Der Flug der Wildgänse

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Der Flug der Wildgänse
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Der Flug der Wildgänse

1  Der Flug der Wildgänse

2  Alles Chemie

3  Heimatlos

4  Die dunkle Stunde

5  Impressum

Der Flug der Wildgänse

Wildgänse leben in großen Kolonien und zeigen eine außerordentliche Partnertreue. Gemeinsam wechseln sie im Langstreckenflug im Verlauf des Jahres zwischen Brut- und Überwinterungsrevier.

Wenn sie sich auf dem Zug befinden, bilden sie in ihrem Gemeinschaftsflug ein charakteristisches V am Himmel, das sich stetig verändert, weil einzelne Gänse ihre Plätze innerhalb der Formation immer wieder wechseln.

Ein dynamischer Strom, in dessen Fluss nichts beständig und jedes Atom mit allen anderen verbunden ist, um zu einem einzigen großen Schicksal zu verschmelzen.

Alles Chemie

Ich bin nackt. Das ist das Erste, was ich bemerke. Obwohl diese Tatsache mich verwundert – schließlich schlafe ich niemals nackt – denke ich zunächst nicht weiter darüber nach.

Eine dünne Daunendecke liegt auf meinem Körper. Der Bezug ist glatt und weich. Wenn ich mich bewege, weichen die von meiner Haut angewärmten Stoffstellen, kühlen neuen Stoffecken, die sich mit mir anfreunden. Das gefällt mir.

Ich halte meine Augen geschlossen, sauge die trockene Luft ein, die mich umgibt und erinnere mich an den Traum, den ich vor dem Aufwachen träumte: Ich lief einen Berg hinauf, einen geteerten Weg, mitten in der Stadt. Oben auf der Anhöhe verlief eine Allee, starke Eichen reihten sich aneinander. Die Baumkronen standen voll im Grün, das von Laternenlicht beleuchtet war. Es war Sommer. Ein Mann in einem schwarzen Anzug kam mir entgegen - ich kann mich an sein Gesicht nicht erinnern. Ich lachte. Er sah glücklich aus.

Er steuerte direkt auf mich zu und umarmte mich. Lang. Eine Ewigkeit. Zuerst konnte ich mich nicht bewegen. Dann wollte ich mich nicht bewegen. Er hielt mich fest und ein Gefühl von Frieden breitete sich in mir aus. Ich wollte nun für immer so stehen. Meine Beine wurden nicht schwer. Er stütze mich, und wir schwebten fast über dem Erdboden. Ich wollte nur noch diese Umarmung.

Doch dann bin ich aufgewacht. Ich weiß, dass bald die Erinnerung an dieses Gefühl schwinden wird. Ich lächele und beschließe, freiwillig die Augen zu öffnen. Meine Lider sind schwer. Die Haut um meine Wimpern spannt. Erst jetzt bemerkt ich, wie meine Augen brennen.

Ich erschrecke. Nicht wegen dem Brennen, sondern weil ich unerwartet in zwei dunkelbraune Augen blicke, die mich direkt anschauen.

Ich weiche zurück und falle fast aus dem Bett. Zwei Hände ergreifen die meinen, um mich oben zu halten.

Er lässt mich sofort wieder los, als keine Gefahr mehr besteht zu fallen. Jetzt denke ich wieder daran, dass ich nackt bin. Und, dass eine Daunendecke auf mir liegt, obwohl ich nie eine besessen habe.

„Wieso bin ich nackt?“ frage ich den Mann, der mir gegenüber sitzt.

„Ich musste dir dein Kleid ausziehen, es war durch und durch nass. Du hättest dich vielleicht erkältet.“ Er lächelt. Ich glaube ihm.

„Wieso war mein Kleid nass?“

„Deine ganzen Tränen, es war nass geweint. Wir könnten heute sicher ein halbes Kilo Salz daraus gewinnen. Es liegt dort hinten über der Stuhllehne.“ Er zeigt auf einen Holzstuhl, der neben einem kleinen Tisch steht. Mein Kleid hängt bis knapp über dem Boden. Ich stelle mir einen kleinen Haufen von Salz vor, der sich neben dem Stuhlbein gebildet hat.

„Wieso habe ich geweint?“ Ich kann mich nicht erinnern.

Er fängt an zu erzählen.

„Ich fuhr in der Straßenbahn. Ich war auf dem Weg nach Hause, es war zwei Uhr nachts ungefähr. Ich kam von einer Hochzeit, eine Cousine zweiten Grades. Das Fest war langatmig, ich hatte zwar ein paar Verwandte getroffen, die ich seit der Beerdigung meiner Mutter nicht mehr gesehen hatte, aber irgendwann wurde mir langweilig. Ich beschloss, nach Hause zu laufen. Die Nacht war angenehm. Ich nahm mir vor, die Stadt bis zu meiner Wohnung zu Fuß zu durchqueren, aber irgendwann merkte ich, dass ich mir eine Blase gelaufen hatte. Meine neuen Schuhe, extra für die Hochzeit, der Anzug ist auch neu.“

Er zeigt auf seine Hose. Erst jetzt wird mir klar, dass ich die einzige bin, die nichts an hat. Er trägt neben der schwarzen Hose, die sich fließend an seine Beine anschmiegt, ein schrecklich zerknittertes rotes Hemd. Auf dem roten Stoff zeichnen sich unregelmäßig verteilt, lauter weiße Kreise ab. Ich erkenne sie sofort als Salzkreise. Ich sehe ihm in die Augen und nicke mit dem Kopf, um zu signalisieren, dass ich verstehe. Er fährt fort.

„Mein rechter Fuß schmerzte also schon bei jedem Schritt. Ich beschloss in die Straßenbahn zu springen. Es waren noch acht Stationen. Ich freute mich auf mein Bett und darauf, endlich den Schuh auszuziehen. Die Bahn war voll. Samstag Nacht. Die Leute waren ungewöhnlich unruhig. In der Hoffnung doch einen Sitzplatz zu bekommen und nicht stehen zu müssen, durchstreifte ich die Bahn und gelangte irgendwann an den Platz, an dem du gestanden hast. Die Menschen hatten sich in einigem Abstand zu dir platziert. Manche schauten angewidert, dann welche mitleidig, jemand reichte dir eine Packung Taschentücher. Ich sah nur deinen Rücken. Du musstest dir unentwegt die Nase putzen, und ich denke alle waren überzeugt, dass du eine schwer ansteckende Infektion in dir trugst. Dein Gesicht war Richtung Fenster gerichtet. Der Boden unter dir war nass. Sicherlich dachten alle, dass du, ach, du weißt schon. Ich sah, dass die Sitze neben deinem Stehplatz frei geblieben waren und ergriff die Gelegenheit. Mein Fuß tat höllisch weh. Ich wollte aus dem Fenster sehen, um meinen Fuß und dich und alle zu vergessen, bis ich zu Hause ankam. Doch ich konnte nichts vom Draußen erkennen. Die Spiegeleffekte in den Straßenbahnfenstern waren zu stark. In der Fensterscheibe sah ich ein Mädchen, das sich in einem Spiegel ansah. Sie saß drei Plätze weiter vorn auf der anderen Seite und zog sich den Lippenstift nach.

Und dann sah ich in ihrem kleinen Spiegel dein Spiegelbild, das sich über zwei andere Scheiben ebenfalls dort hinein projizierte. Ich sah, dass dein Gesicht rot war und Tränen wie Bäche aus deinen Augen flossen. Ich schaute auf den Boden und konnte mir sogleich die Pfützen erklären. Du sahst trotzdem nicht traurig aus. Nur erschöpft.

Ich beschloss aufzustehen und mich so neben dich zu stellen, dass ich dein Gesicht nicht über vier Projektionen ansehen konnte, sondern direkt in der Scheibe, die uns verband. Ich hatte Recht, es waren Tränen. Keine ansteckende Krankheit. Ich muss dir dazu erklären, dass Tränen auf mich eine besondere Wirkung haben. Ich selbst, kann einfach nicht weinen. Mir ist nie danach zumute. Ich wollte also wissen, was dir passiert war, warum du so weintest. Ich war sicher, es musste etwas Schreckliches sein.

Meine Station wurde schon angesagt, aber ich musste nicht überlegen. Ich sah dich an. Deine Augen waren in meine gerichtet. Deine Tränen liefen weiter. Dein Kleid war schon zu diesem Zeitpunkt völlig durchnässt. An deinen Armen sah ich deine aufgestellten Haare. Ich zog also mein Jackett aus und legte es um dich. Die Straßenbahn hatte sich geleert. Schließlich bemerkte ich, dass wir die einzigen waren. Wir erreichten die Endstation. Als ich den Fahrer fragte, ob er uns wieder mit zurück nehmen konnte, erklärte er mir mit einem Schulterzucken, dass er das Fahrzeug gleich um die Ecke bis zum Morgen parken würde. Ich sah ihm an, dass er froh war, dass du meine Begleitung gefunden hattest, und er sich nicht weiter um dich kümmern musste. Er gestand mir, dass mehrere Passagiere sich über dich beschwert hatten. Er faselte etwas von Drogen, Alkohol und Depressionen. Ich schüttelte nur den Kopf. Wir stiegen aus. Der Fahrer schaute uns hinterher und im Augenwinkel sah ich, wie er deine Tränenpfütze sogleich aufwischte.

Die Nacht war immer noch mild. Eine Amsel sang. Ich fragte dich also endlich, was passiert sei. Du hast meinen Arm ergriffen, und dann hörte ich das erste mal deine Stimme, die zunächst ein wenig gebrochen war. Du sagtest, dass es schwierig zu erklären sei, und ich dir vielleicht nicht glauben könnte.

Am Nachmittag hattest du beschlossen, alles was dir in deinem Leben nicht gefällt zu löschen. Du hattest es satt, zu zweifeln, dich einzuschränken, dir Sorgen zu machen. Du wolltest Frieden und Freiheit. Und da du einmal gehört hattest, dass alle Gedanken chemische Prozesse sind, die wenn man sie lässt, automatisch ablaufen und wenn man sie nicht lassen will, veränderbar sind, fühltest du dich in der Lage, diesen Frieden in dir selbst zu schließen und frei zu sein.

Du erzähltest mir, dass du dich auf eine Wiese in einem Park gesetzt hast und anfingst deinem Bewusstsein zu erklären, dass du bestimmte Gedanken nicht mehr zulassen willst: Diese Gedanke hast du dann aufgezählt. Du hattest irgendwann Sorge, dass du manche Gedanken und Handlungsweisen vergessen könntest aufzuzählen, doch dann hast du einfach den Gedanken des sich Sorgen machen gelöscht, und das Problem war gelöst.

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