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Das Geheimnis der Madame Yin

Das Geheimnis
der Madame Yin

von

Nathan Winters

Historischer Kriminalroman


Für meine Frau,

für ihre Kritik,

ihre Motivation,

ihre Ideen

und natürlich für ihre Liebe

Inhalt

26. August 1877 Chicago Einen Monat später

29. August 1877 Im Hafen von New York

4. September 1877 London Kurz nach Mitternacht

7. September 1877 Die Themse Früher Morgen

Südlich von Westminster Bridge Zur Mittagsstunde

Southampton Am Nachmittag

Polizeistation der L-Division Kennington Lane

London Paddington Station Acht Uhr abends

8. September 1877 Früh am Morgen

The City of London Kurz vor Mittag

The City of London Zur selben Zeit

St. Bethlehem Royal Hospital Eine Stunde später

Hyde Park Am frühen Nachmittag

Lambeth Wenig später

Scotland Yard Am späten Nachmittag

Scotland Yard 9.September Früh am Morgen

Lord Ellingsfords Anwesen Park Lane

10. September 1877 Polizeistation der L-Division Kennington Lane

St. Mary's Hospital …

11. September Scotland Yard Kurz nach acht Uhr

East End Spitalfield

Lambeth Kennington Lane

12. September Das Haus der Ellingsfords

Der Friedhof von Kensal Green zur Mittagsstunde

Folly Lane am späten Nachmittag

Park Lane Zehn Uhr Abends

Vier Tage später …

Sie hatte geträumt, von einer Blumenwiese aus roten Rosen und weißen Margeriten. Alles war hell, das Sonnenlicht brach durch die Wipfel der Bäume und ließ die Blüten in allen Farben erstrahlen.

Aber dann wachte sie auf und alles um sie herum war tiefschwarz. Angeekelt verzog sie das Gesicht. Der Geschmack nach Alkohol lag ihr auf der Zunge. Kloakengestank drang ihr in die Nase. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten, doch es gelang ihr nicht. Man hatte sie an Händen und Füßen gefesselt und an den Boden gekettet. Sie konnte lediglich vornübergebeugt knien und gerade noch den Kopf heben. Sie erinnerte sich an das Café am Victoria Embankment. Es war Abend gewesen und sie wollte gerade eine Droschke rufen, als dieser Mann mit den Blumen kam. Er hatte ihr sofort einen feuchten Stofffetzen auf Mund und Nase gepresst und sie war ohnmächtig geworden.

Er hat mich entführt. Oh Gott. Bitte … bitte mach, dass das nicht wahr ist. Ihr Herz begann, wie verrückt zu schlagen. Ich muss hier raus.

Panisch zerrte sie an ihren Ketten. Das Metall scheuerte ihr die Haut blutig. Sie schrie und weinte, doch damit änderte sich nichts an ihrer Situation. Minuten vergingen, vielleicht waren es auch Stunden. Sie wusste es nicht. Ein furchtbarer Gedanke fraß sich in ihr fest: Sie würde sich nicht befreien können. Alles, was sie tun konnte, war zu schreien. Vielleicht würde sie jemand hören und retten. Sie begann, laut um Hilfe zu rufen, bis sich nach einer Weile links von ihr eine Tür öffnete. Sie verstummte augenblicklich und ihr Kopf ruckte herum. Ein Mann stieg die Treppenstufen hinab.

Er hielt eine Petroleumlampe in der Hand, deren Docht tief herunter gedreht war. So warf sie nur ein schwaches Licht in ihr Gefängnis aus gemauertem Stein. Der Mann bewegte sich langsam, ließ sich für jede Stufe Zeit. Das Klacken seiner Sohlen war das einzige Geräusch, das sie hörte.

Sein Gesicht verbarg er hinter einer Maske. Sie war feuerrot mit verzerrten Zügen, einer schmalen, spitzen Nase und Teufelshörnern auf der Stirn. Ein Umhang mit einer Kapuze lag über seinen Schultern. „Dich kann hier niemand hören“, sagte er und seine Stimme klang dumpf und bedrohlich.

Erneut rannen Tränen über ihr Gesicht. „Warum haben Sie mich hergebracht? Wer sind Sie?“

Er antwortete nicht. Als er das Ende der Treppe erreicht hatte, blieb er einen Moment lang stehen, ehe er langsam auf sie zukam.

„Gehen Sie weg. Kommen Sie nicht näher!“ Ihr Protest war schwach und nutzlos.

Er trat neben sie, sodass sie nur noch seine Schuhe sehen konnte, die schwarz glänzten.

„Bitte lassen Sie mich gehen. Was wollen Sie denn vor mir? Lassen Sie mich doch bitte gehen!“

Er schwieg.

„Warum tun Sie das?“

„Weil es nötig ist.“

Sie zuckte zusammen.

Ihr Peiniger hatte sich neben sie gekniet, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. Sie konnte seinen Atem riechen. Nun drehte er den Docht der Lampe hoch und ihre Augen waren für einen kurzen Augenblick von der plötzlichen Helligkeit geblendet. „Sieh dorthin“, sagte er nach einer kurzen Weile, streckte den Finger aus und zeigte an ihr vorbei auf die Wand gegenüber.

Sie drehte den Kopf zur Seite. Panisch biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte nicht hinsehen, egal was dort war, aber er packte sie grob bei den Haaren und zwang sie dazu.

Ihre Augen weiteten sich. „Oh Gott, nein. Bitte. Bitte.“ Sie wollte schreien, ihre Panik, das Grauen, alles herausschreien. Doch sie krächzte nur, während ihre Augen das Entsetzliche nicht wahrhaben wollten. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Magen rebellierte, verdrehte sich und ein galliger Geschmack schoss in ihren Mund. Sie würgte die letzte Mahlzeit hoch. Tomatensuppe und Apfelkuchen. Es sah aus, als würde sie klumpiges Blut spucken.

Ihren Peiniger kümmerte es nicht. Ungerührt sah er ihr zu und wischte ihr mit dem Finger über den Mund, während sein Atem über ihre nassgeweinten Wangen streichelte. „Weißt du jetzt, warum du sterben musst?“

„Bitte … tun Sie es nicht. Bitte.“

Er zögerte. Sah sie Mitleid in seinen Augen?

26. August 1877 Chicago Einen Monat später

Der Tag war sonnig und der Himmel strahlend blau. Aber für Celeste Summersteens Geschmack war es viel zu heiß. Sie schwitzte in ihrem Kleid aus dunkelblauer Seide und Taft. Ihre Spitzenhandschuhe juckten fürchterlich. Am liebsten hätte sie diesen unnötigen Tand aus dem Fenster der Kutsche geworfen und den Unterrock, der nass an ihren Beinen klebte, gleich hinterher.

Sie fuhren durch ein steinernes Tor und folgten einer schnurgeraden Allee zum Anwesen der Familie Roover.

„Schneller!“, rief sie.

„Soll ich uns umbringen?“, antwortete der Kutscher gereizt, ließ aber trotzdem die Peitsche knallen.

Celeste war wütend, doch nicht auf den Kutscher. Vielmehr waren es ihr Vorgesetzter und dieser grinsende Idiot Walters, die sie zur Weißglut getrieben hatten.

Walters hatte sie schon eine Lektion erteilt, ihr Vorgesetzter würde eine härtere Nuss werden. Schließlich war der nicht irgendwer, sondern Allan Pinkerton, der Gründer der berühmten Detektei Pinkerton. Seinen Männern sagte man nach, bei der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich zu sein. Viele hielten sie sogar für schießwütige Revolverhelden. Aber der Erfolg, wenn auch in manchen Fällen fragwürdig erworben, gab ihnen recht.

Über Pinkerton selbst kursierte das Gerücht, dass selbst die hartgesottensten Verbrecher anfingen zu weinen, wenn sie ihn sahen. Sie hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber es schreckte Celeste auch nicht länger, es herauszufinden. Für Pinkerton war sie eine Last und er gab ihr nichts anderes zu tun, als Akten zu sortieren und Briefe zu schreiben. Bisher hatte sie das stumm und geduldig ertragen und gehofft, dass sich irgendwann etwas ändern würde. Aber jetzt hatte sie erkennen müssen, dass das niemals geschehen würde.

Zwischen den Bäumen tauchte ein herrschaftliches Gebäude auf. In den hohen Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht und drei spitze Türmchen reckten ihre Dächer in den klaren Himmel. Es war der Stammsitz des Handelshauses Roover, einer der reichsten Familien Chicagos.

Das Pferd wieherte, Hufe stampften, die Räder blockierten und wirbelten Steinchen und Staub auf, als der Kutscher sein Gefährt zum Halten brachte. Es war ein dramatischer Auftritt, ganz im Sinne von Celeste, der es gefiel, wenn man sich den Hals nach ihr verdrehte.

So wartete sie auch nicht ab, bis jemand kam, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Ein Mann im schwarzen Gehrock stürmte aus dem Haus und die breite Treppe hinunter. Auf halbem Weg erkannte er sie. Seine angespannte Miene löste sich in einem höflichen Lächeln auf. Es war Mrs. Roovers Sekretär.

„Miss Summersteen.“ Er klang überrascht und warf einen hastigen Blick auf seine goldene Taschenuhr. „Wie schön, dass Sie doch noch kommen konnten. Mr. Pinkerton teilte uns mit, Sie seien verhindert.“

„Ja, das hätte er wohl gern“, presste sie hervor.

„Bitte?“

„Nichts. Sagen Sie, wo finde ich Mrs. Roover?“

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich bringe Sie zu ihr.“

Der Sekretär ging voran zur Rückseite des Anwesens. Dort befand sich ein kleiner See, in dessen Mitte eine Insel lag. Der Weg führte über einen kleinen Steg auf die Insel und geradewegs auf einen weißen Pavillon zu, in dessen Schatten ein runder Eichentisch stand.

Zwei Personen saßen an diesem Tisch. Der Wind trieb das Klirren von kristallenen Gläsern über das Wasser.

Als Celeste sich näherte und Pinkerton sie erkannte, konnte sie sehen, wie sein rundes Gesicht mit dem sauber gestutzten Backenbart rot anlief. Ruckartig stand er auf. „Was machen Sie denn hier?“, schnaubte er ungehalten.

Sie ignorierte ihn und knickste stattdessen vor der alten Dame. „Bitte verzeihen Sie die Verspätung. Mr. Walters hatte es versäumt, mich in Kenntnis zu setzen.“

Sie musste an Walters mieses Grinsen denken, als er ihr erzählt hatte, dass Pinkerton anstatt ihrer zu dem Treffen gefahren war.

„Miss Summersteen! Sie missachten meine Befehle. Ich habe Ihnen eine andere Aufgabe zugewiesen.“ Pinkerton war sehr darum bemüht, die Fassung zu wahren.

„Ich weiß und trotzdem bin ich hier.“ Sie hielt seinem Blick stand und fühlte eher Wut denn Angst. Zum Weinen war ihr auch nicht zumute – also waren die Gerüchte doch übertrieben. Aus ihrer Handtasche holte sie einen Schlüssel, den sie vor Pinkerton auf den Tisch legte. Er sah sie irritiert an.

„Der Schlüssel zum Aktenraum. Was soll ich damit?“

„Walters wollte mich nicht gehen lassen, also hab ich ihn eingesperrt.“

„Sie … So etwas ist mir ja noch nie untergekommen. Was fällt Ihnen ein? Sie sind entlassen!“, polterte Pinkerton los.

Celeste kniff die Augen zusammen. „Und wenn schon. Akten kann ich überall sortieren!“

Ein herzliches Lachen unterbrach den Streit. Mrs. Roover amüsierte sich köstlich. „Ich weiß schon, warum ich nur Sie haben wollte, meine liebe Celeste. Bitte, setzen Sie sich doch.“

„Ich soll dieses Verhalten tolerieren?“ Noch immer ähnelte die Farbe von Pinkertons Gesicht der eines heißgekochten Hummers.

„Ja, aus einem ganz einfachen Grund. Sie wollten mir Miss Summersteen vorenthalten. Obwohl ich ausdrücklich um ihre Anwesenheit gebeten hatte.“

„Aber, aber …“ Pinkerton suchte verzweifelt nach Worten.

„Ich bin Ihnen nicht böse, mein lieber Allan. Es sei denn, Sie machen Ihre Drohung wahr und entlassen sie tatsächlich. Dann allerdings sähe ich mich gezwungen, auf Ihre weiteren Dienste zu verzichten.“

Pinkerton holte tief Luft. „Nein, natürlich nicht. Sie können bleiben, Miss Summersteen.“ Er schaffte es, die Worte hervorzupressen, ohne Celeste dabei anzusehen.

„Wunderbar.“ Die alte Dame lächelte zufrieden in die Runde, und Celeste fragte: „Wie kann ich Ihnen helfen? Geht es wieder um einen betrügerischen Butler?“

„Nein, diesmal nicht. Diesmal geht es um etwas viel Wertvolleres als Geld: meine Nichte.“

„Madam. Ich bin immer noch der Meinung, dass meine Männer besser …“

„Allan. Ich bitte Sie. Ich kenne die Vorzüge Ihrer Revolverhelden. Sie sind äußerst nützlich, wenn man Pferdediebe oder Postkutschenräuber jagt. Aber meine Nichte ist ein zartes Geschöpf. Ich will sie nicht in der Obhut von Männern wissen, die keine Ahnung haben, wie man sich einer Lady gegenüber benimmt.“

„Es geht hier um den Ruf meiner Detektei. Wenn ich einen Auftrag annehme, dann will ich auch, dass er anständig ausgeführt wird“, sagte Pinkerton und sah Celeste dabei mit durchdringendem Blick an.

„Ich dachte, wir hätten das jetzt geklärt? Oder wollen Sie meinem ausdrücklichen Wunsch widersprechen?“

„Ähm … nein, Madam. Ganz und gar nicht. Ich bin immer … erfreut, Ihrem Haus zu Diensten sein zu können. Es ist nur …“

„Wenn es nicht das ist, dann wollen Sie mir mit anderen Worten sagen, dass Sie Miss Summersteen für ungeeignet halten?“

„Ähm. Nein … das hab ich damit auch nicht …“

„Gut. Dann sind wir uns also einig“, fiel ihm die alte Dame resolut ins Wort.

Pinkerton gab nach und zuckte mit den Achseln. „Na schön. Sie haben gewonnen. Ich gebe Ihnen Miss Summersteen. Ich hoffe nur, Sie bereuen es nicht.“ Er stand auf und schlug die Hacken zusammen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen.“ Er schnappte sich den Schlüssel vom Tisch und brummte ein: „Ich habe noch zu arbeiten.“ Damit rauschte er davon, ohne Celeste auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Ich fürchte, er ist mit Ihrer Wahl nicht ganz einverstanden“, sagte Celeste, während sie ihm nachsah, wie er über den Steg davon stapfte.

„Papperlapapp. Er wird es verschmerzen. Schließlich bezahle ich gutes Geld für seine Dienste. Da soll er sich nicht so anstellen.“

Celeste konnte ihre wachsende Ungeduld nur schwer verbergen. „Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Madam?“

„Sie kennen doch meine Nichte Dorothea?“

„Aber ja, natürlich.“ Celeste hatte sie während ihrer früheren Ermittlungen im Hause Roover getroffen. Eine freundliche, wenn auch recht schüchterne junge Frau von sechzehn Jahren.

„Sie war jetzt über ein Jahr in meiner Obhut. Nun will mein Bruder, ihr Vater, sie nach London zurückholen, und ich möchte, dass Sie Dorothea auf dieser Reise begleiten.“

Celeste konnte einen Anflug von Enttäuschung nicht vermeiden. Das klang nicht nach dem interessanten Fall, den sie sich erhofft hatte. Worte wie Gouvernante und Gesellschafterin kamen ihr in den Sinn. Doch dann drang auch die letzte Information zu ihr durch. „Nach London?“ Die Aufregung, die sie bei dem Gedanken an die ferne Stadt erfasste, gewann rasch die Oberhand.

„Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Umstände sind komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheinen und auch … delikater. Alles, was ich Ihnen nun zu sagen habe, ist nur für Ihre Ohren bestimmt. Ich vertraue dahingehend auf Ihre Verschwiegenheit.“

Celeste nickte und die alte Dame fuhr fort. „Meine Nichte besitzt ein sehr zartes Gemüt. Als sie zu mir kam, war sie sehr still und weinte viel. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen. Ich wusste … sie war diesem Teufelszeug verfallen. Opium. Mein Bruder schickte sie zu mir, um sie davon zu kurieren. Er war der Meinung, eine andere Umgebung könnte ihr dabei helfen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, ich freute mich auf sie. Als ich meine Nichte das letzte Mal sah, war sie drei Jahre alt.“

„Wissen Sie, woher sie das das Opium bekommen hat?“, fragte Celeste.

„Das hat sie mir nie gesagt und ich habe auch nur einmal gefragt. Sie hatte sich nach dem Gespräch tagelang in ihr Zimmer eingeschlossen und wollte mich nicht mehr sehen. Das war ganz zu Beginn ihres Aufenthalts bei mir. Danach ging es ihr jedoch schnell wieder besser. Bis jetzt jedenfalls. Der Brief ihres Vaters hat sie tief erschüttert.“

„Inwiefern?“

„Sie will nicht nach Hause, aber mein Bruder besteht darauf. Er schreibt, eine Tochter müsse bei ihrer Familie sein. Er ist sehr bestimmend, müssen Sie wissen.“

„Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Nun ja, sie ist seine Tochter. Ich kann es ihm nicht verdenken.“

„Könnten Sie nicht versuchen, ihn umzustimmen? Zumindest solange, bis Dorothea von selber nach Hause will?“

„Meine Liebe. Er würde nicht auf mich hören. Wir pflegen keine geschwisterlichen Bande. Er hat mir nie verziehen, dass ich unserer Familie den Rücken gekehrt habe, um einen Yankee zu heiraten, wie er sich gerne ausdrückt.“

„Das verstehe ich nicht. Wenn Ihr Verhältnis so schlecht ist, warum hat er Dorothea dann überhaupt zu Ihnen geschickt?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich seine einzige Verwandte bin. Ich habe aber nicht gefragt. Es ging um Dorotheas Wohl und ich habe keine eigenen Kinder.“

Celeste nickte, um dann eine Frage zu stellen, die sie seit Beginn des Gesprächs beschäftigte. „Ihre Nichte ist vom Opium geheilt. Sie fährt nach Hause. Ich finde daran nichts Ungewöhnliches. Warum wollen Sie, dass ich sie begleite?“

„Eine durchaus berechtigte Frage.“ Die alte Dame nahm eine in Leder gebundene Mappe von einem kleinen elegant verzierten Beistelltischchen und zog einen Brief heraus, den sie Celeste reichte.

„Diesen Brief hier bekam ich vor ungefähr drei Wochen von Dorotheas Mutter. Normalerweise schreibt sie nur ihrer Tochter, aber dieser hier war ausdrücklich an mich adressiert. Bitte … lesen Sie nur.“

Geschätzte Anette,

ich bedauere es, Ihnen nicht schon vorher geschrieben zu haben, so muss es Ihnen nun scheinen, dass ich mich nur in meiner persönlichen Not an Sie wende.

Zuvor möchte ich Ihnen allerdings versichern, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie Dorothea mit großer Liebe bei sich aufgenommen haben.

Ich wünschte, dass dies allein der Anlass für mein Schreiben wäre, doch leider ist etwas unvorstellbar Schreckliches geschehen, worüber ich Sie dringend unterrichten muss.

Dorotheas Freundin Estelle wurde erwürgt und dann in die Themse geworfen, wo man ihren Leichnam angespült fand. Ich weiß nicht, wer zu solch schändlichen Taten fähig ist, sie war doch ein so liebes Mädchen. Und so jung. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich.

Ich habe es nicht übers Herz gebracht, es Dorothea zu schreiben. Meine Sorge war zu groß, sie könnte wieder in diese dunkle Stimmung verfallen, in der sie war, bevor sie zu Ihnen kam. Daher wende ich mich auch an Sie, liebe Anette. Sie sehen meine geliebte Tochter täglich und können eher ermessen, wie es um ihr Seelenheil bestellt ist. Entscheiden Sie, ob Sie ihr diese traurige Nachricht überbringen wollen oder nicht.

Mit geschätzten Grüßen und mit meinem zutiefst empfundenen Dank

Cynthia

Celeste ließ den Brief sinken und sah Mrs. Roover fragend an. Diese schüttelte aber nur leicht den Kopf. „Ich war nicht mutig genug und habe es ihr nicht gesagt. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, aber dann traf der Brief meines Bruders ein. Jetzt ist es zu spät. In zwei Tagen wird sie abreisen und die ganze Reise regt sie bereits über alle Maße auf. Meine Liebe … ich fürchte, Dorothea wird in London vom Tod ihrer Freundin erfahren und ich weiß nicht, was sie dann tun wird. Ich will verhindern, dass sie wieder den alten Weg einschlägt, der sie dem Tod so nahe gebracht hat. Sie braucht eine Freundin, jemanden der ihr zuhört, der nicht aus ihrem angestammten Kreis kommt und dem sie vertrauen kann. Jemand, der ein wachsames Auge auf sie hat. Ich weiß, dass sie Sie mag. Sie hat es mir selber gesagt. Darum möchte ich Sie bitten, dass Sie Dorothea begleiten.“

Celeste war noch nicht überzeugt. „Was ist mit ihren Eltern? Haben Sie ihnen Ihre Bedenken nicht mitgeteilt?“

„Cynthia ist eine herzensgute Frau, aber von kränklicher Natur. Sie verlässt so gut wie nie das Haus und weiß nicht, was ihre Tochter tut. Und mein hoch geschätzter Bruder, der große Lord Ellingsford, hat vor allem seine politische Karriere im Sinn und weniger die seelische Gesundheit seiner Tochter. Ich hingegen kann die Augen nicht verschließen und darauf hoffen, dass alles gut wird. Bitte, helfen Sie ihr.“

Celeste atmete tief ein. Wenn sie zustimmte, war sie eine Gouvernante, aber was hatte sie schon zu verlieren? Akten sortieren und Briefe schreiben? Vielleicht würde Pinkerton sie auch gleich entlassen. Gründe hatte sie ihm genug geliefert. Wenn Sie aber Mrs. Roovers Angebot zustimmte und ihre Arbeit gut machte, würde sie sich vielleicht bei Pinkerton für sie verwenden. Ihre Zukunft als Detektivin hing von diesem einen Auftrag ab. Sie lächelte. „Ich bin einverstanden, Madam. Es wäre mir eine Freude.“

„Wunderbar.“ Die alte Dame lächelte dankbar. „Ich werde Ihnen in drei Tagen eine Kutsche schicken, die Sie abholen wird. Packen Sie ein, was Sie für nötig halten. Sie werden genug Platz haben. Und keine Sorgen wegen Ihrer Unkosten, darum werde ich mich kümmern.“

„Haben Sie vielen Dank, Madam. Auch für Ihr Vertrauen.“

„Ich muss mich bedanken. Sie haben eine alte Frau sehr glücklich gemacht.“ Sie seufzte und klingelte nach der Dienerschaft. „Dorothea wird bei Ihnen in guten Händen sein.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, um Ihrer Nichte zur Seite zu stehen.“ Celeste wusste, ihr Leben würde sich von nun an ändern, ob zum Guten oder zum Schlechten, das musste sie abwarten.