetzer mitgearbeitet. In der Einheitsübersetzung finden Sie am Seitenende jeweils Fußnoten und Anmerkungen zu einzelnen Versen. Diese Anmerkungen entspringen den Erkenntnissen der historisch-kritischen Methode. Sie machen deutlich, wie wir den Text verstehen können beziehungsweise in welchem Kontext er zu sehen ist. Sie zeigen in relativ kurzen Anmerkungen Hintergründe.

 

Die Jerusalemer Bibel, die vom Französischen ins Deutsche übersetzt wurde, liefert dagegen ausführlichere Kommentare.

Neben diesen Übertragungen gibt es Bibelübersetzungen, die mehr dem heutigen Sprachgebrauch angepasst sind, etwa »Die Gute Nachricht« oder die Übersetzung des evangelischen Theologen Jörg Zink. Wenn Sie Zeit und Geduld haben, wäre es sicher gut, zum einen oder anderen Buch der Bibel einen Kommentar zur Hilfe zu nehmen. Manche dieser Anmerkungen geben auch Anregungen, den Text in unser persönliches Leben hinein auszulegen.

Sollten Sie ein Bibelgespräch vorbereiten, ist es sinnvoll, in einem Kommentar nachzulesen, was dort zu der Bibelstelle, die Sie sich herausgesucht haben, an Hintergründen zu lesen ist. Wichtig ist jedoch, dass Sie den Text nicht festlegen auf das, was der Kommentar sagt. Der Kommentar ist nur eine Hilfe, den Zusammenhang zu erkennen, in dem der Text steht, oder die eigentliche Aussageabsicht zu erahnen. Dann geht es jedoch darum, von der historisch-kritischen Methode zur persönlichen Auslegung zu kommen: Wenn ich den Text auf dem Hintergrund all dessen lese, was es darüber zu wissen gibt, was will er mir heute sagen? Was ist seine Botschaft an mich persönlich oder auch an uns als kirchliche Gemeinschaft? Wie verwandelt dieser Text mich und meine Selbstwahrnehmung?

Schriftauslegung

Bevor ich jeweils praktische Hilfen gebe, wie wir heute die Bibel lesen können, möchte ich auf die Tradition der Schriftauslegung eingehen, wie sie in der Geschichte des Christentums praktiziert worden ist. Es gibt nicht die einzig mögliche Weise, die Bibel auszulegen, sondern verschiedene Möglichkeiten, auch wenn das Ringen um die »richtige« Auslegung schon sehr alt ist. Der Blick in die Tradition lässt uns die Freiheit, die Methode auszusuchen, die uns am besten liegt. Das kann sich auch von Text zu Text wandeln.

Die Sprache der Bibel ist eine dichterische und damit eine offene Sprache. Das heißt: Jede große Dichtung – ob »Die Nibelungen« oder »Faust« oder was auch immer man dazu zählt – muss immer neu ausgelegt werden, so auch die Bibel. Und sie hat zu jeder Zeit immer Neues zu sagen und kann die Herzen der Menschen immer wieder neu berühren.

Ich möchte sieben verschiedene Weisen der Auslegung hier anführen, wie sie uns die spirituelle und theologische Tradition anbieten. Dabei geht es nicht um die Frage, welche Auslegung die beste ist. Jede ist möglich und gut und erfüllt bestimmte Bedürfnisse. Sehen Sie selbst, lieber Leser, liebe Leserin, mit welcher Auslegung Sie sich wohlfühlen und welche Ihnen eher fremd bleibt. Und dann entwickeln Sie Ihre eigene, ganz persönliche Auslegung. Viele meinen, das sei Willkür. Es müsse doch die einzig richtige Auslegung geben, die von der Kirche autorisiert wurde. Doch diese hat in ihrer Geschichte alle sieben Auslegungsmethoden autorisiert. Die Texte der Bibel bleiben offen, sodass viele Leseweisen möglich sind.

Am Schluss jedes Kapitels möchte ich zudem noch ein paar Anregungen geben, wie wir die jeweilige Leseweise für uns persönlich praktizieren können.

1. Historisch-kritische Schriftauslegung

Die Bibelkommentare, die uns zur Verfügung stehen, orientieren sich meistens an der historisch-kritischen Methode. Es ist eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Bibel. Die Bibelwissenschaft hatte vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann das ganze 20. Jahrhundert hindurch ihre Hochzeit. Es wurde sehr viel über die Entstehungsgeschichte der Bibel geforscht, in welchem kulturellen Umfeld sie entstanden ist, welche Parallelen es in der jüdischen und außerchristlichen Tradition für manche Bibelstellen gibt und was die einzelnen Texte uns wirklich sagen wollen.

Die historisch-kritische Methode zeigt, dass wir mit unserer Vernunft die Bibel durchleuchten können und dass wir keine Angst haben müssen, diese Methodik auf die Texte anzuwenden, die vielen von uns heilig sind. Die historisch-kritische Methode vermittelt Wissen: einmal über die Entstehung der Bibel, über die einzelnen Bibelhandschriften und die Textvariante, die am wahrscheinlichsten dem Urtext entspricht. Zudem zeigt sie den geschichtlichen Hintergrund der Ereignisse, die uns in der Bibel erzählt werden. Dabei hat die Wissenschaft erkannt, dass die Bibel durchaus historisches Geschehen reflektiert. Aber wir dürfen keine objektive Geschichtsschreibung von ihr erwarten. Die Bibel deutet im Erzählen immer schon das Geschehene. Doch wir erfahren auch heute: Die reinen Fakten helfen uns nicht weiter. Von Fakten allein kann man nicht leben. Nur wenn ich sie deute, bekommen sie für mich eine Bedeutung. Dann erkenne ich den Sinn des Geschehens. Und nur dann kann der Sinn des vergangenen Geschehens auch meinem Leben heute Sinn verleihen.

Die historisch-kritische Schriftauslegung hat verschiedene Methoden entwickelt, um an die Texte der Bibel heranzugehen. Da gibt es einmal die formgeschichtliche Methode. Sie betrachtet die Texte unter dem Aspekt, um welche Art von Text es sich bei den verschiedenen Büchern handelt, ob es also ein Brief ist oder sich um eine Legende handelt oder eine Erzählung. Und jede Art von Texten muss auf ihre Weise ausgelegt werden. Da gibt es in der Bibel zum Beispiel mythische Texte. Die Schöpfungsgeschichte ist ein solcher. Dieser mythische Text hat seine eigene Wahrheit. Aber es ist eben keine naturwissenschaftliche Wahrheit. Die Schöpfungsgeschichte erzählt uns den Anfang der Schöpfung in wunderbaren Bildern. Diese Bilder haben alle eine Wahrheit in sich. Aber wir können daraus keine naturwissenschaftlichen Schlüsse ziehen. Das wäre eine Verkennung dessen, was die Bibel uns sagen möchte. Sie will uns sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat und dass sie wunderbar geschaffen wurde. Und auch, dass der Mensch darin eine zentrale Rolle spielt. Es sind wunderbare Bilder, mit denen die Bibel die Erschaffung der Welt beschreibt. Allein schon der erste Satz: »Gott sprach: Es werde Licht« (Genesis 1,3). Josef Haydn war von diesem Wort so fasziniert, dass er in seinem Oratorium »Die Schöpfung« dieses Licht musikalisch erstrahlen lässt. Der Musiker hat genau verstanden, was die Bibel mit dem Schöpfungsbericht meint.

Dass wir diese Erzählung nicht naturwissenschaftlich deuten dürfen, zeigt schon die Tatsache, dass uns die Bibel zwei Schöpfungsgeschichten bietet:

Die erste (Genesis 1,1–2,4a) erzählt uns, wie Gott in sechs Tagen die Welt erschafft: Zunächst scheidet er das Licht von der Finsternis, den Tag von der Nacht, dann den Himmel von der Erde und die Erde vom Wasser. Dann schafft er die Pflanzen, die Tiere und schließlich den Menschen. Und er sieht, dass alles sehr gut und sehr schön ist. Am siebten Tag ruht er und gewährte auch den Menschen den siebten Tag als Ruhetag.

Die zweite Schöpfungsgeschichte (Genesis 2,4b–25) erzählt dagegen, dass Gott zuerst Himmel und Erde macht. Dann schafft er den Menschen aus dem Ackerboden und bläst ihm seinen Lebensatem ein. Er gibt ihm einen Namen: Adam, was so viel wie »Erde« heißt. Gott legt anschließend einen Garten in Eden an. Den sollte der Mensch bebauen und hegen und pflegen. Dann sieht Gott, dass es für den Menschen nicht gut ist, allein zu sein. Er gibt ihm Tiere und Vögel am Himmel, zeigt sie dem Menschen und will, dass er ihnen einen Namen gibt. Doch die Tiere sind nicht die Hilfe, die der Mensch sich wünscht. So lässt Gott ihn in einen Schlaf fallen und formt aus seiner Rippe eine Frau. Da sagt Adam: »Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« (Genesis 2,23).

Man kann nicht sagen, welcher Schöpfungsbericht nun der Wahrheit entspricht. Beide sind wahr. Beide sagen etwas Wesentliches über Gott und die Schöpfung und über den Menschen aus. Aber der Mensch ist ein solches Geheimnis, dass man es von verschiedenen Seiten beleuchten kann und muss.

In der Bibel gibt es noch andere Textformen wie Gleichnisse, Heilungsgeschichten, Berufungsgeschichten, Märchen, Erzählungen, Novellen, Legenden und Wortüberlieferungen. Jede muss in ihrer Eigenart gesehen werden. Dann werden wir der Bibel gerecht. Die formgeschichtliche Methode befreit uns von einem Wahrheitsbegriff, der nur auf den Buchstaben sieht, alles buchstäblich – wörtlich – verstehen will. Jede Form hat ihre eigene Wahrheit. Fundamentalisten sagen oft: »Das steht so da. Das muss man wörtlich nehmen.« Natürlich muss ich die Bibel wörtlich nehmen, das heißt, Wort für Wort bedenken. Aber ich muss immer sehen, welche Form dieses Wort oder diese Erzählung hat. Nur dann werde ich der Bibel gerecht.

Fundamentalisten meinen, sie nähmen die Bibel beim Wort. Aber sie verfälschen ihren Sinn, indem sie sie einseitig auf eine geschichtliche oder naturwissenschaftliche Aussage reduzieren. Die Bibel spricht jedoch in Bildern zu uns. Und diese haben ihre eigene Wahrheit. Sie drücken das Geheimnis des Menschen viel klarer aus als die Reduzierung der Worte auf reine Fakten. Wir müssen den Geist in den Worten erkennen. Jesus selbst sagt zu den Jüngern, die seine Worte nicht verstehen und daher anzweifeln: »Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben« (Johannes 6,63). Damit zeigt uns Jesus selbst eine Methode, wie wir die Bibel lesen können. Wir sollen in den Worten den Geist und das Leben erkennen, die Jesus und Gott in sie hineingelegt haben. Daher braucht es immer auch die Bereitschaft, sie zu meditieren und in das eigene Herz fallen zu lassen. Nur dann verstehen wir die Worte, nicht, indem wir rechthaberisch über sie diskutieren.

Eine weitere Methode ist die religionsgeschichtliche Herangehensweise. Sie zeigt uns unter anderem Parallelen biblischer Motive mit Motiven anderer Religionen. Es gibt zum Beispiel auch in den babylonischen und griechischen Mythen Erzählungen von einer Art Sintflut, von der Vernichtung der »bösen Welt«. Ziel der religionsgeschichtlichen Methode ist nicht, herauszustellen, dass hier einer beim anderen »abgeschrieben« hat oder immer die gleichen Motive in derselben Absicht verwendet werden. Es geht nur darum, Parallelen aufzuzeigen, aber auch die Besonderheit der Bibel in den Fokus zu rücken. Sie weist uns Wege, wie wir im Dialog mit den Ergebnissen der Religionswissenschaft die eigentliche Aussageabsicht der Bibel erkennen können.

Eine dritte Herangehensweise ist die redaktionsgeschichtliche Methode. Sie untersucht, welcher Autor möglicherweise hinter den Texten der Bibel auszumachen ist und welche Theologie, welches Bild des Glaubens, welche Ansichten über den Glauben er mit seinem Schreiben vermitteln wollte. Die Bibel ist kein einheitliches Werk, also nicht von nur einem Menschen geschrieben. Es gibt schon im Alten Testament verschiedene Autoren. Und jeder hat seine eigene Aussageabsicht mit dem, was und wie er schreibt. Das wurde oben schon in den beiden Schöpfungserzählungen deutlich. Den ersten Schöpfungsbericht rechnet man der sogenannten Priesterschrift zu, den zweiten dem sogenannten Jahwisten. Damit bezeichnet die Exegese die beiden Autoren der Texte, wobei es sich dabei vielleicht sogar um mehrere Autoren handelt. Die Priesterschrift ist von einer etwas anderen Theologie gekennzeichnet als die Texte des Jahwisten. Doch beide Theologien sagen etwas über Gott und den Menschen aus, was uns heute noch angeht, wodurch Gott auch heute noch zu uns spricht.

Die redaktionsgeschichtliche Methode hat vor allem in der Erforschung der Evangelien eine wichtige Funktion und macht deutlich, dass jeder Evangelist eine eigene Theologie entfaltet. Alle vier Evangelien erzählen uns die Geschichte Jesu, seine Taten, seine Worte, seine Passion und seine Auferstehung. Aber jedes hat andere Leser und Leserinnen im Blick. Und so deutet der jeweilige Evangelist das Jesusgeschehen immer auf diese hin, versteht das Geheimnis Jesu jeweils auf seine Art und Weise. Das ist kein Gegensatz. Die Frage darf auch nicht lauten: Wer von den Evangelisten hat nun Recht? Jeder hat Recht. Aber jeder versteht Jesus anders. Genau das befreit uns auch von dem Zwang, eine einheitliche Dogmatik zu entwickeln. Wir können Jesus von verschiedenen Seiten aus anschauen und ihn verschieden deuten. Diese Methode werde ich noch einmal gesondert behandeln, wenn es um die theologische Auslegung der Bibel geht.

 
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