Zwei Fischköppe in den Anden

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Zwei Fischköppe in den Anden
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Norbert Hinz

Zwei Fischköppe in den Anden

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Epilog

Ferne und Sehnsucht

Endspurt

Erste Eindrücke Santiago und Valparaiso

El viaje con moto

Tata Tatio – „der rauchende Vater“

Südliches Peru

Cañon del Colca

Von den Condoren zur alten Inka-Hauptstadt

Das heilige Tal – Machu Picchu oder nicht

Der Schamane

Zum Nationalpark in den Regenwald am Rio Tampopata

Der Lago Titicaca

Bolivia Copacabana

Andenmetropole La Paz

Salar de Uyuni, wo ich das Gefühl hatte, nicht mehr auf der Erde zu sein

Bolivia extrem … Atacama ist überall

Zu den breitesten Wasserfällen der Erde

H2O-Gewalten

Begegnungen

Uruguay – das Land der Steaks und des Tangos

Santa Teresa

„Mucho frio“ nach Colonia

Argentinien meint es nicht gut mit uns

Chile – Klappe, die dritte

Windiges Patagonien – die legendäre Ruta 40

Wieder zurück in Uruguay – unser neues Lieblingsland

Montevideo im Karnevalsrausch

Danksagung und Nachwort

Impressum neobooks

Epilog

Dicke Tränen laufen mir über die Wangen, während die Bilder auf der Leinwand im Neunsekundentakt wechseln. Zwei Monate nach unserer Reise sehe ich mir an einem Samstagabend die Fotos in unserem Wohnzimmer an. Die eingespielte Musik im Hintergrund machen sie lebendig, kleine Videos lassen sie wie einen Film wirken. Schon einige Male habe ich meine Diashow vor Publikum gezeigt, die Bilder und meine Worte haben die Leute augenscheinlich mitgerissen. Sie haben die Reise sozusagen miterlebt. Wenn ich aber die Bilder nicht kommentiere und allein meine Gedanken laufen lasse, tauche ich wieder ganz tief ein und bin mittendrin, in einer anderen Welt. In der Welt der Freiheit und des Abenteuers. In meinem Kopf läuft immer und immer wieder dieser Film. Mein ganz persönlicher Film. Er heißt: „Bianka und ich sind vier Monate in Südamerika.“

Die Erinnerungen scheinen noch lange nicht zu verblassen, alles, was wir erlebt und gesehen haben, ist ständig präsent, ich fühle mich wie in einer Endlosschleife. Plötzlich fange ich an zu schluchzen, als die Bilder von dem heftigen Sturz auf der einsamen Lehmpiste auftauchen. Ich heule Rotz und Wasser. Das ist in Argentinien passiert, es war schon kurz vor Sonnenuntergang und immer noch herrschten satte 36 Grad. An diesem Tag waren wir schon 550 Kilometer gefahren. Ich war etwas unkonzentriert in einer Linkskurve. 50 Meter weiter lag unser Motorrad auf der Seite – ich daneben, Bianka mit einem Bein darunter.

Auf der Leinwand tauchen schon die nächsten Bilder auf. Wir sind in Iguazu, an den breitesten Wasserfällen der Erde. Die Ereignisse auf unserer Reise überschlagen sich im wahrsten Sinne des Wortes.Es geht von einem Extrem ins nächste.

Wenn ich daran denke, wie alles angefangen hat …

Ferne und Sehnsucht


Vor ungefähr zwei Jahren, in einer warmen Sommernacht, saßen wir auf unserer Terrasse und kamen ins Philosophieren … wie es wohl wäre, wenn man mal eine lange Reise macht. Ob wir uns trauen würden, einfach loszufahren und alles für eine bestimmte Zeit mal hinter uns zu lassen. Wo es hingehen würde, welches Reisefahrzeug das Richtige wäre. Wir wogen die Vor- und Nachteile von Auto und Motorrad ab. Da wir beide Motorradfahrer sind, sah ich uns auf Zweirädern. Ich favorisierte für Bianka eine BMW F 650 GS und für mich eine BMW R 1200 GS Adventure. Wir fantasierten, wie es wäre, für ein ganzes Jahr von Alaska über die Panamericana nach Feuerland zu fahren. Es würde durch 17 Länder, vom ewigen Eis über das Hochland der Anden an aktiven Vulkanen vorbei bis an das Ende der Welt gehen. Die längste Straße der Welt übte auf mich schon seit etlichen Jahren eine magische Wirkung aus und nicht nur auf mich - sie zieht Abenteuersuchende vom gesamten Globus an. Aber warum? Ist die Route so faszinierend, so anders? Macht das Reisen südlich hinter Panama wirklich so viel Spaß und sind die Leute in Lateinamerika so nett, wie es ihnen nachgesagt wird? All das fragten wir uns beide, dann schwiegen wir uns minutenlang an. Ich verspürte ein Kribbeln in den Fingern. Auf der Terrasse roch es plötzlich nach Ferne und Sehnsucht. In meiner Vorstellung fühlte es sich toll an: etliche tausend Kilometer, fremde Welten, Zeit ohne Ende. Mir schoss auf der Stelle das Reisefieber ins Blut.

Bianka durchbrach die Stille, stand auf, legte ein Holzscheit in unserem Lagerfeuer nach, welches schon ziemlich runtergebrannt war. Es loderte sofort wieder auf, die Flammen tanzten vor Freude und warfen Funken in die Luft.

In den nächsten Wochen schaukelten wir uns gegenseitig hoch und sprachen bald täglich darüber. Ich hatte nur noch Nord- und Südamerika im Kopf. Die Frage war: Fahren wir schon demnächst oder brechen wir lieber erst als Rentner auf?

Mein Bruder und meine Schwägerin hatten ebenfalls große Pläne gehabt. Sie hatten mit ihrem Motorboot kurz nach dem Erreichen der Rente um die Welt schippern wollen. „Mehr als zehn Jahre Vorbereitung sollten reichen“, hatten sie gesagt. Es war schön, den beiden zuzuhören und ihre Vorfreude zu sehen. Doch leider hat das Schicksal nicht mitgemacht. Meine Schwägerin ist völlig unerwartet, über Nacht, verstorben. Alle Träume im Handumdrehen zerplatzt. Das hatte ich immer im Hinterkopf. Ich wollte meinen Traum leben, solange es möglich ist.

Nach einigen Wochen beschlossen wir, Bianka und ich, dass in etwa zwei Jahren für ein Jahr frei gemacht wird und die längste Straße der Welt bereist werden soll.

Aufgrund der Strecke von zirka 30.000 Kilometer und der Dauer kam dann für Bianka nur ein Auto in Frage. Ein Jahr mit den Motorrädern bei Wind und Wetter, Nord- und Südamerika, da zeigte mir meine Frau einen Vogel. Nachdem diese Entscheidung gefallen war, präzisierten wir die Anforderungen, die ein Auto erfüllen sollte. Es musste wendig, geländetauglich, robust und klein sein, aber trotzdem groß genug, um darin schlafen zu können. Die Wahl fiel auf einen Land Rover Defender. Aus unserer anfänglichen Fantasie wurde Ernst.

Bianka arbeitete als Bilanzbuchhalterin in einer alteingesessenen, international agierenden Hamburger Firma. Sie kannte die Zahlen und vermutete daher, dass die Firma in spätestens zwei Jahren Mitarbeiter, unter anderem Bianka selbst, kündigen müsste. Wir nahmen es als gegeben und planten, ab dann für ein Jahr unterwegs zu sein. Losgehen sollte es im September in Alaska und bis der Winter einbricht, wollten wir in Äquatornähe gelangen. Auf der Südhalbkugel wäre dann Frühling. So wollten wir dem Winter für ein Jahr entfliehen.

Der Wagen und ein passendes Dachzelt waren schnell gekauft. Damit reisten wir in die Provence, um abzuchecken, ob uns der Komfort genügte. Das Fahren mit diesem Auto ist einzigartig.

Wie es dann im Leben so ist, kommt alles anders. Bereits kurz nach unserem Provence-Urlaub verlor Bianka ihren Job, also ein Jahr früher als geplant. Ihre vorzeitige Entlassung haute sie um. Zukunfts- und Verlustängste machten sich in ihr breit. Ich schlug vor, dass wir die Reise früher machen. Nun da sie ohne Job war, war der Zeitpunkt doch ganz gut. Davon wollte meine Frau nichts mehr wissen. Sie studierte stattdessen Stellenanzeigen. „Ich bewerbe mich lieber, ich brauche Sicherheit und ich möchte nicht wegen eines verrückten Abenteuers alles verlieren“, sagte sie. Unsere Vorbereitungen fand sie unzureichend, wies mich darauf hin, dass wir noch kein Spanisch konnten, und nicht genug Geld für eine einjährige Auszeit vorhanden wäre. Die laufenden Kosten zu Hause sowie die Reisekosten selbst mussten natürlich irgendwie bezahlt werden. „Wir werden, während wir unterwegs sind, kein Geld verdienen. Der Defender ist auch noch nicht wüstentauglich, hast du letzte Woche zu mir gesagt. Außerdem müssen noch etliche Sachen gekauft und erledigt werden, bevor es losgehen kann“, meinte Bianka.

 

Ich dachte: Sie hat einfach nur Schiss und will kneifen.

Meiner Meinung nach kann man nach einer Auszeit mit einem klaren Kopf neue Gedanken fassen. „Ob es nun vernünftig ist oder nicht, weiß man sowieso erst hinterher!“, erwiderte ich.

Auch ich machte mir Sorgen um meinen Job. Aber die Reise und das Abenteuer rückten in den Vordergrund. Ich redete mir und Bianka die Sache gut: „Für mich, als Sachverständigen und Kranmonteur, der die letzten Jahre die Auftragsbücher voll hatte, wird im Anschluss schon irgendwie was gehen.“ Ich wollte einfach nur los. Ein wenig Mut und man entflieht dem immer schneller werdenden Hamsterrad, in dem wir uns ja alle befinden. In diesem Moment fiel mir ein Zitat ein, es hängt über Biankas Kalender im Büro und lautet: „Am Ende gilt doch nur, was wir getan und gelebt haben – und nicht, was wir ersehnt haben.“ Auch diese Worte fanden bei Bianka kein Gehör mehr, ich konnte sie nicht umstimmen. Wir stritten uns heftig. Ich wollte verreisen, sie nicht.

Es gab viele Gespräche, harte Diskussionen. Zwischen uns brodelte es in den folgenden Tagen und Wochen, das Fass unserer Ehe drohte manchmal zu explodieren.

„Wenn nicht jetzt, wann dann?“, setzte ich Bianka ein wenig unter Druck. Nach einigen Wochen einigten wir uns: Die Reise würde in drei Monaten losgehen - falls sich Biankas Zweifel nicht ausräumen lassen, bleibt sie zu Hause oder sie fliegt nach kurzer Zeit wieder zurück und ich darf ihr nicht böse sein. Sie hielt sich diese Hintertür offen.

Um unser Konto zu schonen, planten wir nicht mehr ein ganzes Jahr zu reisen, sondern die Reisezeit stark zu verkürzen. Auch den Defender zu verschiffen, wäre nicht günstig, daher sprachen wir wieder über das richtige Reisefahrzeug. Meine Favoriten, die Motorräder, kamen erneut ins Spiel.

Nun peilte ich Südamerika hauptsächlich wegen der hohen Andenpässe und der Schotterpisten in der Atacamawüste an. Er ist für mich der absolute Kontinent der Superlative. Bianka war sich nicht sicher, ob sie sich das mit ihrem Motorrad zutraut - falls sie überhaupt mitkäme. Demokratisch beschlossen wir, dass wir mit nur einem Motorrad für dreieinhalb Monate in Südamerika unterwegs sein würden.

Mein Traum „Südamerika mit Motorrad“ sollte wahr werden. Das war der Wahnsinn, ich konnte mein Glück kaum fassen.


Endspurt


Auch wenn die Reisezeit etwas begrenzter ist als ursprünglich geplant, schwebe ich auf Wolke sieben. Ich bin voller Erwartungen und Vorfreude. Was werden wir alles erleben? Geht alles gut? Werden Mensch und Maschine alles überstehen?

Sobald meine Gedanken um die Andenländer kreisen, lösen sie in mir ein bis dahin noch nicht gekanntes Gefühl aus. Ich werde es während der Vorbereitung und auf der Reise noch oft zu spüren bekommen.

Nun geht alles holterdiepolter. Am 29. September soll es losgehen! In den verbleibenden sechs Wochen bis zur Abreise steht noch viel auf dem Programm: Spanisch lernen, Impfungen, zum Tropeninstitut, Flüge buchen, Versicherungen, Motorradkiste bauen, Motorradverschiffung organisieren und so weiter. Der Defender war in meinen Gedanken schon ausgebaut gewesen, aber das Motorrad, das an seine Stelle getreten ist, ist noch so gut wie nackt. Auf nur einem Bike bekomme ich nur ein Bruchteil von dem mit, was ich alles gern dabeihätte. Die Gepäckfrage muss komplett neu überdacht werden. Wie auf Knopfdruck brodelt es in meinem Gehirn und in meinem Geiste fange ich an, das Motorrad zu beladen. Die schweren Sachen nach unten, die leichten sowie die, die man oft braucht, nach oben. Wo lasse ich das Werkzeug, den Kocher, die Töpfe, Teller und Tassen, Campingtisch, Campinghocker, Wechselwäsche, Freizeitschuhe, Badelatschen? Die Schlafsäcke, das Zelt und die Luftmatratze müssen auf alle Fälle mit. Ersatzbenzin, Trinkwasser, Reiseapotheke, Verbandskasten sind ebenfalls ein Muss.

Das bekommen wir nie alles mit, denke ich. Bei dem Berg an Gepäck erscheint es mir vernünftiger, die Reise mit einem LKW anzutreten. Erst recht, als mir später noch mehr einfällt, alles, was ich alles auf die Schnelle vergessen hatte: Fotoausrüstung, Telefon, Ladegeräte, Taschenlampen, es fehlen noch etliche Dinge … Aber wir müssen uns auf das Notwendigste beschränken. Um ein Probepacken kommen wir nicht herum. Es muss zusätzlicher Stauraum geschaffen und jede Möglichkeit genutzt werden, wo man noch was Anbammeln könnte. Unter den Seitenkoffern wäre Platz, die Bodenfreiheit würde dadurch jedoch leiden.

Ich bin hin- und hergerissen, die Zeit drängt, eine Entscheidung muss her. Erst als ich mich zwinge, bei meinen Überlegungen ein wenig Tempo rauszunehmen, kommen auf einmal die Ideen, wo man was verstauen kann. Ein Hunderter-Abflussrohr befestige ich auf der linken Seite zwischen dem Heckträger und der Box. An den Stirnseiten der Aluboxen montiere ich spezielle Halter. Unter dem Gepäckträger, am Rahmen, an den Sturzbügeln, am Lenker überall kann man etwas festtüddeln. Ich weiß zwar noch nicht genau, was, habe aber mittlerweile gewisse Vorstellungen.

Bianka verlässt sich bei der Planung voll und ganz auf mich und gibt mir Handlungsspielraum. Eine grobe Reiseroute ergibt sich durch die Highlights, die ich sehen will. Ich studiere die Landkarten und Google Maps und ziehe auch verschiedene Verschiffungsvarianten und Flughäfen in Betracht. Das neue Gefühl ist wieder da, mein Kopf kribbelt, und bei einigen Orten, die ich mir auf der Karte ansehe, kribbelt mein ganzer Körper.

Die Tour wird etwa 10.000 Kilometer lang werden. Ich möchte von Chile über Peru und Bolivien nach Argentinien. Das Motorrad wird von Hamburg nach Südamerika verschifft, zurück soll es mit uns per Flugzeug ab Buenos Aires transportiert werden. Das ist so weit der Plan.

Am 19. August soll das Motorrad zur Verschiffung abgeholt werden und bis dahin muss die Transportkiste fertig sein. Bianka ist mental immer noch nicht bereit. Ihr geht alles zu schnell. Bei der Vorbereitung klinkt sie sich, so gut sie kann, aus. Ich kümmere mich um das Holz und die Kleinteile der Motorradkiste, die auch noch gebaut werden muss. Die Termine für Impfungen beim Tropeninstitut und beim Hausarzt muss ebenfalls ich vereinbaren. Den internationalen Führerschein habe ich beantragt. Das alles ist nicht einfach und natürlich muss ich auch noch arbeiten. Ich krieche sozusagen auf dem Zahnfleisch.

Die letzten Wochen überrennen uns. Sogar unser geliebter Sport bleibt auf der Strecke. Bianka beteiligt sich nun auch mit den Vorbereitungen, meint aber: „Wenn ich überhaupt mitkomme, muss eine Spezialpolsterung für die Sitzbank her.“ Die bekommt sie natürlich. Ein paar Recherchen im Netz und die Bestellung ist abgeschickt.

Heute, wir schreiben bereits Mitte August, wollen wir unsere erste Probefahrt samt Gepäck machen. Die BMW steht auf unserem Garagenplatz und ist kaum zu sehen. Sie hat sich hinter einem Berg versteckt, einem Haufen Gelumpe, den wir mitnehmen wollen.

Logisch, es sind noch weitere Sachen hinzugekommen, Bianka braucht unbedingt ihre Wanderschuhe und natürlich Pumps. Ich versuche, ihr noch einmal klar zu machen, dass es sich hier um einen Motorradurlaub handelt. Immerhin die Pumps kann ich ihr ohne weiteren Widerstand ausreden.

Als ich anfange, zu packen, sehe ich seltsame Dinge, die nicht von mir stammen: Tütensuppen, Fertiggerichte, Spagetti, eine große Packung Trockenmilch, Kaffee, Pumpernickel und mehrere Konserven. Meine Frau steht neben mir und zeigt auf die Lebensmittel, während mein Gehör die Worte „das muss mit“ vernimmt. Da kommt mir wieder der LKW in den Sinn. Mein Blick springt zwischen meiner Frau und dem Sachen-Berg hin und her. Wenn man aber ein wenig kreativ ist und herumexperimentiert, findet man immer noch Stellen, an denen man was verstecken und befestigen kann. Auf den Seitenkoffern befinden sich zwei große Gummirollen. Die Gummitasche von meinem Fahrradanhänger habe ich zweckentfremdet. Nachdem sie vollgedonnert ist und zu platzen droht, hieve ich sie auf den Gepäckträger. Da ich für den Schweizer Wassersack keinen passenden Platz finde, kommt die Gummitasche wieder runter, Wassersack rauf, Gummitasche darüber. Unter dem Träger befestige ich mit Kabelbinder ein zehn Meter langes 230-Volt-Verlängerungskabel. Den krönenden Abschluss am Heck bildet der Campingtisch. Meine Hochstapelei katapultiert den Schwerpunkt der BMW weit nach hinten. Ich kann mir schon gut vorstellen, was passiert, wenn ich nachher den Gashahn aufdrehe.

Wir brauchen mehr Druck auf dem Vorderrad, aber die schweren Sachen sind schon befestigt. Krampfhaft überlegen Bianka und ich. Alles, was irgendwie Gewicht auf die Waage bringt, muss nach vorne. Hammer, Werkzeuge, Batterien und Akkus, Taschenlampen, Luftpumpe, Fertiggerichte kommen in die Seitentaschen, die sich an den Sturzbügeln befinden. Die Campinghocker haben ihren Platz am Rahmen gefunden. Geht nicht, gibt's nicht, sage ich mir, für jedes Equipment findest du die richtige Stelle. Nach vier Stunden und mehreren Beladeversuchen ist unser Moped zwar genauso wenig zu sehen wie vorher, aber die gute Nachricht ist: Der Garagenplatz ist leer. Alles Gelumpe, das vorhin noch auf dem Boden lag, ist irgendwie am Bike verrödelt, irgendwo reingestopft oder wieder im Haus verschwunden.

Wir trinken erst noch einen Kaffee, ziehen uns die Schutzbekleidung an und als wir um die Ecke zur Garage gehen, fängt es kräftig an zu regnen. Ich sehe das völlig überladene Ding und denke mir: Mit so einem Eisenschwein willst du durch die trockenste Wüste der Welt fahren? Ich kann froh sein, wenn wir uns nicht gleich in der ersten Kurve auf die Fresse packen.

Entschlossen bocke ich sie ab und sie geht in die Knie. Ich muss zugeben, dass ich mit so einem schweren Motorrad noch nie zu tun hatte. Selbst die 1800 Goldwing, die ich mir einmal für einen Wochenendtrip geliehen hatte, kommt mir nun leicht vor im Vergleich zu dem hier.

Wir satteln auf, und ich probiere ein kurzes Anfahren, Bremsen, Gas geben, Hochschalten und einen leichten Slalom. Unglaublich … es kann doch nicht sein, dass sich das voll beladene Ding so gut händeln lässt? Nach einer kleinen Runde durch die Harburger Berge auf nasser Straße und auf nicht eingefahrenen Reifen kommen wir wieder staunend zu Hause an. Ihr neuer Name „dicke Berta“ passt optimal.

Die Berta wird nun wieder schlank gemacht und kommt in die bereits gebaute Transportkiste. Bevor ich den Deckel verschraube, muss ich das Bike und andere Reiseutensilien gut verspannen. Nun steht alles abholbereit in der Garage.

Ein Spediteur bringt die BMW in den Hamburger Hafen und drei Tage später ist sie per Schiff auf dem Weg nach Valparaiso. In der Hafenstadt am Pazifik zirka 130 Kilometer von Santiago de Chile entfernt, soll unser Abenteuer starten.


Erste Eindrücke Santiago und Valparaiso

Am Anfang stand die Idee und nun geht‘s nach Südamerika.

… das Abenteuer beginnt! Wir sitzen im Flugzeug – beide. Obwohl selbst einen Tag vorher nicht hundertprozentig feststand, ob Bianka mitkommen würde. Sie hatte die Hosen gestrichen voll, ihre Nerven lagen blank. Ich wollte die Reise natürlich nicht allein machen und hatte dafür in den letzten Wochen einiges ausgehalten. Am Abend vor dem Abflug hatte ich noch ein paar beruhigende und motivierende Worte eingelegt, bevor ich wie ein Stein in der Matratze versunken war und den Schlaf der Gerechten geschlafen hatte. Dank unserer Freunde und Verwandten haben wir bis zur Abreise alles geschafft und nun wird zum dritten Mal innerhalb von 24 Stunden der Sinkflug eingeleitet. Das Flugzeug setzt weich zur Landung auf. Das Umsteigen zuvor in London und Madrid hat einige Zeit gekostet, doch als Gegenzug die Reisekasse geschont.

 

Das Auschecken und die Einreise gehen zügig. Chile begrüßt uns mit Sonnenschein bei frühlingshaften Temperaturen. Der erste Eindruck, den mir Santiago schenkt, übertrifft meine Erwartungen bei weitem, ohne dass ich genau wüsste, welche das wären. Ein Taxi bringt uns in das moderne Bankenviertel von Santiago. Wir marschieren mit unseren drei großen Koffern in ein Hochhaus. Dort ist der Kooperationspartner der Hamburger Firma, die für uns den Motorradtransport übernommen hat, ansässig. Hier sollen die Begleitpapiere für den Zoll bereitliegen. Der Fahrstuhl ist mit uns und unseren Gepäckstücken drin brechend voll. Oben in den Büroräumen herrscht buntes Treiben. Die Räume sind hier viel kleiner als in deutschen Bürogebäuden und es wimmelt nur so von Angestellten. Bürotür an Bürotür, sie gehen ständig auf und zu, Leute rein, Leute raus. Der Vorraum ist voll, egal, wo wir und die Koffer stehen - auf jeden Fall sind wir immer im Weg. Mal schlägt eine Tür gegen uns oder gegen unser Gepäck, dann geht eine andere wieder nicht zu, da sich gerade ein Koffer in ihrem Drehradius befindet. Kurzerhand verschwindet Bianka in einem Büro und kümmert sich um die Papiere. Mich lässt sie allein. Jetzt bin ich kräftig am Räumen und Schieben, das schwere Gepäck soll ja niemanden stören. An der gegenüberliegenden Wand neben dem Fenster sehe ich in der Ecke etwas Platz und denke mir: Norbert da musst du hin. Also pirsche ich mich in gebückter Haltung mit dem Gelumpe an den Leuten vorbei zur anderen Seite. Als die Koffer in der Ecke übereinander gestapelt sind, drängelt sich ein Lieferant mit einer beladenen Sackkarre durch. Er ist sehr freundlich zu mir, als er erklärt, die Ladung sei ein Kühlschrank und müsse hierhin. Bianka betritt wieder den Vorraum und fängt an zu lachen, als sie mich mit den drei Koffern in Aktion sieht. Nach zwei Stunden geht die Fahrt wieder mit einem Taxi und den benötigten Papieren in der Tasche zum nächsten Hochhaus, einem Apartmenthaus. Es soll unsere erste Unterkunft sein, die wir noch von zu Hause aus gebucht haben.

An der Rezeption stehen drei Männer, ein Langer, ein Dicker und ein Kleiner. Sie können, so lange sie auch suchen, unsere Buchung nicht finden. Na toll, da stehen wir nun, total übermüdet, und haben kein Bett. Der lange Mann greift zum Telefon, der Dicke zeigt uns einen Platz, wo wir uns hinsetzen können und brabbelt „un momento“. Bianka schläft im selben Augenblick ein. Mir gehen die Worte unserer peruanischen Spanischlehrerin durch den Kopf. Sie sagte vor unserer Abreise in Hamburg: „Südamerika ist saugefährlich, ihr nehmt besser eine Pistole mit“. Mein erstes Empfinden ist zwar ein ganz anderes, ich halte aber Augen und Ohren offen. Wer will schon am ersten Tag auf einen fremden Kontinent bestohlen werden?

Eine Stunde später steht eine junge Frau vor uns. Sie ist die Vermieterin. Sie hat unsere Onlinebuchung nicht erhalten, aber glücklicherweise noch zwei weitere Apartments im Haus und eines wäre frei. Sie ist Bolivianerin, stellt sich im Gespräch heraus. Als sie erfährt, dass auch wir nach Bolivien wollen, macht sie uns einen guten Preis: 89 US-Dollar die Nacht, selbstverständlich ohne Quittung, bezahlen müssen wir für drei Nächte im Voraus.

Für die nächsten Tage steht die Hauptstadt von Chile auf der Agenda. Santiago gefällt uns auf Anhieb. Egal, wo man hinschaut, alles neue positive Eindrücke. Uns fallen viele freundliche Menschen auf und das in einer Sechs-Millionen-Metropole. Wir sehen etliche freilaufende, herrenlose, große Hunde, die meisten wirken gesund und zufrieden. Leinenzwang ist hier ein Fremdwort. Die Hunde beobachten an den Ampeln die Menschen und wenn es grün wird, überqueren sie gemeinsam mit ihnen die Straße.

Santiago ist relativ sauber, gepflegt und super modern. Die Häuser sind riesig. Im Talkessel der Anden steht Hochhaus an Hochhaus.

Dahinter ragen gewaltige, schneebedeckte Berge empor. Das Panorama sieht fantastisch aus und bei Sonnenuntergang unterstreicht die Weltstadt ihre Schönheit.


Was uns früher in manch anderen fremden Ländern passierte, sollte auch hier geschehen. Wer kennt es nicht, an den ersten Tagen im Urlaub abgezogen zu werden? Wir holten von der chilenischen Staatsbank Geld. Mit dem Umrechnungskurs kommen wir noch nicht klar, rechnen mit den Zehn- und Hunderttausendern hin und her. Da läuft uns Alfredo Schmidt über den Weg. Er spricht gut Deutsch, auf seinem Cappy steht „Hamburg“. Seine Eltern kämen aus Deutschland und er nennt sich „ein Touristenführer“. Er zählt uns alle möglichen Sehenswürdigkeiten auf und was wir sonst noch unbedingt sehen müssten. Wir bekommen von Alfredo einen abgegriffenen Stadtplan in die Hand gedrückt, dann will er von uns eine Spende für Waisenkinder. Höflich, wie ich bin, ziehe ich ein paar Scheine aus der Tasche, habe aber keine Ahnung, wie viel Geld es umgerechnet ist. Da kommen mir Alfredos Finger zur Hilfe und ziehen ganz vorsichtig einen 20.000-Peso-Schein aus meiner Hand. Ich noch am Rechnen und etwas verwirrt, wie viel Geld mir gerade abgenommen wurde, gucke fragend zu Bianka herüber. Schon bekomme ich weitere Unterstützung und werde auf dieselbe Art und Weise einen weiteren 20.000-er los. Alfredo verabschiedet und bedankt sich mit Handschlag recht herzlich.

An der nächsten Bank sehe ich mir noch einmal die Wechselkurse an und stelle fest, dass unsere Reisekasse um zirka 60 Euronen geschröpft wurde. Als Gegenleistung haben wir immerhin einen Stadtplan bekommen sowie eine Spende getätigt. Selbst ernannte Touristenführer müssen sehen, wie sie über die Runden kommen, und wollen auch mal ein Stück Fleisch zum Abendbrot essen. Wir sind der Sache nicht einmal böse, ganz im Gegenteil, es ist sogar lustig, mit wie viel Fingerspitzengefühl Alfredo arbeitet und wie leichtgläubig wir waren. Dass wir noch leichtgläubiger waren als vermutet, stellt sich am Abend im Apartment heraus. Um zu sehen, wo sich weitere Sehenswürdigkeiten befinden, holen wir den Stadtplan heraus. Auf dem Deckblatt prangt ein großer Schriftzug: „Free Map“. Alfredo hat es drauf. Wir lachen, und beschließen, wachsamer sein, um uns nicht noch einmal abzocken zu lassen.

Diese ersten Tage in Südamerika werden wir dennoch in schöner Erinnerung behalten.

Mit etwa 120 Kilometer pro Stunde rollt der moderne Doppelstockbus mit uns über die Autobahn 68 in Richtung Valparaiso und wir genießen den Fensterplatz. Kurz hinter der Hauptstadt befinden sich links und rechts neben der Strecke zwölf Fußballplätze. Das rote Kästchen am Kalender steht heute auf Sonntag. Auf allen Plätzen wird gespielt und die Spieler werden von den Zuschauern kräftig angefeuert. Die Begeisterung für Fußball wird in Südamerika bekanntlicherweise großgeschrieben.

Auch etliche Rennradfahrer kommen auf ihre Kosten, sie geben auf dem ebenen Belag der 68 eine hohe Trittfrequenz vor. Die Temperaturen sind angenehm und lassen mich etwas neidisch den Rennradsportlern hinterhergucken. Meine Leidenschaft galt in den letzten Jahren dem Rad- und Triathlon-Sport. Die meisten Kilometer habe ich auf Rädern, schwimmend oder zu Fuß ohne Motorkraft zurückgelegt. Doch hier, auf solchen Straßen, bei wenig Verkehr, wird mir das Motorradfahren wieder Spaß machen.

Ich bin aufgeregt wie ein kleiner Junge, der es kaum erwarten kann, sein erstes ferngesteuertes Auto auszupacken. Auf dem Grünstreifen und beidseitig neben der Fahrbahn blüht es in den verschiedensten Farben. Losgeflogen sind wir im Herbst und rollen jetzt dem Pazifik und dem Frühling entgegen.

Eineinhalb Stunden später kommen wir an. Der Mann, den ich nach einem Taxi frage, schnappt sich wortlos Biankas Koffer. Mit dem Ding auf der Schulter geht der kräftige Mann quer über den Busbahnhof und wir trappeln hinterher. Er legt ihn in den Kofferraum des ersten Taxis und sagt: „Adiós.“

Unglaublich, so schnell, wie er für uns da war, ist er auch wieder weg.

Das Hostel für die nächsten drei Tage, das wir bereits per Internet gebucht haben, liegt im oberen Bereich der Stadt. Der Ausblick von der Terrasse über Valparaiso und den Pazifik ist einzigartig. Über eine kleine Bucht sieht man den nächsten Ort Vina del Mar.

Die Hafenstadt selbst ist flippig, die Häuser sind quietschebunt. Überall, wo man hinschaut, sind Graffiti zu sehen. Künstler haben Valparaiso seinen Charme verliehen, die Stadt wurde von UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt und wird als kulturelle Hauptstadt von Chile gehandelt.

Unser Hostel ist zwar klein, dafür umso familiärer. Wir lernen ein nettes Paar in unserem Alter aus Bochum kennen. Abends quatschen wir gemeinsam im Aufenthaltsraum und genießen den schönen Blick über die Bucht. Sie verbringen hier ihren Jahresurlaub. Jedes Jahr bereisen sie mit einem Leihwagen ein Land ihrer Wahl. In Chile gefällt es ihnen wegen der abwechslungsreichen Landschaft und den vielen Nationalparks besonders. Die beiden sind angetan von unserem Vorhaben und wollen uns auf der Reise im Blog begleiten.

Am nächsten Morgen begehe ich einen Fehler, der zwei weitere Male nachschmecken soll. Zum Frühstück gibt es Kaffee, Brötchen, Marmelade, Butter und queso de cabra (Ziegenkäse). Die Hausherrin fragt, ob alles in Ordnung sei und wie der Käse schmecke. Bianka schüttelt den Kopf, ich aber würge ihn mit viel Marmelade runter. Gut erzogen, wie ich bin, sage ich lächelnd: „Er schmeckt lecker.“ Die Frühstücksfee stimmt mir lächelnd zu und hebt ihren rechten Daumen.

In der zweiten Nacht bin ich ein wenig unruhig und aufgeregt, denn heute holen wir das Motorrad ab. Wir machen uns fertig und gehen zum Frühstück. Überraschung, dort steht auf meinem Platz ein großer Teller mit einer doppelten Portion Ziegenkäse. Na super! Charmant wie ich bin, kriege ich diesen auch irgendwie runter und wenn es mit Biankas Marmelade ist. Ich freue mich schon auf morgen.

Die Zimmertür fällt ins Schloss und wir gehen mit Helmen, Motorradjacken und Tankrucksack los. Eine abschüssige, schmale Straße aus Kopfsteinpflaster führt uns zum Zoll am Hafen. Neben den schmalen Gehwegen sind einfache und schäbige Häuser zu sehen. Sie sind aus Brettern und Holzplatten zusammengenagelt und bunt bemalt.