Traumtrinker

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Libert

Traumtrinker

Band 4: Am großen Fluss

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Am großen Fluss

Ihr kennt keinen Tolpatsch?

Die Schlammringkämpfe

Ein Gespräch am Wegesrand

*

Bitte Platz nehmen zum 5-Uhr-Tee

Angriff der Flusspiraten

Eine Überraschung für Prinz Kallus

Lenas letzte Reisen zurück in die Zeit

Impressum neobooks

Kapitel 1

Insgeheim war die Sternenkönigin stolz auf ihren Sohn, auch wenn dies nicht die erste Empfindung gewesen war, als sie Mayrocs Bericht gehört hatte. Natürlich hatte es sie traurig gestimmt, dass es nicht zu dem Zusammentreffen mit Tog-Isas gekommen war. Aber sie bewunderte die Leistungen, zu denen er ohne jede Ausbildung fähig war. Mittlerweile beförderte er nicht nur sich selbst, sondern auch andere Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung durch das Universum der vielen Welten. Und zunehmend hatte es den Anschein, als setzte er diese Fähigkeit in Gefahrensituationen gezielt ein. Sie konnte sich gut vorstellen, was dabei sein Problem war: Da er nicht ausgebildet war, wusste er nicht, wie er das Ziel seiner Gestaltreise bestimmen konnte. Statt dessen würde sich das Ziel eher zufällig, aus seinem Unterbewusstsein heraus, ergeben. Der Junge würde niemals wissen, wohin er geraten war, und warum. Aber die Stärke seiner Fähigkeit zum Gestaltreisen war beeindruckend. Die Sternenkönigin fragte sich, ob es daran lag, dass seine Kräfte solange unterdrückt worden waren. Es würde spannend sein, dies in der Zukunft zu untersuchen.

Sie stand am Strand von Beteigeuze und sah über die endlose Wasserfläche, die sich vor ihr erstreckte. Hinter ihr drängten sich die Kinder und redeten aufgeregt durcheinander. Unter der Führung Kiri-Nes hatten sie sich auf eine gemeinsame Traumreise in diese Welt begeben, in der von einem blauen wolkenlosen Himmel herab eine gleißende Sonne Licht und Wärme spendete.

„Schaut nicht in die Sonne“, ermahnte sie immer wieder die Kinder, von denen die Mutigsten bereits knietief im Wasser des Ozeans standen, der den gesamten Planeten umgab. Beteigeuze war eine Wasserwelt, mit wenig Land.

Hinter ihr, im Zentrum der Insel, auf der sie sich befanden, gab es eine Gruppe von palmenähnlichen Bäumen, unter denen unter der Anleitung Blonders ein Lager aufgeschlagen wurde.

Dies war der Ort, an dem die Sternenkönigin mit den Kindern arbeiten wollte.

Doch in diesem Augenblick waren ihre Gedanken bei ihrem Sohn. Sie trauerte der Begegnung mit Tog-Isas nach, die nicht zustande gekommen war. Nun galt es, die Welt zu finden, in die er sich begeben hatte. Der Reisende und Mayroc hatten es übernommen, die Fährte des Jungen und seiner Begleiter aufzunehmen.

Am großen Fluss

Lena weinte. Es war ihr peinlich, aber es ging nicht anders.

„Was ist mit dem armen Herrn Lemmert passiert?“ fragte sie. Sie wischte sich über das Gesicht.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Tobias erschöpft. Er fühlte sich ausgelaugt.

„Dieses grüne Monster. Wieso ist es hinter uns her?“ Lena schniefte. Sie merkte selbst, dass ihre Stimme quengelig klang. Aber wenigstens flossen die Tränen nicht mehr.

„Woher soll ich das wissen“, brauste Tobias auf. Die ewige Fragerei nervte ihn.

„Ich glaube, es ist hinter mir her“, sagte er dann doch.

Lena starrte ihn erstaunt an.

Das war es, was Tobias dachte. Und er glaubte auch, dass die große Echse etwas damit zu tun hatte, was mit Herrn Lemmert geschehen war. Er erinnerte sich daran, wie verändert Oskar Palluschka gewirkt hatte, bevor das Wesen das erste Mal erschien. Und er sah das Gesicht des Milchmanns vor sich, wie er sich über den Tresen beugte, um nach ihm zu greifen. Bevor er dann vom Ladentisch herunterfiel, und kurz darauf die Echse erschien. Sie hatte es auf ihn abgesehen, davon war er überzeugt. Und das war leider kein Traum.

Lena hatte sich ein wenig beruhigt. Aber nur so weit, dass sie Luft hatte, sich zu beklagen. Sie war gerade nicht gut auf Tobias zu sprechen.

„Muss es bei dir immer so aufregend sein?“ stöhnte sie.

„Nö. Eigentlich erst, seitdem du bei mir aufgetaucht bist“, erwiderte Tobias kurz angebunden. Seine Nerven waren angespannt.

Lena hatte schon eine bissige Antwort auf der Zunge. Aber sie entschloss sich dann doch, das Thema zu wechseln. Sie blickte um sich.

„Wo sind wir?“ fragte sie.

Sie lagerten auf einem sanft abfallenden Hang: auf einer Lichtung, umgeben von hohen Bäumen. Auf dem Gras um sie herum glitzerte der Tau. Zwischen den Bäumen hingen Nebelfetzen, die sich allmählich auflösten. Vor ihnen, den Hang hinunter, war es heller, doch das Unterholz versperrte ihnen den Ausblick. Es herrschte Morgenstimmung. In der Luft lag schon eine Ahnung der schwülen Wärme, die der Tag bringen würde.

„Ich weiß es nicht“, sagte Tobias. Er schlug nach einem Insekt, dass sich auf seinem Handrücken niedergelassen hatte..

Sie saßen eng beieinander, noch immer zusammengekauert wie auf dem Boden in Laden des Milchmanns. Direkt vor ihnen, in der Mitte der Lichtung, glommen die Reste eines Feuers, umgeben von einem Ring von Steinen. In den Bäumen schrie ein Vogel.

Lena betrachtete intensiv und unter allerlei Verrenkungen ihren Hosenboden.

„Das ist ein Ding“, stellte sie verblüfft fest. Die anderen beiden sahen sie fragend an. Sie wies auf ihr Hinterteil. Ihre Hose war trocken und sauber. Keine Spur von Eigelb oder Glibber. Es war, als hätte sie sich nie in die zerbrochenen Eier gesetzt.

Tobias betrachtete seine Turnschuhe, an denen Eierreste klebten. Wieso bei ihm und bei Lena nicht? Dann fiel sein Blick auf Cirico Luz. Der Feuerwerker, der bisher kein Wort gesagt hatte, war aufgestanden und hatte mit angewiderter Miene die Sachen des Zimmermanns ausgezogen und zu Boden geworfen. Sein Käppi saß wieder auf seinem Haar. Aufmerksam untersuchte er seinen Arm. In seinem Trikotärmel war ein Riss, aber die Wunde, die ihm der Schnabel der Flugechse zugefügt hatte, blutete nicht mehr.

„Ist es schlimm?“ fragte Tobias.

Der Feuerwerker winkte ab. „Nur ein kleiner Riss“, sagte er und lächelte schmerzlich. „Es hätte schlimmer kommen können.“ Er sah den Jungen aufmerksam an. „Denkt Ihr, dass der Dschinn die kleinen Dämonen geschickt hat?“

Tobias schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht.“

„Und unser Helfer? War das ein Magier? Ein Freund von Euch?“ wollte Cirico Luz wissen.

Den habe ich ganz vergessen, dachte Tobias. Es war wirklich ein bisschen viel, was auf ihn einstürzte.

„Das war ein toller Kerl“, rief Lena eifrig, die ebenfalls Mühe hatte, sich an alle Einzelheiten der wenigen Minuten in dem Laden zu erinnern. „Aber wieso ist er so plötzlich verschwunden?“

Da siehst du mal, wollte Tobias ihr ins Gesicht sagen, wie es für die Zurückbleibenden ist, wenn die Leute nach Belieben kommen und gehen. Es ist leicht, wenn man alles nur träumt.

Er sprach es dann doch nicht aus. Lena konnte ja nichts dafür.

Er blickte erneut auf ihre saubere Nietenhose. Dann war das auch die Erklärung: Wenn Lena alles als einen Traum erlebte, wie sie immer behauptete, gab es keinen Grund, warum sie nicht in einem neuen Abschnitt ihres Traumes wieder in ihren Anfangszustand versetzt werden konnte. Ohne Eierschalen.

Bei Cirico Luz und ihm war es etwas anderes: Es war offensichtlich alles andere als ein Traum. Und deshalb hatte der Feuerwerker seine Wunde behalten, ebenso wie er die Eierreste an seinen Schuhen.

„Es waren zwei, die uns zur Hilfe eilten.“ Der Zwischenruf des Feuerwerkers unterbrach seine Gedanken.

„Genau“, sagte Lena. „Ein Ritter in silberner Rüstung.“ In ihren Augen lag ein schwärmerischer Glanz. „Wer das wohl war?“

Na ja, dachte Tobias, wieder ohne es auszusprechen, zuerst ist der neue Untermieter gekommen. Dann ist er verschwunden, so wie Lena immer verschwindet. Als wäre es ein Traum für ihn. Aber mit der Ankündigung, er käme gleich wieder. Aber dieses Mal als Ritter in schimmernder Rüstung.

Die, die alles nur träumen, haben es einfach, dachte er weiter. Er merkte, dass er sauer war. Denn Cirico Luz und er saßen fest in dem, was geschah. Sie konnten nicht mal eben mit einem Fingerschnippen zurück in die Heia. Wie sollte der Feuerwerker jemals wieder in seine Heimat zurückfinden?

Er fasste einen Entschluss: Gerade weil sie festsaßen, wurde es Zeit, herauszufinden, wohin sie geraten waren. Irgendwie musste es weitergehen.

 

Das tat es dann auch, ohne dass er aktiv werden musste:

Zwischen den Bäumen am Rand der Lichtung erschien eine Gestalt. Ihre Annäherung war bis dahin durch das Unterholz vor ihren Blicken verborgen gewesen. Es war ein schlaksiger junger Mann: groß und dünn, mit einem breitrandrigem Strohhut auf dem Kopf. In der Hand hielt er einen Beutel.

Offenbar hatte er sie gerade erst entdeckt. Wie angewurzelt war er stehen geblieben und starrte sie an.

„Verdammich will ich sein, wenn mir das gefällt, wie ihr euch an mich ran schleicht“, rief er erschrocken und musterte sie misstrauisch. Sein Blick ging an ihnen vorbei.

Tobias sah, dass neben der Feuerstelle ein Bündel auf dem Boden lag. Er hob die Hände.

„Wir haben nichts angerührt“, sagte er.

Der junge Mann am Rande der Lichtung schien zu überlegen. Sein Blick ging von einem zum anderen. Dann war er zu einem Entschluss gekommen. Er schlenderte heran.

„Wo kommt ihr her?“ wollte er wissen.

Als er näher kam, konnte man erkennen, dass er selbst noch ein Junge war, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als Tobias. Trotz seiner Schlaksigkeit wirkte er kräftig. Er hatte krauses dunkelbraunes Haar, das unter dem Strohhut hervor lugte. Sein Nacken war sonnenverbrannt. Er trug ein baumwollenes Hemd und Hosen aus dem gleichen Stoff. Schuhe hatte er nicht an. Seine Füße waren schmutzig.

„Wo seid ihr her? Wieso hab ich euch nich kommen hören?“ fragte er erneut. Er beugte sich zu seinem Bündel und überzeugte sich, dass nichts fehlte. Den Beutel, den er mit sich trug, legte er daneben ab.

„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Tobias.

Die Augen des großen Jungen weiteten sich. „Wie habt ihr das gemacht?“ fragte er verblüfft.

„Was meinst du?“ Tobias sah ihn an.

Der Junge zeigte auf das Gras hinter den dreien. „Wo sind eure Spuren? Seid ihr geflogen?“

Tobias sah, dass der Junge bei seiner Annäherung eine deutliche Spur im nassen Gras hinterlassen hatte. Um sie herum war nichts dergleichen zu sehen.

„So ungefähr“, seufzte er.

Der Junge wies auf den Mann von den Feuerinseln in seinem Gauklerkostüm. „Der war ’s, hab ich Recht? Der macht so was, oder?“

„Hey“, sagte Tobias, ohne weiter auf die Frage ihrer Ankunft auf dieser Lichtung einzugehen, „ich heiße Tobias. Das ist Lena. Und das ist Herr Luz.“

„Ich bin Huck. Bist du ein Mädchen?“ (Er sprach seinen Namen ‚Hack’ aus.)

Er sah Lena neugierig an. Die nickte schüchtern. Er meinte: „Siehst nich aus wie ’n Mädchen. Is’ aber vernünftig so. Hier läufste am besten nich mit ’n Kleid rum.“

Der Junge Huck gefiel Lena. Der hatte wenigstens vernünftige Ansichten. Nicht so wie Tobias, der immer an ihrem Zeugs was zu meckern hatte.

„Is’ besser so“, bekräftigte der große Junge, „wegen der Piraten, weißte.“

„Piraten?“ Lena sah ihn entgeistert an.

Er grinste. „Hab dir jetz ’nen Schreck eingejagt, was?“ Er kramte in seiner Hosentasche und holte eine Pfeife hervor. „Habt ihr Tabak?“ Hoffnungsvoll blickte er von einem zum anderen.

Tobias schüttelte den Kopf. Cirico Luz wusste nicht, wovon die Rede war.

„Braucht Ihr Feuer?“ fragte er höflich. Damit konnte er immer dienen.

Huck sah ihn erstaunt an. „Ne, ohne Tabak brauch ich auch kein Feuer nich.“

Na gottseidank, dachte Lena. Und kicherte, weil sie sich vorstellte, wie der Feuerwerker Hucks Pfeife in Brand setzte.

„Piraten?“ Tobias wollte es genauer wissen.

Der Junge nickte. „Unten aufm Fluss. Aber keine Angst“, sagte er lässig, während er sich die kalte Pfeife in den Mund schob, „tagsüber pennen die. Da siehste die nich. Vorsichtig müsst ihr nachts sein. Vor allem kleine Mädchen.“ Er grinste Lena an, die das gar nicht lustig fand.

„Du nimmst uns doch auf den Arm, oder?“ meinte sie.

„Welcher Fluss?“ fragte Tobias nach.

Huck kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. Er sah die drei seltsamen Gestalten an. „Wollt ihr mich veräppeln? Was fürn Fluss soll das wohl sein? Gibt ’s hier noch ’nen annnern als den Grand Ol’ River?“

„Grand Ol’ River?“ wiederholte Tobias und hatte dabei den Eindruck, ziemlich begriffsstutzig zu wirken.

„Mississippi“, erklärte Huck geduldig.

Lena und Tobias blickten sich entgeistert an. Cirico Luz sah ihnen stirnrunzelnd zu. Etwas ging vor, aber er verstand es nicht.

„Der Missi ..., Missi ... in Amerika?“ fragte Lena. Sie schämte sich, weil sie es nicht richtig aussprechen konnte

„Jo. In unnern Vereinigten Staaten.“ Huck sah sie stolz an. „Aber ihr seid von woanners her, das sehe ich. Kommt ihr aus Europ?“

„Aus Europa? Ja. Aus Deutschland“, gab Tobias ihm zur Antwort.

Huck runzelte die Stirn. „Hab ich nie nich von gehört. Ich kenn in Europ das Schottische Dominion, Frankreich, Preußen. Mehr nich.“

„Das schottische Dominion?“ fragte Tobias nach. „Was ist mit England?“

„O ja. Engländer kommen viel rüber, seitdem sie den Krieg verlor’n haben?“

„Welchen Krieg?“

„Gegen die Schotten, geg’n wen sonst. Das weiß jedes Kind. Aber uns ham die Schotten nich untergekriegt. Wir sind die Vereinigten Staaten. Wir ham uns von denen losgesagt.“

Tobias schwirrte der Kopf.

„Wir sind in Amerika“, flüsterte ihm Lena aufgeregt ins Ohr.

„Ja“, flüsterte er zurück. Aber das war nicht das Amerika, das er aus der Schule und aus seinen Büchern kannte. Von einem ‚Schottischen Dominion’, gegen das die Engländer einen Krieg verloren hatten und von dem sich die Vereinigten Staaten unabhängig erklärten, hatte er noch nie gehört.

Huck hatte sein Bündel und den Beutel, den er aus dem Wald mitgebracht hatte, aufgenommen. Erst jetzt sahen sie, dass darunter eine einläufige Flinte lag, die er ebenfalls aufhob.

„Ich muss weiter. Wollt ihr auch nach Hannibal?“

„Wo ist das?“ wollte Tobias wissen.

Huck verdrehte die Augen. „Ihr wisst aber auch rein gar nichs.“ Er begann, vor den dreien hin und her zu gehen und dabei laut seine Überlegungen zu äußern:

„Also, ihr seid nich von hier. Das is’ schon mal klar. Un’ ihr macht ’nen Geheimnis draus. Das is’ schon in Ordnung. Mach ich auch immer. Ich glaub aber, ich weiß, wo ihr her seid. Weil, ab heute is’ nämlich Viehmarkt in Hannibal, un’ der geht drei Tage lang. Un’ wegen dem Viehmarkt is’ Jahrmarkt, un’ da kommen die Gaukler un’ all so Leute von überall her. Manchmal sogar ein Zirkus. Un’ die kommen heute alle mit dem Postboot von St. Louis an, weil ’s heute losgeht. Un’ da gehört ihr dazu.“ Er grinste. „Das komische Zeugs von ihm da“, er wies auf den Feuerwerker, „das hat euch verraten. Nu is’ es aber so, dass ihr mir nix sag’n dürft, weil, es is’ ein Geheimnis. Ihr seid an Land gegangen, weil ’s euch langweilig war, un’ nu habt ihr euch verirrt. Das wollt ihr nicht zugeben, das verstehe ich schon. Aber bei Huck seid ihr gut aufgehoben. Ich kann euch nämlich mit meinem Skiff mitnehmen.“

Er beendete seine lange Rede.

Die drei sahen ihn mit offenen Mündern an.

„Da staunt ihr. Ich lieg wohl gar nich so falsch, wie ich mir das zusammengereimt hab?“

Eine direkte Antwort erhielt er nicht.

„Jahrmarkt find ich gut“, sagte Lena.

„Hannibal“, stimmte Tobias zu.

Damit war es abgemacht.

Tobias hatte mittlerweile eine Ahnung, um wem es sich bei dem Jungen handelte. Auch wenn es ein absolut fantastischer Gedanke war.

Huck führte die kleine Reisegesellschaft den Hang hinunter. Der Nebel, der zwischen den Bäumen hing, hatte sich weiter aufgelöst, und vor ihnen war zwischen den Stämmen die Sonne als ein heller Fleck im Dunst erkennbar.

Der Wald wurde lichter, und dann kam der Moment, an dem sie realisierten, dass die weite Fläche hellen Graus vor ihnen, die sie durch die Bäume hindurch erkennen konnten, nicht der nebelverhangene Himmel war, sondern eine sich scheinbar endlos erstreckende Wasserfläche, die ihnen auf den ersten Eindruck wie ein Meer erschien.

Huck bemerkte ihre Blicke. „Der Grand Ol’ River“, erklärte er.

„Der Mississippi.“ Tobias sagte es andächtig.

Sie stiegen die letzten Meter der Anhöhe hinab. Die Bäume standen bis dicht ans Ufer, ja sogar im Wasser, das um ihre Stämme gurgelte und an ihnen zerrte.

„Ham Hochwasser“, erläuterte Huck.

Das Wasser, auf das sie blickten, war von schmutziger, lehmig-gelber Farbe. Es floss rasch, mit Wirbeln und Schaumfetzen obendrauf, und trug mit sich losgerissene Bäume, deren Wurzelballen aus dem Wasser ragten, abgerissene Äste, Buschwerk und behauene Holzstämme. Sie sahen Abfälle, tote Tiere, die mit dem Bauch nach oben trieben, und Reste menschlicher Behausungen: Mitten im Fluss trieb vor ihren Augen mit schneller Fahrt das Dach einer Hütte vorbei. Noch weiter draußen erblickten sie die Reste eines Holzfloßes, das sich gemächlich um sich selbst drehte.

„Hat ord’n’lich zugeschlagen, das Frühjahrswasser“, stellte Huck fest. Unter den Zweigen einer tief über die Fluten geneigten Weide zog er einen flachen Kahn zu sich heran, den er mit einem Strick befestigt hatte.

„Da sollen wir raus?“ fragte Lena zaghaft, mit einem Blick auf die starke Strömung des Flusses.

„Is’ alles halb so schlimm“, beruhigte Huck.

„Das ist dein Boot?“ wollte Tobias wissen.

„Hab ich mir ... gelieh’n.“ Huck grinste fröhlich. „Is’ aber in Ordnung. Ich bring ’s ja zurück.“

Er half ihnen beim Einsteigen. Im Heck war eine Holzplanke, auf die er die zwei Kinder platzierte. „Setzt du dich nach hinten?“, sagte er zu Tobias, „mit der jungen Lady?“ Er lächelte Lena zu. Sein Lächeln gefiel ihr. Sich selbst setzte er, mit dem Feuerwerker neben sich, auf eine Ruderbank in der Mitte.

„Könnt Ihr mir beim Pullen helfen, Sir?“ fragte er höflich, während er das Boot mit einem der Riemen vom Ufer abstieß und unter den herabhängenden Zweigen ins offene Wasser dirigierte.

Der Mann von den Feuerinseln sah ihn verwirrt an. „Bei was?“ fragte er ratlos, während er sich vorsichtig setzte.

Huck griff nach dem zweiten Riemen, der in der Mitte des Bootes lag, und drückte ihn dem Feuerwerker in die Hand. „Beim Rudern, Sir“, erklärte er, und fügte beruhigend hinzu: „Ham nich viel zu tun. Fahr’n flussabwärts mit der Strömung. Wir müssen nur Kurs halten.“

„Ah, ja!“ sagte Cirico Luz und griff ungeschickt nach dem langen Holzriemen. Er lachte. „Das mach ich gern.“ Er blinzelte Tobias und Lena zu. „Ich komme mir vor wie Sindbad“, sagte er vergnügt.

„Den kenn ich“, meinte Huck, während er dem Feuerwerker zeigte, wie er den Ruderriemen halten sollte. Er lenkte den Bug des breiten Kahns in die Strömung, und der Fluss trug sie mit sich fort. Im Nu blieb das Ufer hinter ihnen zurück.

„Ihr kennt Sindbad?“

„Klar, hab von ihm gehört. Von seinen Reisen un’ so.“

Cirico Luz sah Huck verblüfft an.

„Wie breit ist der Fluss?“ fragte Tobias, der sich vergeblich bemüht hatte, im Dunst, der über dem Wasser lag, das andere Ufer zu erkennen.“

„Werd’n schon sechs bis acht Meilen sein.“ Huck griff nach seinem Beutel und hielt ihn Lena und Tobias hin. „Ihr könnt probieren, wenn ihr wollt.“

Lena beugte sich vor und sah neugierig hinein. „Die sehen toll aus!“ sagte sie und zeigte Tobias, was der Beutel enthielt: Er war gefüllt mit Walderdbeeren, Brombeeren, wilden Weintrauben und Himbeeren.

„Is’ der beste Platz hier inner Gegend, wo ich die herhab“, sagte Huck stolz. „Nun nimm schon“, forderte er Lena auf, die noch zögerte. Ihre Mama hatte ihr beigebracht, Obst auf keinen Fall ungewaschen zu essen. Aber sie merkte, dass sie ihren Führer nicht enttäuschen sollte, und griff in den Beutel. Tobias hatte keine Hemmungen gehabt und sich eine Handvoll herausgenommen. Lena kostete vorsichtig. Es waren die besten Beeren, die sie in ihrem ganzen Leben gegessen hatte.

„Wie lange dauert es bis Hannibal?“ fragte Tobias.

„Nich lang. Stunde oder so. Die Strömung ist stark.“

Der Dunst, der über der weiten Wasserfläche lag, hatte sich weiter gehoben. Sie sahen nun in der Ferne das gegenüberliegende Ufer des Stromes, der sich breit und mächtig dahinwälzte. Über ihnen spannte sich ein blauer Himmel, in dem der Wind Wolkenberge vor sich her trieb. Leider war auf der Wasseroberfläche wenig von dem Wind zu spüren. Die Luft war warm, schwer und von Feuchtigkeit gesättigt. Und es gab reichlich Insekten, die sich als ziemlich lästig und leider auch stechwütig erwiesen.

 

„Bist du nur wegen der Beeren rausgefahren?“ Tobias konnte sich das nicht vorstellen.

Huck blickte über das Wasser nach vorn. „Nö, hatte da was zu erledigen“, erwiderte er kurz. „Die Beeren sind ’nen Mitbringsel für Missis Clemens un’ ihre Töchter“, fügte er an.

„Die Insel da“, sagte er und wies in Fahrtrichtung, wo ein grünbewachsenes Eiland mitten im Strom rasch näher kam, „da müsst ihr euch von fernhalten.“

„Wieso?“ fragte Lena, ohne sich etwas dabei zu denken.

Huck grinste sie an. „Willste das wirklich wissen?“

„Klar“, sagte Lena.

Hucks Miene wurde ernst. „Is’ ’ne Geisterinsel“, sagte er mit Grabesstimme.

Lena sah ihn unsicher an.

„Is’ kein Scherz“, sagte er. „Da spukt es.“ Er sah wieder nach vorn. Das Boot näherte sich schnell der Insel. „Das Fahrwasser für die Dampfboote läuft außen rum“, sagte er, „aber wir bleiben auf unserer Uferseite. Mit unsern flachen Kahn kommen wir überall rüber, und jetz beim Hochwasser sowieso. Bei Normalwasser gibt ’s auf dieser Seite Untiefen, das riskiert kein Schiff. Wenn man sich auskennt, kann man bei Normalwasser sogar vom Ufer durchs Wasser zu Fuß zur Insel, is’ aber gefährlich. Als Kinder sind wir da rüber.“

„Auf eine Geisterinsel?“ fragte Lena zweifelnd. Sie wusste noch immer nicht, ob sie dem Jungen glauben sollte oder ob er sich über sie lustig machte. Auch Tobias war neugierig auf Hucks Antwort, während Cirico Luz die Insel keinen Moment aus den Augen ließ. Das Eiland kam schnell näher.

„War ’ne Mutprobe“, sagte Huck. „Ham wir aber bald sein lassen. Einer von den Jungs is’ auf der Insel verschwunden, un’ is’ nie wieder aufgetaucht. Keiner geht da freiwillig rauf, der noch seine fünf Sinne beisammen hat.“

Sie befanden sich jetzt mit ihrem Boot querab der langgestreckten Insel, die über und über von wild durcheinander wachsenden Bäumen, dichtem Unterholz und wucherndem Gras und Schilf bedeckt war. Dazu staute sich an den Rändern des Eilands das angeschwemmte Treibgut zu undurchdringlichen Barrieren auf.

„’s gibt keine Vögel auf der Insel“, sagte Huck düster. „Un’ nachts hört man die Stimmen der Ertrunkenen am Ufer.“ Er sah die beiden Kinder auf der Rückbank ernst an. „Das is’ so, weil die Leute, die wo im Fluss ertrunken sind, nich richtig auf Kirchengrund begraben sind. Un’ deswegen finden ihre Seelen keine Ruhe nich un’ wandern als Geister immer am Ufer auf un’ ab un’ rufen nach dir. Auf un’ ab“, wiederholte er. „Man hört sie aber nur nachts, weil, das helle Licht der Sonne is’ ihnen ein Graus. Ich hab ’s ausprobiert“, fügte er hinzu. „Bin nachts mit ’nen Boot bis an die Insel ran. Ich hab sie gehört, wie sie nach mir gerufen ham, das vergess ich mein Lebtag nich.“

Schweigen senkte sich über das Boot, während die Insel an ihrer Backbordseite vorbeizog und allmählich hinter ihnen zurückblieb.

„So“, sagte Huck fröhlich, „nu sind wir gleich da. Das is’ Hannibal.“

Er wies nach vorn, wo eine Ansammlung von Häusern am Ufer erkennbar wurde.