Read the book: «Die Welle», page 2

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Ein ganz normaler Morgen

Am Dienstag gibt Ben in der ersten Stunde Geschichte. Er ist diesmal schon ganz früh im Klassen-Zimmer. Wie immer kommen die Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger pünktlich zum Unterricht. Ben sieht zu, wie sie hereinkommen.

Die meisten haben es nicht eilig.

Gemütlich spazieren sie ins Klassen-Zimmer.

Mit jedem neuen Schüler wird es lauter im Raum. Einige setzen sich schnell und schreiben noch die Hausaufgaben ab.

Ben sieht Robert Billings an, der am Fenster steht und hinausschaut.

Der kräftige Junge ist ein Außen-Seiter in der Klasse. Er scheint sich für nichts zu interessieren. Unterricht, Mitschüler, Aussehen: Alles ist ihm egal. Seine Haare sind ungekämmt und das Hemd hängt aus der Hose.

Roberts Noten sind schlecht.

Wahrscheinlich muss er die Klasse wiederholen.

Die anderen mögen ihn nicht, am wenigsten Brad. Gerade geht Brad an Robert vorbei zu seinem Tisch. „Mach doch mal Platz, du Blödmann!“

Er gibt Robert einen kräftigen Schubs.

Dabei klebt er ihm einen Zettel auf den Rücken.

Darauf steht: „Schlag mich!“

Inzwischen sind die meisten Schüler da.

Als Letzte kommen Laurie Sanders, David Cooper und Amy Smith herein.

Die drei sieht man fast immer zusammen.

David ist Lauries Freund.

Er ist auch Kapitän der Football-Mannschaft.

Auch Brian und Eric spielen im Football-Team der Schule.

Laurie und Amy sind Bens beste Schülerinnen.

Die beiden sind eng befreundet.

Trotzdem hat Ben immer das Gefühl,

dass sie miteinander im Wettbewerb stehen.

Gerade stellt Laurie ihre Tasche ab

und sieht dabei zufällig zur Tafel.

„Was soll denn das bedeuten?“, fragt sie neugierig.

Alle schauen nach vorn.

Ben Ross schreibt in großen Buchstaben

etwas an die Tafel.

Als er fertig ist, steht da:

Macht durch Disziplin!

Macht durch Disziplin!

„Was das bedeutet, erkläre ich euch gleich.

Setzt euch bitte.“

Ben wartet, bis alle Schüler an ihren Plätzen sind.

Dann sagt er:

„Wir werden heute über Disziplin sprechen.“

Disziplin? Die Schüler stöhnen.

Das klingt ja langweilig!

Dabei ist Ben Ross doch für seinen interessanten Unterricht bekannt.

„Wartet ab!“, sagt Ben. „Hört mir erstmal zu.“

Er macht eine Pause und sieht die Schüler der Reihe nach an.

„Disziplin ist die Voraussetzung für Erfolg.

Disziplin bedeutet Macht.

Ist hier jemand, der sich nicht für Macht und Erfolg interessiert?“

„Robert wahrscheinlich“, sagt Brad laut.

Die anderen lachen.

„Wir werden sehen“, sagt Ben.

„David, Brian, Eric: Ihr drei spielt Football.

Dann wisst ihr ja:

Um zu gewinnen, braucht man Disziplin.“

„Wahrscheinlich haben wir deshalb seit zwei Jahren kein Spiel mehr gewonnen“, sagt Eric.

Lautes Gelächter.

Ben wartet geduldig, bis es wieder ruhig ist.

„Andrea“, sagt er dann zu einer hübschen rothaarigen Schülerin.

„Du tanzt Ballett. Müssen Tänzer nicht viele Stunden hart üben, um wirklich gut zu werden?“

Das Mädchen nickt.

Ben wendet sich wieder an die Klasse.

„So ist es mit vielen Dingen. Ob Sport, Musik, Malen oder Schreiben: Wer Erfolg haben will,

muss jahrelang üben. Harte Arbeit, Disziplin und Kontrolle – darauf kommt es an.“

„Und was soll uns das jetzt sagen?“, fragt Brad gelangweilt.

Ben geht nicht darauf ein.

„Disziplin ist aber nicht nur wichtig, wenn man Erfolg haben will.

Disziplin ist auch die Grundlage für Macht“, sagt er.

„Denn nur wer Erfolg hat, kann auch Macht haben.

Macht über sein eigenes Leben.

Und vielleicht auch Macht über andere.

Wie so etwas funktioniert?

Das will ich euch zeigen.

Und zwar hier im Klassen-Zimmer.

Was sagt ihr dazu?“

Ben wartet auf einen Witz,

doch die Schüler sind still.

Ihre Neugier ist geweckt.

Sie sehen ihn interessiert an.

„Also gut.“ Ben stellt einen Stuhl so,

dass alle ihn sehen können.

„Disziplin beginnt mit der richtigen Haltung.

Amy, komm doch bitte einmal her.

Setz dich hier auf den Stuhl.“

Als Amy vor ihm sitzt, erklärt Ben:

„Kreuze die Hände auf dem Rücken

und sitze ganz aufrecht.

Fühlst du, dass du so besser atmen kannst?“

Amy probiert es aus und nickt.

Die anderen Schüler setzen sich genauso hin.

Hier und da kommt eine lustige Bemerkung.

Aber es machen tatsächlich alle mit.

Ben geht von einem zum anderen

und überprüft die Haltung.

„Erstaunlich“, denkt er.

„Sie sind alle bei der Sache. Sogar Robert.“

„Sehr gut!“, sagt er laut.

„Jetzt möchte ich, dass ihr euch Robert anseht.

Er sitzt ganz gerade.

Die Beine sind dicht nebeneinander.

Seht ihr, wie aufrecht er sitzt?

Das ist sehr gut, Robert!“

Robert sieht Ben an und lächelt kurz.

Dann sitzt er wieder ganz steif da.

Die anderen Schüler tun es ihm nach.

Ben geht nach vorn. „Gut, machen wir weiter!

Steht jetzt auf und geht in der Klasse herum.

Wenn ich es befehle, lauft ihr zu euren Plätzen

zurück und setzt euch wieder so hin.

Aber so schnell wie möglich! Also los, aufstehen!“

Die Schüler stehen auf und laufen durch die Klasse.

Nach kurzer Zeit sagt Ben: „Setzen!“

Alle rennen zu ihren Plätzen.

Es gibt ein wildes Durcheinander.

Manche rennen einander absichtlich um.

Es dauert einige Zeit, bis alle wieder sitzen.

„Viel zu viel Durcheinander!“

Ben schüttelt den Kopf.

„Das muss viel schneller gehen.

Versucht es noch einmal.

Aber diesmal ohne zu reden! Los, aufstehen!“

Das Spiel beginnt von vorn – einmal und noch

einmal. Die Schüler stehen auf und laufen durch

den Raum. Wenn Ben es befiehlt, kehren sie ganz

schnell an ihre Plätze zurück.

Ben gibt seine Befehle kurz und knapp.

Nach einer Weile kommt etwas Neues dazu:

Die Schüler sollen auf den Flur hinauslaufen und von dort an ihre Plätze zurückkehren.

Ben stoppt die Zeit.

Nach zwei Versuchen voller Durcheinander hat David eine Idee.

„Hört mal“, sagt er, als sie wieder draußen stehen.

„Stellen wir uns doch mal so auf:

Die mit den Plätzen hinten im Klassen-Zimmer stehen ganz vorn in der Reihe.

Dann laufen wir uns nicht mehr gegenseitig um.“

Aus dem Klassen-Zimmer ertönt Bens Zeichen, und die Schüler laufen los. Ben stoppt die Zeit:

16 Sekunden! Die Klasse jubelt.

„Sehr gut. Ruhe bitte!“, sagt der Lehrer.

Und tatsächlich: Die Schüler sind sofort still.

Ben ist überrascht.

Sie gehorchen aufs Wort.

„Jetzt noch etwas“, sagt Ben.

„In Zukunft gibt es drei Regeln zu beachten.

Erstens: Jeder legt sich Block und Stift für Notizen bereit. Zweitens: Wer etwas sagt oder eine Frage beantwortet, stellt sich neben seinen Stuhl.

Drittens: Wenn ihr redet, beginnt ihr immer mit den Worten: Mr Ross. Alles klar?“

Die Schüler nicken.

„Gut“, sagt Ben. „Brad, wer war während dem Zweiten Welt-Krieg britischer Premier-Minister?“

Brad kratzt sich am Kopf. „Hm, war das nicht …“

Ben unterbricht ihn sofort. „Falsch, Brad.

Du hast dich nicht an die Regeln gehalten.“

Er sieht zu Robert hinüber.

„Robert, zeige Brad, wie man eine Frage richtig beantwortet.“

Robert springt sofort auf und stellt sich aufrecht neben seinen Stuhl. „Mr Ross …“, beginnt er.

„Richtig, Robert“, sagt Ben. „Danke.“

„So ein Blödsinn“, schimpft Brad leise.

„Das sagst du nur, weil du es nicht

richtig gemacht hast“, sagt sein Nachbar.

„Brad“, wiederholt Ben.

„Wer war englischer Premier-Minister?“

Diesmal steht Brad auf. „Mr Ross, hm,

Premier-Minister, ich glaube es war …“

„Das geht noch viel zu langsam, Brad“,

unterbricht ihn Ben. „Antworte so kurz wie möglich.

Und zwar sofort, wenn ich dich frage.

Versuch es noch einmal, Brad.

Also: Wer war Premier-Minister?“

Jetzt steht Brad schnell auf und antwortet sofort:

„Mr Ross, Winston Churchill!“

Ben nickt. „Richtig! So beantwortet man Fragen:

schnell, kurz und klar. Sehr gut, Brad!

Andrea, welches Land hat Hitler im September 1939 angegriffen?“

Andrea springt auf und steht kerzengerade neben ihrem Stuhl.

„Mr Ross, ich weiß es nicht!“

Ben lächelt. „Richtig gemacht, Andrea.

Auch wenn du die Antwort natürlich wissen solltest.

Amy, weißt du es?“

Amy springt auf. „Mr Ross, Polen!“

„Sehr gut“, sagt Ben. „Brian, wie hieß Hitlers Partei?“

Brian springt auf. „Mr Ross, die Nazis!“

Ben nickt. „Gut, Brian. Wie ist der vollständige Name der Partei? Laurie?“

Laurie steht auf. „National-Sozialistische …“

„Nein!“, unterbricht Ben. „Nochmal, aber richtig!“

Laurie setzt sich erstaunt.

David sagt leise etwas zu ihr.

Laurie steht wieder auf. „Mr Ross! National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei.“

„Sehr gut“, sagt Ben. Er stellt die nächste Frage.

Und wieder die nächste. Blitzschnell springen die Schüler auf und antworten kurz und klar.

Die Stimmung in der Klasse ist anders als sonst.

Etwas Neues, Aufregendes liegt in der Luft.

Schnell und genau kommen die Antworten.

Die Glocke läutet zum Ende der Stunde.

Doch niemand steht auf.

Alle sind mitgerissen von dem schnellen

Frage-und-Antwort-Spiel.

Auch Ben ist beeindruckt.

Er atmet tief durch und gibt die Hausaufgaben:

„Heute Abend lest ihr Kapitel 7 im Geschichts-Buch

zu Ende. Schluss für heute! Geht jetzt in die Pause.“

Die Mädchen und Jungen stehen auf.

Ruhig und geordnet verlassen sie

das Klassen-Zimmer.

Ein tolles Gefühl

„Das war gut heute!“ David beißt kräftig

in sein Pausen-Brot. Eric und Brian nicken.

Die Jugendlichen stehen auf dem Schulhof

zusammen. Alle sind begeistert.

„Erstaunlich“, sagt Amy. „So viel Spaß hat mir noch keine Geschichts-Stunde gemacht.“

„Auf jeden Fall war es spannender als sonst“, sagt Eric.

„In der Klasse war eine super Stimmung.

Ich habe mich ganz anders gefühlt als sonst“, sagt David.

„Da war ein richtiges Gemeinschafts-Gefühl.

Wir waren irgendwie eine Einheit.

Und auf einmal hat alles geklappt.

Wahrscheinlich ist es das, was Mr Ross

mit Macht gemeint hat. Oder nicht?“

„Naja“, sagt Brad. „Ich finde, du übertreibst.“

Aber David hört gar nicht hin.

Ihm ist plötzlich ein Gedanke gekommen.

„Wäre es nicht toll, wenn wir dieses Gefühl auf unsere Football-Mannschaft übertragen

könnten? Mit dieser Energie könnten wir jeden

Gegner schlagen. Als Spieler sind wir ja nicht

schlecht, aber wir sind alle Einzel-Kämpfer.

Wir müssen besser zusammenhalten.

Dann werden wir auch wieder gewinnen!“

Brad schüttelt zweifelnd den Kopf.

David schaut auf seine Uhr.

„Wir sehen uns gleich beim Sport.

Ich muss noch mal rein.“

Er geht zur Toilette.

Im Wasch-Raum sieht er Robert.

Der steht gerade vor dem Spiegel und streicht sich die Haare glatt. Dann drückt er den Rücken durch und stellt sich ganz aufrecht hin.

Seine Lippen formen stumm die Worte ‚Mr Ross‘.

Als er David bemerkt, bekommt er einen roten Kopf und geht schnell hinaus.

David sieht ihm überrascht nach.

Auf Robert hat die letzte Geschichts-Stunde

wohl den größten Eindruck gemacht.

Nur ein Spiel?

Am Abend erzählt Ben Ross seiner Frau

von der ungewöhnlichen Geschichts-Stunde.

„Du glaubst nicht, wie begeistert die Klasse war!“, sagt er zu Christy.

„Das hätte ich nie gedacht. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie gar nicht mitmachen.

Dass sie es blöd finden, so auf Befehle zu hören.

Aber dann ist genau das Gegenteil passiert.

Ich glaube wirklich, sie mögen Disziplin!

Alle saßen aufrecht da. Wenn ich sie aufrief, sprangen sie sofort auf und antworteten.

Es war unglaublich.“

„Es war eben ein Spiel für sie.

So etwas wie ein Schnelligkeits-Wettbewerb“, sagt Christy.

„Auch das“, sagt Ben.

„Aber ich glaube, es war mehr als ein Spiel.

Ich habe das Gefühl, dass sie wirklich Regeln wollen.

Vielleicht ist es genau das, was ihnen fehlt.

Sie wollen Disziplin. Es war mir fast unheimlich.“

Er sieht Christy an.

„Nach der Stunde sind sie sitzen geblieben.

Sie wollten gar nicht mehr gehen.“

„Wirklich?“ Christy ist erstaunt.

„Sonst rennen sie doch raus, sobald es klingelt!“

Sie lacht. „Was hast du denn nur mit deinen Schülern gemacht!“

An diesem Abend liegt Ben noch lange wach.

Er hat Christy nicht alles erzählt.

Diese Unterrichts-Stunde hat ihn genauso mitgerissen wie seine Schüler.

Die schnellen Fragen und Antworten, die Disziplin: All das war so lebendig und ansteckend.

Ben muss zugeben, dass er begeistert ist.

Der Unterricht hat ihm heute viel Spaß gemacht.

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