Read the book: «Raban und Röiven Insel der Elfen», page 3

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»Die habe ich schon lange vermisst, so ungefähr seit unserem letzten Treffen!«, krächzt Röiven, während er als erster vor einem dieser Haufen hockt. Schnell schnappt er sich einen Brocken, den er mit geschlossenen Augen hinunterschluckt. »Ah. Das tut gut!« Schon verschwindet das nächste Stück Schokolade.

Im nächsten Moment hockt jeder Kolkrabe vor einem der sieben Haufen, die schnell kleiner werden. Raban und Ilea setzen sich ebenfalls ins Gras und genießen die Brocken des achten. Wie es der Junge erwartet hat, sind die Vögel schneller als er und das Mädchen fertig. Da sie noch sieben Stücke übrighaben, bekommt jeder der Raben noch eins davon. Damit schließen die sonst immer auf Krawall gebürsteten Jungvögel endgültig Frieden mit ihnen.


Fortsetzung eines Ausflugs

Nachdem die letzten Brocken aufgegessen sind, fliegen die jungen Vögel kreischend auf, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Sie beginnen sich gegenseitig zu jagen. Lange untätig herumsitzen können sie wohl nicht. Röiven blickt ihnen hinterher. Er ist mindestens so besorgt um sie, wie er es bei seinem ersten Kind, Ainoa, war. Unruhig hopst er von einem Bein aufs andere und späht in die Ferne, doch die jungen Raben sind nirgends zu sehen.

»Hast du gerade auch einen Hilferuf gehört?«, fragt er Zoe aufgeregt, die das jedoch verneint.

»Du weißt, ich habe das bessere Gehör von uns beiden. Da war kein Hilferuf.«

»Vielleicht können sie auch nicht um Hilfe rufen. Es gibt unzählige Gefahren, die ihnen begegnen könnten. Lass uns nachschauen. Nur ganz kurz.«

»Du hast doch gerade erst Besuch von deinem Freund bekommen. Was sollen er und Ilea von dir denken? Ich könnte ja an deiner Stelle nach den Kindern schauen, wenn dich das beruhigt. Was meinst du?«

»Nein. Wenn ihnen ein Zauberer begegnen sollte, kannst du ihnen …«

»Es gibt keine gefährlichen Magier mehr«, versucht Raban, den übervorsichtigen Vater zu beruhigen.

»Vielleicht wissen wir nur nichts davon. Im Herbst war es doch ähnlich. Und plötzlich gab es sogar zwei fremde Zauberer in unserem Land.«

»Das stimmt schon. Aber nur einer war böse, der andere verfolgte ihn. Und du konntest den Bösen letztlich zur Strecke bringen.«

»Genau. Und deshalb muss ich in der Nähe meiner Kinder sein. Wir sehen uns demnächst.« Mit diesen Worten schwingt sich der Kolkrabe in die Luft und fliegt in die Richtung, die die jungen Raben erst vor wenigen Minuten eingeschlagen haben. »Zoe, komm schon. Zu zweit sehen wir sie eher.« Mit einem Seufzer erhebt sich seine Gefährtin.

»Tut mir leid. Ich hoffte, dass er die Fürsorge bei unseren neuen Kindern etwas zügeln würde. Bei Ainoa war sie ja noch nachvollziehbar, aber jetzt? Kommt uns doch trotzdem bald mal wieder besuchen. Oder, Raban, könntest du ihn mit auf eine neue Mission nehmen? Da käme er auf andere Gedanken.« Schnell folgt Zoe nun Röiven, der inzwischen nur noch als kleiner Punkt zu sehen ist.

Der Junge und das Mädchen schauen sich an und beginnen dann zu grinsen.

»Vielleicht sollte ich diesen Rabenvater tatsächlich mit einer besonderen Aufgabe ablenken. Die jungen Kolkraben sind doch bereits selbstständig und werden ihn noch völlig überfordern.«

»Das ist eine gute Idee. Ich hatte den Eindruck, dass dein Freund schon sehr abgenommen hat. Sein Gefieder glänzt auch nicht mehr so stark wie sonst. Du solltest Röiven morgen erneut besuchen. Vielleicht überredest du ihn zu einer kleinen Auszeit in eurer Scheune, du weißt sicher, welche ich meine.«

»Aber klaro. Jo, jepp usw. Übrigens, diese Ausdrücke haben seine Kinder schon von Röiven übernommen. – Die Idee ist super. Das bringt mich darauf, dass wir im Herbst den Ausflug dort abgebrochen haben. Ich schlage vor, dass wir jetzt den nächsten Ort unseres Ausflugs aufsuchen.« Der Junge erhebt sich und klopft sich einige Grashalme von der Hose. Er schultert den Rucksack und nimmt Ileas Hand in seine.

Im gleichen Moment stehen sie in der Nähe eines Meeresarms mit Blick auf eine kleine Festung, die sich auf einer Felseninsel befindet. Ilea dreht sich einmal komplett um sich selbst, um die überwältigende Szenerie rundherum erfassen zu können.

»Wow. Das ist atemberaubend schön hier. Aber sind wir im letzten Herbst bei unserer Flucht vor dem Zauberer nicht zuerst in zwei Tierparks gewesen? Dann standen wir vor dem Museum in der Hauptstadt, sind kurz mit der Straßenbahn gefahren und suchten die Eingangshalle eines Bahnhofs auf, bevor wir hierherkamen.«

»Genau. Diese Orte sind zwar auch Stationen der Reise mit Röiven gewesen, aber sie sind nicht wirklich spektakulär, ich meine, nicht so umwerfend schön.« Raban blickt Ilea forschend an. Hat er richtig vermutet, dass sie auch eher die Besonderheiten der Natur als das hektische Leben an den anderen Plätzen sehen möchte? Das Mädchen lächelt ihn an.

»Wir hatten im Herbst eigentlich auch nicht vor, diese Orte zu besuchen, wenn ich mich richtig erinnere. Hier, in der Ruhe, ist es viel entspannter. – Was passierte hier, ich meine, auf eurer Reise vor zwei Jahren?« Der Junge freut sich, dass er die richtige Wahl getroffen hat.

»Wir suchten nach weiteren Kolkraben. Röiven hatte erfahren, dass hier ein Clan von ihnen leben sollte, also ein Familienverband der Fithich.«

»Und, hattet ihr Erfolg?«

»Nein! Die Burg war schon damals völlig heruntergekommen und unbewohnt. Für Fithich gab es keinen Grund, sich dort aufzuhalten. Bis auf ein paar Krähen, die den König der Lüfte, einen Steinadler, attackierten, gab es hier keine anderen Vögel.«

»Krähen bezeichnet Röiven doch sonst als »Lumpenpack« oder »Gesindel«, genauso wie Dohlen und Elstern.« Ilea schaut Raban mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Konntet ihr von ihnen etwas erfahren?«

»Nein. Das hat Röiven auch nicht versucht. Aber der Adler gab meinem Freund einen Tipp, wo wir suchen sollten. Das ist auch der nächste Halt auf unserer Reise.«

»Warte bitte. Ich möchte mich noch etwas umsehen.«

Gemeinsam mit Ilea betrachtet Raban erneut das Panorama. Umrahmt wird ihr Standpunkt ringsherum von gewaltigen Bergen, wodurch die Burganlage auf dem Eiland winzig erscheint. Das Wasser des Meeresarms liegt fast glatt vor ihnen, in dem sich die alte Anlage und der blaue Himmel spiegeln. Sie drehen sich um und erblicken eine langsam ansteigende Ebene, die bis an den Fuß der Berge reicht. Die Gipfel setzen sich bis in weiter Ferne fort, neben- und übereinander emporragend.

»Die Ebene mündet in einer Felsspalte, die zwischen die Berge führt. Wir sind ihr damals bis in ein Tal gefolgt, in dem Kolkraben zu finden sein sollten. Wollen wir auch durch die Schlucht wandern?«

»Wenn der Pfad zwischen diesen gewaltigen Bergen sehr eng wird, fühle ich mich ein wenig unbehaglich. Nein. Bring uns lieber direkt zum nächsten Ort.« Ilea nimmt seine Hand und staunt erneut, als sie im gleichen Moment am Ende der Schlucht im Norden stehen. Von hier haben sie freien Blick auf das breite Tal, in dem der Kolkrabe die ersten seines Volkes überreden konnte, Asyl im geheimen Wald zu nehmen.

Die Sommersonne scheint wärmend auf die beiden Jugendlichen, die es sich auf einem großen Steinblock für ein Picknick gemütlich machen. Während Raban die mitgebrachten Leckereien auspackt, staunt Ilea über den sich ihr bietenden Ausblick. Die schroffen Berge weichen weit auseinander. Auf der einen Seite, auf der sich die beiden befinden, leuchten die schneebedeckten Gipfel über ihnen hell im Sonnenlicht, auf der gegenüberliegenden Seite wirken sie im Schatten leicht bläulich bis grau. Das Tal ist mit saftigem Gras bewachsen. Dort gibt es Einfassungen aus aufeinandergeschichteten Steinen, wie das hier im Norden oft üblich ist. Sie pferchen Schafherden ein, die darin langsam weidend umherziehen. Auch wenige aber mächtige Bäume stehen verstreut auf der Fläche. In der Mitte der Weite erkennt Ilea einige Häuser, die zueinander gruppiert sind.

»Hier ist ein heißer Kakao für dich«, unterbricht Raban die Betrachtung und reicht ihr eine dampfende Steinguttasse.

»Woher … Ich habe jetzt glatt vergessen, dass du jederzeit so ein Heißgetränk herbeizaubern kannst. – Moment mal. Wieso schleppst du dich mit dem Rucksack und den Dingen ab, die deine Mom dir darin mitgibt, wenn du sie einfacher mit einem Zauber … Das versteh ich wirklich nicht.«

»Ähem. Das ist schnell erklärt. Ich will meiner Mom eine Freude machen. Sie kocht und backt so gut, als wenn sie die Leckereien zaubern würde, und packt sie dann für mich ein. Außerdem hat sie sich noch nicht so ganz daran gewöhnt, dass ich ein Zauberer bin.«

»Das ist lieb von dir!«, strahlt ihn das Mädchen an.

Verlegen versucht Raban, das Thema zu wechseln, indem er von dem Ort berichtet, den sie als nächsten aufsuchen werden.

»Röiven hatte von dem Führer der Raben erfahren, dass der nächste Clanführer nicht so einfach zu überzeugen sein würde. Er wäre sehr stolz und ließe sich nicht aus dem Revier seiner Familie vertreiben, auch wenn das freiwillig geschehen und nur ein kurzzeitiges Asyl in der Fremde bedeuten sollte.«

»Wie ich euch kenne, habt ihr das aber trotzdem versucht, oder?«

»Aber klaro!«, ahmt der Junge den Raben nach. Da sie mit dem Picknick fertig sind, flirrt die Luft.

Raban steht nun mit Ilea in der Nähe eines Flusses, wo sie oberhalb eines Hangs eine gewaltige Burganlage erblicken.

Ilea schaut staunend mit weit geöffneten Augen umher. Bäume stehen vereinzelt, in Gruppen oder in kleinen Wäldern zusammen. Schroffe Berge gibt es hier nicht, sie sind sanft gewellt und die Hänge mit saftigem Gras überzogen, auf dem in der Mehrzahl Schafe, aber auch vereinzelt Kühe stehen. Ilea schmeckt Spuren salziger Meeresluft. Ihren fragenden Blick richtig deutend, antwortet der Junge:

»Das Meer ist nicht weit, der Fluss wird es schon bald erreichen.« Schreie von Möwen lenken die Aufmerksamkeit der beiden auf sich, die auf Nahrungssuche dem Wasserlauf hinauf folgen.

»Schau dir diese beeindruckende Burg an«, fordert Raban sich umdrehend und zur Festung deutend.

»Ist die aber gewaltig!«

»Leider hatte Röiven hier keinen Erfolg. – Wenn du möchtest, können wir uns die Anlage ansehen. Sollen wir?« Begeistert nickt Ilea und folgt Raban den Hang hinauf.

»Dort stand im Sommer vorigen Jahres ein Zelt.« Der Junge deutet nach kurzer Zeit auf die entsprechende Stelle. »Über 30 tote Kolkraben lagen darin, die von Morgana und Gavin getötet worden waren. Zum Glück befanden sich Zoe und Ainoa nicht darunter. Und hier hatte ich auch eine kurze Auseinandersetzung mit diesen Dubharan, doch ich konnte sie nicht überwältigen, also entkamen sie.«

Die Sonne wärmt den Jungen und vertreibt die dunklen Gedanken, die sich in seinen Kopf schleichen wollen.

Da sie mit ausgreifenden Schritten am Mauerfuß der Anlage in Richtung des Dorfs weiterwandern, ist die bezeichnete Stelle ihren Blicken schnell entschwunden. Es dauert einige Zeit, in der die Sonne sie beträchtlich ins Schwitzen bringt, bis sie im kühlen Schatten des Torhauses verschnaufen können. Bei einem älteren Mann mit grauem Haar lösen sie die Eintrittskarten.

Obwohl sich in der berühmten Anlage viele Touristen drängen, stört das die beiden nicht. Auch das Gewusel und das Lärmen kleinerer Kinder plätschern an ihnen unbemerkt vorbei. Der Junge und das Mädchen versinken in die Welt des Mittelalters, während sie die Anlage bestaunen und die vielen Informationstafeln lesen. Die Festungsanlage ist aber so riesig, dass der komplette Nachmittag vergeht, ohne dass sie auch nur die Hälfte von allem gesehen haben. Erschöpft ruhen sie ihre müden Füße im Schatten einer alten Ulme aus. Raban kauft Ilea und sich Eis in Waffeln, das sie nun genießen.

Beeindruckt von der Anlage berichtet der Junge dabei von dem kurzen Besuch auf der Insel der Elfen, wo ihn die Häuser und auch die Lebensweise der Menschen an die in diesem Land längst vergangene Epoche des Mittelalters erinnerte. Als der Ton erklingt, mit dem die Besucher auf das Schließen der Anlage hingewiesen werden, schrecken beide hoch. Hastig verlassen sie die Festung und wandern den sanften Abhang zum Fluss hinab. Dort setzen sie sich in das warme Gras und vertilgen die Reste des Picknicks, die noch im Rucksack zu finden sind.

»Danke für den schönen Tag!« Ilea strahlt den Raban an, dessen Herz plötzlich heftig zu klopfen beginnt. Was ist los? Lauert hier eine Gefahr? Der Junge ist verwirrt. Sollte doch ein feindlicher Zauberer … Weiter kommt er in seinen Überlegungen nicht. Er hat nicht bemerkt, dass Ilea näher an ihn herangerückt ist. Jetzt umarmt und küsst sie ihn.

Als sie ihn loslässt, glüht ihr Gesicht ebenso wie seines. Raban ist überwältigt. Wow! Das fühlt sich gut an! Als er den Kuss erwidern möchte, rückt sie etwas von ihm ab.

»Ich danke dir auch, für deine Begleitung u… und für diesen süßen Schluss«, stottert er. Ilea strahlt ihn glücklich an. Sie freut sich, dass er nicht versucht, seine körperliche und zauberische Überlegenheit auszunutzen, um einen weiteren Kuss von ihr zu fordern. Obwohl er etwas enttäuscht ist, weiß Raban, dass er das genießen soll, was sie ihm freiwillig gewährt.

»Wenn es dir recht ist, sollten wir das bald wiederholen.« Der Junge strahlt sie an. Sofort blitzt ein Schalk in ihren Augen auf.

»Meinst du den Ausflug oder den Schluss?« Sie grinst ihn etwas verschämt an.

»Beides!«, erwidert Raban mit fester Stimme und blickt ebenso verlegen zurück. Sie strahlen jetzt übers ganze Gesicht und erheben sich.

»Nach Hause?«, fragt Raban.

»Jo, jepp, klaro!«, antwortet Ilea, die bereits seinen Arm umfasst.


Ein Mord

Ebenfalls im vergangenen Herbst.

Die königlichen Jäger suchen in Duncans Haus nach Hinweisen, sowohl auf seine verübten Untaten, als auch auf möglicherweise noch unerkannte Verbündete. Offensichtliches Diebesgut wird konfisziert. Ein Großteil der Beute der Raubzüge wurde aber von Duncan verkauft, womit er seinen Luxus finanzierte. Den größten Teil des dadurch erhaltenen Geldes hat er unauffindbar in einem Versteck deponiert, mit dem er eine Privatarmee aufstellen wollte. Er beabsichtigte, den bisherigen König zu stürzen, um dann selbst die Krone zu besitzen. Während des Aufenthalts im Land seiner Urahnen, wohin er ungewollt durch einen missglückten Portaro-Zauber gelangte, lernte er mächtige Zaubersprüche kennen. Diese sind in den alten Büchern aufgezeichnet, die er in der Bibliothek Sörens fand, die zuletzt dessen Urenkelin Morgana gehörten. Als ihm endlich die Rückkehr auf die Insel der Elfen gelang, nutzte er seine neuen Kenntnisse, um den König zu stürzen. Die ihm wichtigsten Bücher hatte er hierher mitgenommen, die nun bei der Durchsuchung seiner Habe entdeckt werden. Größere Bestände an Büchern gibt es auf der Insel der Elfen offiziell nur im Besitz des regierenden Monarchen, daher werden sie allgemein als Kostbarkeit angesehen. Obwohl die alten Bücher eher unspektakulär aussehen, stehen sie verpackt zum Abtransport in die königliche Bibliothek bereit.

Vor mehr als 100 Jahren verlor das Volk der Fairwings eine über Jahrzehnte geführte, kriegerische Auseinandersetzung gegen die Darkwings. Der damalige König der Darkwings übernahm die Festung des Königs der Fairwings, der ein Vorfahr Kenneths war. In dieser Anlage befindet sich die zweite Bibliothek des Landes. Kenneth hat darauf verzichtet, als Führer der Fairwings aufzutreten. Er vermisst die damit verbundene Macht nicht. Aber er will die Verantwortung für sein Volk trotzdem übernehmen und ihnen dienen, soweit er das mit seinen Kräften vermag. Deshalb zieht er bereits seit Jahren durch das Land, genauer gesagt, über die Insel und unterstützt die Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme. Dass er zaubern kann, hat er bisher immer geschickt vor anderen verborgen, bis es zur Auseinandersetzung mit Duncan kam. Doch das hat eigentlich nur Kendra so richtig mitbekommen, und sie wird es nicht absichtlich verraten.

Kenneth vermisst allerdings die Bibliothek in der Festungsanlage seiner Vorfahren, denn Bücher liebt er über alles. Dann und wann erlaubte der jetzt tote König auserwählten Darkwings und manchmal sogar ihm, die Bücher zu betrachten und einige Stunden darin zu lesen, doch das ist nichts im Vergleich zu langen Abenden bei knisterndem Kaminfeuer in dem eigenen Büchersaal.

Einige Privatpersonen, meist gehören sie der Oberschicht der Darkwings an, besitzen auch Bücher. Das sind dann jedoch weniger als 100 Exemplare, so dass in diesen Fällen von keiner Bibliothek zu sprechen ist. Kenneth besitzt ein armselig erscheinendes Haus in der näheren Umgebung der ehemaligen Familienburg, das von einer Schwester der Wirtin Amelia während seiner oft langen Abwesenheit in Ordnung gehalten wird. Sobald man allerdings in das Haus tritt, staunt man über die Vielzahl der Bücher, die in unzähligen Regalen in Fluren und Zimmern stehen, doch das erfährt außerhalb des Hauses niemand. Der Fairwing liebt es, sich dort hin und wieder eine Auszeit von seinen anstrengenden Reisen zu gönnen.

Kenneth ist nicht nur das rechtmäßige Oberhaupt der Fairwings, sondern gleichzeitig auch ein Nachkomme der Elfen des Westens. In seinen Adern fließt sogar in direkter Linie das Blut von deren letztem Anführer. Deshalb benötigt er die Bücher nicht, um sein Wissen über Zaubersprüche aufzufrischen. Wie Sorcha verfügt er unauslöschlich über alle Erkenntnisse und Geschehen seines Elfenvolkes.

Einige der bei Duncan gefundenen Bücher werden heimlich beiseitegeschafft. Zusammen mit besonderen Kostbarkeiten, darunter befinden sich seltsam erscheinende Artefakte, werden die Zauberbücher noch spätabends einem an derartigen Dingen interessierten Mann angeboten. Der königliche Jäger und dieser Mann, der einen dunklen Umhang mit über den Kopf gezogener Kapuze trägt, treffen sich in einer verwinkelten Gasse außerhalb der Burganlage in der Residenzstadt. Das Kopfsteinpflaster ist nass und rutschig, da es bis vor ein paar Minuten noch heftig geregnet hat. Einige Wasserbäche rauschen seitlich die Gosse entlang, während noch ein feiner Nieselregen in der Luft verbleibt.

»Sauwetter! Ich bin völlig durchnässt. Warum müssen wir uns hier treffen?«

»Mich interessiert dein Befinden nicht«, zischt eine leise Stimme zurück. »Wir stehen hier, weil ich es so will! Andere brauchen von unserem Handel nichts zu wissen. Jetzt jammere nicht und zeig her, was du mitgebracht hast!« Die Stimme kling herrisch, an autoritäres Auftreten gewöhnt, obwohl der Dunkle nur flüstert. Dem Jäger zieht, nicht nur wegen der Nässe und Kälte, eine Gänsehaut über den Rücken. Er hat schon einige Geschäfte dieser Art mit dem Vermummten getätigt, ohne auch nur zu ahnen, wer er ist. Trotzdem hat der Mann etwas Drohendes an sich. Irgendetwas an ihm verheißt den Tod, spürt der Jäger. Also nimmt er schnell die Plane von dem Handkarren, auf dem er die Dinge hertransportiert hat. Der Dunkle lässt seine Blendlaterne kurz aufleuchten.

»Ah, Bücher! Die sehen aber schon sehr alt aus, da wird in ihnen wohl kaum etwas heute noch Interessantes stehen. – Und was ist in dem kleinen Säckchen? Los, öffne es!« Der Jäger versucht, mit zittrigen Fingern die Kordel zu lösen, während er lauernd entgegnet:

»In den Büchern stehen Zaubersprüche, wie sie angewandt werden und was sie bewirken. Das kann unter Umständen hilfreich sein. Duncan hat daraus wohl einiges gelernt.« Jetzt hat er die Verschnürung gelöst und öffnet das Säckchen. Die Laterne leuchtet kurz hinein.

»Pah, das sind ja nur Schmuckstücke! Mehr war nicht zu finden?«

»Ich habe auch noch eine Kladde mitgebracht, in der Duncan offenbar aufgezeichnet hat, was er so gemacht hat. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Tagebuch.«

»Ein Tagebuch? – Hm. Darin wird er doch nicht festgehalten haben, in wen er verliebt ist oder so?«

»Ähem. Nein. Er schreibt über die von ihm und seinen Kumpanen verübten Überfälle. Auf den letzten Seiten berichtet er etwas von Steinkreisen und wie er versucht, hierher zurückzukommen.«

»Na, ich weiß nicht. Wo soll er schon gewesen sein?«

»Verzeihung. Ich muss so langsam wieder zurück ins Quartier. Offiziell bringe ich die beschlagnahmten Gegenstände in diesem Moment ins Lager, damit sie morgen dort besichtigt und in Listen eingetragen werden können. – Was bekomme ich nun für die Dinge, oder soll ich sie wieder mitnehmen?«

Der Jäger klingt ungeduldig. Warum zögert der Dunkle überhaupt?

»Ich möchte noch einen Blick auf die Bücher werfen.« Er beugt sich vor. In dem Moment, als die Blendlaterne aufleuchtet, fegt ein Windstoß durch die enge Gasse, der die Kapuze des Vermummten herunter fegt. Jetzt geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Die Augen des Jägers weiten sich in plötzlichem Erkennen, mit wem er es zu tun hat, um gleich darauf zu brechen. Der Dunkle musste sein Messer, das er jetzt seelenruhig am Gewand des Jägers abwischt, unter dem Umhang verborgen in einer Hand gehalten haben. Mit einem letzten Hauch sinkt der andere Mann zu Boden. Das Messer verschwindet so schnell, wie es erschienen ist unter dem Umhang. Die Kapuze wird über den Kopf gezogen. Danach murmelt der Mörder, während er die Kleidung des Toten durchsucht:

»Wo ist denn jetzt die Kladde. Die muss ich unbedingt mitnehmen. Ah, da habe ich sie schon.« Er richtet sich auf.

»Eigentlich ist es schade um diesen Jäger. Er hat mich über Jahre mit Dingen versorgt, die nirgends zu kaufen sind. Da er mich aber erkannt hat, musste ich mich schützen. Einen neuen Hehler werde ich sicher einfacher finden können, als mich vor Erpressungen oder Schlimmerem zu bewahren.« Er schnappt sich das Säckchen und die alten Bücher. Dann flirrt die Luft.

Am nächsten Morgen sorgen der Leichnam und der leere Handkarren für einige Verwunderung unter den Jägern.

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Volume:
301 p. 2 illustrations
ISBN:
9783742745583
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Bookwire
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