Read the book: «Die Heimkehr der Jäger», page 5

Font:

"Das Buch war in einem Lissabonner Verlag erschienen, der heute nicht mehr existiert. Es war in englischer Sprache verfasst." - Marie schwieg einen Augenblick. - "Ich hatte eine Spur. Zum ersten Mal. Er hatte also nach seinem Verschwinden in Portugal gelebt. Ich weiß noch, dass ich sehr lange in einem schattigen Café hoch über den Dächern der Alfama saß und mir die Sache durch den Kopf gehen ließ. Ich schaute durch die Stäbe eines Geländers in die Ferne. Die Weite des Raums und die Monumente, die ihn waghalsig zu bewältigen suchten, erinnerten mich an Amerika: die über die Hafeneinfahrt gespannte Brücke oder die weiße Christusstatue auf den jenseitigen Hügeln. Ein altes Segelschiff, ein großer Dreimaster aus dem 19. Jahrhundert, lag im Hafen. Seine Takelage schien über den rotbraunen Dächern die Fernsehantennen fortzuspinnen. Dieses Panorama versetzte mich in eine andere Zeit, machte mich zur Hauptdarstellerin in einem Piraten- oder Abenteuerfilm. Die großen Wolkenschatten auf der in der Sonne tatsächlich strohfarbenen Bucht waren längliche, langsam treibende dunkle Formen, so als würde dort knapp unter der Wasserfläche eine Herde von Walen schwimmen. War er vielleicht gar noch in Lissabon; wäre er unter einem dieser unzähligen Dächer, in diesem gebauten Labyrinth der Jahrhunderte aufzuspüren? Am Abend des nächsten Tages war ich in Sagres", sagte Marie, schlug das Tagebuch auf und las eine weitere Passage vor:

"Der Bus, der uns hierher gebracht hat, hielt an einer Kreuzung etwas außerhalb von Sagres, dessen flache, weiße Häuser hinter uns lagen. Vor uns erstreckte sich ein baumloses Plateau, von einer schnurgeraden Straße und einem staubigen Weg durchschnitten. Nichts als Steine, hartes, trockenes Gras, Moose, Flechten, einige kahle, wie versteinerte Sträucher. Die Straße endete westwärts an einem Leuchtturm, wo das Plateau in steilen Klippen zum Meer hin abstürzt. Der Weg mündete in das Tor eines näher gelegenen, mächtigen Forts mit weißen Mauern und Ecktürmen. Das Kap hier galt in der Antike als der Ort, wo die Götter nachts von ihrer Arbeit und ihren Reisen ausruhen. Heiliges Vorgebirge nannten es die Griechen und Römer. Dort endete in ihren Augen die Welt. Weiter hinaus, hinter diesem undurchsichtigen Schleier, denn die immer starken Winde lassen meist einen Dunst entstehen, der den Horizont verhüllt, weiter hinaus, so dachten sie, stieß man auf den Rand der Erde, das Nichts, das jedes dorthin entsandte Schiff verschlingen würde."

- "Ich blieb einige Tage, " sagte Marie, "in der alten Festung befindet sich eine Jugendherberge, gleich nebenan ist das Museum. Dort saß ein Mann an der Kasse, der so alt wie das Jahrhundert sein mochte, und er hatte es nirgendwo sonst verbracht als in diesem äußersten Winkel Europas, dem Meer, dem Wind und dem Licht ausgesetzt. Vaters Buch, warte Carla, warte, Du wirst gleich erfahren, warum ich so sicher darin bin. Vaters Buch lag an der Kasse aus. Ich nahm ein Exemplar, blätterte darin und es entspann sich ein Gespräch mit dem Alten. Sein Englisch war erstaunlich gut. Von sich aus erwähnte er den Namen des Autors und sagte, nicht ohne Stolz, er sei mit ihm befreundet gewesen. Jener habe einige Jahre in Sagres gelebt, in einer Wohnung beim Leuchtturm, sei von Zeit zu Zeit nach Lissabon, Porto und Coimbra gefahren, um in den Bibliotheken dort zu arbeiten und habe sich sehr um den Ausbau des damals noch völlig bedeutungslosen Museums bemüht.

Da ich der einzige Besucher war, schloss der Alte die Tür, und wir setzten uns in einen Innenhof unter ein Orangenbäumchen.

'Mit Heinrich habe es begonnen,' sagte er, nachdem wir eine Weile gemeinsam der Stille des Hofes, in der nichts als das Rieseln eines kleinen Brunnens erklang, gelauscht hatten, 'der Drang nach Erkenntnis, diese abendländische Krankheit habe nach den Menschen unaufhaltsam die Erde selbst angegriffen.' - Die Akademie sollte die Eroberung der unbekannten Gegenden, für deren Existenz und Reichtum es inzwischen genügend Hinweise gab, vorbereiten. Von weither kamen die Wissenschaftler jener Zeit nach Sagres. Astronomen, Mathematiker. Philosophen, Geographen, Kartographen, Kapitäne und Schiffsbauer versammelten sich, um Heinrichs Vision zu dienen. Damals sei die Erde noch groß gewesen und die Wächter an den Grenzen der Königreiche hätten nicht gewusst, was hinter den unzugänglichen schneebedeckten Bergen lag. Wie weit seien allein die Strecken gewesen, die die Gelehrten zurückzulegen hatten, um bis nach Sagres zu kommen. Aus Paris, Köln, Florenz, Genua, Krakau, wo immer sie herstammten, ihre Anreise dauerte Wochen. Von Heinrichs Palast, dem Observatorium, den Forschungswerkstätten und Schiffswerften ist nichts mehr erhalten geblieben als eine aus Steinen gelegte Windrose. Zwischen deren Radien war ich am Morgen lange umhergegangen. Er habe mich dabei beobachtet, sagte der Museumswärter. Ich fragte ihn nach Marr, ob er wisse, wo dieser inzwischen lebe. Er verneinte und fuhr fort zu erzählen: Marr habe oft zu ihm gesagt, er wäre gern einer von Heinrichs Bande gewesen, Jacome de Mallorca etwa, der den Wal entdeckte. Den Wal, fragte ich verwundert. Jacome, dessen Vater den berühmten Katalanischen Atlas für König Karl V. von Frankreich angefertigt habe, sei eines Tages an einem der weiten Strände nördlich des Kaps spazieren gegangen, als er in der Ferne einen grauen Haufen oder Sandhügel erblickte, der sich zu bewegen schien. Ihn packte ein Grauen, aber seine Neugier war stärker und so näherte er sich vorsichtig. Was er dann vor sich sah, raubte ihm den Atem, ein gewaltiger Fisch, wie er niemals einen gesehen hatte, lag dort am Strand. Ja, er hatte wohl Seeleute von solchen Ungetümen berichten hören, es aber als Fabeln abgetan. Was da lag, war zweifellos noch lebendig. Es atmete, irgendwo an diesem Körper prustete es von entweichender Luft. Mehrere Male umkreiste Jacome das Tier und wollte sich gerade etwas näher heranwagen, als sich abrupt die Schwanzflosse erhob und klatschend auf den nassen Sand schlug. Da rannte Jacome, bis er keuchend in der Akademie ankam, um den anderen seinen Fund zu melden. Alles brach sofort auf. Sie ließen ihre Instrumente, Messgeräte, Schreibfedern, Karten, Manuskripte, womit sie auch immer beschäftigt waren, liegen und folgten Jacome. Von den Fischerhütten in der Nähe der Festung, wo man die wunderliche Prozession der Gelehrten, die das Plateau überquerte, beobachtete, schlossen sich ebenfalls noch Neugierige an. Die Kinder tollten in dichter Schar vor ihnen her. Heinrich, der beim Bau der Sternwarte gewesen war, blieb gelassen, machte dennoch aber einige seiner Soldaten zur Begleitung mobil. Als sich die Gesellschaft dann auf dem ebenen, winddurchmessenen Strand dem Ungeheuer näherte, bemerkte Jacome, dass es nun reglos dazuliegen schien. Das blasende Geräusch war verstummt. Der Wal war tot. Die Soldaten stießen den Kadaver mit ihren langen Lanzen an. Heinrich und Abraham Cresques, Jacomes Vater, wagten sich langsam bis zum Kopf des Fisches vor (sie wussten nicht, dass es streng genommen ja kein Fisch war).

Oberhalb des schiefen, im aufgewühlten Sand steckenden Mauls entdeckten sie ein Auge. Es glotzte, und Heinrich konnte sich lange nicht von seinem Anblick lösen. Es war ihm, als wolle ihm der Wal etwas mitteilen, doch er verstand nicht. Irritiert, ja voll Scham wandte er sich Abraham Cresques zu, der erschrak, als er Heinrichs bleiches Gesicht sah. Besorgt erkundigte er sich nach dem Befinden des Prinzen, verwies auf den nun stärker werdenden Gestank des Tieres als mögliche Ursache einer Übelkeit. In der Menge, die noch immer in einigem Abstand wartete, war das anfängliche Raunen einem unnatürlichen Schweigen gewichen; selbst die Kinder hockten im Sand und starrten mit ernsten Gesichtern auf den Koloss. Der Wind brauste und die Kämme der tosenden Brandung glänzten im Spätnachmittagslicht, weit entfernt von dem toten Tier. Plötzlich sprang einer von Heinrichs Kapitänen vor, bekannt als gottesfürchtiger Mann, der schon häufig die Pläne des Infanten als sündhaft und gotteslästerlich abgelehnt hatte und schrie etwas von einem Zeichen, alle seien nun gewarnt, was sie da draußen auf See erwarte. Er sei gewiss, dass es frevelhaft sei, zu weit hinaus zu fahren. Möglicherweise gebe es noch mehr bewohnbare Erde, doch dies hier sei ein Zeichen, sich zu bescheiden; die Wahrheit, sie sei nicht in fernen Ländern zu finden."

Carla sagte: "Er hat es aber ganz schön ausgeschmückt, der alte Mann." - "Er zitierte mir fast wörtlich eine Passage aus Vaters Buch, die ich seither immer wieder gelesen habe," sagte Marie, "Vater hat da wohl selbst eine alte Quelle, die er in Coimbra in einem Archiv entdeckt hatte, in eine anschauliche Geschichte verwandelt. Die Quelle berichtet von einem gestrandeten Wal bei Sagres zur Zeit von Heinrichs Regierung in der Provinz Algarve. Plötzlich aber unterbrach der Alte seine Erzählung und fragte mich, ob ich Marrs Tochter sei. Ich sah ihn an und nickte, und er sagte, der Klang meiner Stimme habe ihm das verraten. Da bemerkte ich erst, dass er blind war. Er hatte bisher eine Sonnenbrille getragen und sich wie ein Sehender bewegt. Nun setzte er die Brille ab. Mein Vater sei der ungewöhnlichste Mann gewesen, den er je kennen gelernt habe, aber auch der einsamste, sagte er. Er wünsche ihm, dass er von mir gefunden werde, fügte er noch hinzu, dann stand er auf und ging zurück in sein kleines Museum. Ich glaube, er wusste, warum Vater dieses Leben eines Verschollenen führt."

Carla blickte nach draußen und rief: "Da ist er ja!" - Marie sah ebenfalls hinaus und erkannte Piero, der auf der anderen Seite der Straße unter den Platanen über Pfützen springend entlang rannte.

IV.

Lange Zeit lebte Piero schon in dem ausgestorbenen Haus. Er saß oft in irgendeinem der vielen Zimmer und starrte auf die fremd gewordenen Dinge; nachts schloss er sich ein. Nach und nach hatte er einen Teil der ihm vererbten Sachen vernichtet oder verschenkt, bis die Räume immer leerer geworden waren. Das Haus, in dem er aufgewachsen war, und das ihn früher einmal mit selbstverständlicher Wärme umgeben hatte, erschien ihm nun ein unbewohnter, verlassener Ort zu sein, obwohl er selbst ja noch darin lebte. Aber er erkannte, dass die Einrichtung eines Hauses, nicht nur die Möbel, sondern auch die kleinsten Gegenstände, nur beseelt wurde von den Menschen, die sie ausgewählt und benutzt hatten. Nun aber war sie wieder in den Zustand der Besitzlosigkeit zurückgefallen, in Pieros Augen eine Ansammlung verwaister Objekte, die ihm, war er auch der Herr des Hauses, im eigentlichen Sinn nicht mehr angehörten. Was ihm von Kindheit an vertraut gewesen war, umgab ihn jetzt mit Unbehagen. Alles war nun ohne Glanz, erloschen. Und nichts würde das Haus wieder mit Leben erfüllen, so dachte er. Der Tod hatte ihm eine unheilbare Wunde geschlagen. Manchmal, wenn er etwa am geöffneten Küchenfenster saß, ein Buch in den Händen, die Beine lang unter dem Tisch ausgestreckt, und der Duft des Lavendelstrauchs wehte von der Fensterbank herein, dann fühlte er sich wieder für Augenblicke aufgehoben: die Stimmung eines Samstagnachmittags der Kindheit, die Bäume, die großen, alten Bäume des Gartens rauschten im Wind. Er sah vor sich einen frisch gebackenen Erdbeerkuchen auf dem Tisch stehen, beugte sich darüber und ließ den Geruch in seine Nase strömen. Soeben noch hatte er seine Lieblingssendungen im Fernsehen gesehen, und nun würde Mama den Kuchen anschneiden und hinaus auf die Veranda tragen. Und dann würde sie nach Großvater rufen, der irgendwo im Garten arbeitete, verbissen, keineswegs ein gemütvoller Gärtner, sondern immer ein wenig wie im Kampf mit der widerspenstigen Natur, und der wieder zu spät kommen würde, da er eine Arbeit nicht liegen lassen konnte, sie bis zu einem Punkt fortsetzen musste, an dem er halbwegs zufrieden mit seinem Tun war, ganz war er es wohl nie. Schließlich aber saßen sie zu dritt am gedeckten Tisch im Freien, Mama, zum Plaudern aufgelegt, versuchte Großvaters Schweigen aufzubrechen, während Piero einem Bissen Erdbeerkuchen nachschmeckte und die zeitweisen Windwellen im Einklang mit der geschäftigen Stille des Samstags die Gärten und Straßen durchströmten. Das Geräusch eines Rasenmähers aus einem der Nachbargärten empfand er nicht als Störung, sondern als zugehörigen Bestandteil dieser Stunde. Um nichts musste er sich jetzt sorgen, erst am anderen Morgen würde die Sorge langsam wieder in ihm wachsen, da die neue Schulwoche näher rückte und den Sonntag als drohende Wolke verdüsterte. Während er am offenen Fenster saß, stieg noch tiefer Versunkenes empor: seine Mutter, die sang und mit ihm tanzte. Damals war sie noch an sechs Abenden in der Woche als Sängerin in einem Nachtklub aufgetreten. Begleitet von ihrer kleinen Band - Gitarre, Kontrabass, Akkordeon und Schlagzeug - hatte sie sogar einige Platten mit Chansons aufgenommen. Sie war selten zu Hause gewesen in jener Zeit, die von seinem ersten bis zu seinem achten Lebensjahr gereicht hatte. Sein Vater, ein Schauspieler, hatte sich kaum mehr als flüchtig, abhängig von seinen Launen, um ihn und Suzanne, seine Schwester, gekümmert. Die Versorgung der Kinder lag in den Händen der Großeltern, bei denen sie in zwei Zimmern im Dachgeschoss lebten. Erst als die Großmutter starb, gab seine Mutter das Singen bis auf wenige Engagements auf und blieb zu Hause.

Zwanzigjährig war sie aus Deutschland nach Paris gekommen, hatte seinen Vater kennen gelernt und war geblieben. Die Familie seines Vaters, ursprünglich aus Italien stammend, lebte bereits seit einigen Generationen in Frankreich. Piero hatte in seiner Mutter immer eine Französin gesehen. Er erinnerte sich, dass sie ihm, als er ein kleiner Junge war, deutsche Kinderlieder vorsingen wollte, er dies aber nicht gemocht und mit heftigem Kopfschütteln abgelehnt hatte. Am offenen Fenster sitzend dachte er an seine Mutter, die noch ein Mädchen in Deutschland war, und dieses Mädchen rannte, es rannte eine lange, lange Straße entlang, die bloß eine ärmliche Dorfgasse war, es rannte, wohin nur?, während es über ihr heulte und flog, vor allen anderen rannte sie die Gasse hinauf, die eine lange, lange Straße war, vor allen anderen, die Puppe im Arm, ein Pfeifen und Dröhnen über ihr. Und er dachte, dass sie dieses Mädchen geblieben war, bis zu ihrem letzten Tag. Ein anderes Mal saß er auf einer niedrigen Fensterbank im ehemaligen Zimmer seiner Eltern und schaute hinab in den Garten, und Irene war gekommen, hatte ihn dort oben erblickt und ihm gewunken. Als sie dann neben ihm gestanden hatte, waren die Tränen endlich hervorgebrochen. So lange war in ihm verschlossen gewesen, was nun seinen Körper zittern ließ, während er mit verschränkten Armen da saß. Er stammelte etwas von Reue. Wie schwer fiel es ihm über sich zu sprechen. Hatte er nicht Angst, alles würde, durch Worte ans Tageslicht gezerrt, erst zum Schrecken werden? Von einem falschen Leben sprach er und von Schmerzen im Magen, die ihn seit längerem quälten. Alles war falsch gewesen und nun würde er sterben. Besänftigend lächelte sie. Er hätte nicht in dieses Haus zurückkommen dürfen, und er fragte sich, woher diese Angst und diese Verunsicherung kamen, warum er so wenig Vertrauen hatte.

Seine Mutter war in allem das rennende Mädchen geblieben. Beim Einsetzen des barbarischen Heulens hatte sie sofort ihre Puppe an sich gerissen und war gerannt, vor allen anderen, der Mutter, der Schwester, den Nachbarn. Oben, am Ende der von winzigen Häusern gesäumten Straße flüchtete sie sich in den Keller unterhalb der herrschaftlichen Villa italienischen Stils, in der, wie es hieß, Richard Wagner einige Male übernachtet hatte. Nur auf der Bühne, wenn sie sang, hatte sie sich ausruhen können, nur dort war sie sicher gewesen, dass das Heulen und Dröhnen nicht wieder einsetzen würde.

Der kleine Junge saß seitlich der Bühne hinter einem Vorhang und sah seiner im Gesang ruhenden Mutter zu. Vor ihr bewegten sich manchmal Tanzende auf einer weiten, glänzenden Fläche. Und zwischen den Liedern spitzte sie immer ihre Lippen in seine Richtung und er presste die Knie gegen seine gefalteten Hände und tauchte in ihre Augen hinab. Sie erzählte ihm oft von dem Land, aus dem sie stammte, von seinen noch immer oder im Aufbau neu zerstörten Städten, vom Verschwinden des Alten und von der Nichtigkeit des Neuen. Wäre sie nicht seinem Vater begegnet, sie hätte ihre Zeit in Paris vorzeitig abgebrochen. Die nervösen Herzbeschwerden, die sie schon zu Hause so häufig geplagt und ihr manches Schöne verleidet hatten, waren wieder aufgetreten. Der Gang zur Schauspielschule, wo sie eine Freundin abholen wollte - die Rückfahrkarte nach Deutschland hatte sie schon in der Tasche - brachte eine Wende in ihrem Leben. Lässig untergehakt bei einem Mann war die Freundin aus der Toreinfahrt der Schule getreten; ein Café wurde vorgeschlagen. Zu dritt schlenderten sie dorthin. Die Augen von einer Sonnenbrille verdeckt, musterte sie ihn verstohlen, er aber starrte sie immerzu an. Und in der ersten gemeinsamen Nacht hatte er ihr folgendes aus seiner Kindheit erzählt: "Ich ging die stille Landstraße unter der Mittagssonne dahin und schob mein Rad. Rundum zirpten die Grillen in den Wiesen und Feldern, eintönig quietschte der platte Reifen bei jeder Umdrehung. Da sah ich den zwischen den Ähren aufspringenden Mann und sah weitere Männer in dem Roggenfeld, von denen einer stehen blieb, anlegte und schoss, worauf der andere zurückstürzte unter die Ähren." Das hatte sein Vater ihr in ihrer ersten gemeinsamen Nacht erzählt, dachte Piero, sitzend am offenen Fenster. Und hast Du ihm dann erzählt wie Du gerannt bist, vor allen anderen, dem Keller unter der Villa zu, von der Puppe, von den Sirenen? hatte er einmal seine Mutter gefragt. - Nein später erst, später erst habe sie es ihm erzählt. Damals habe sie vor Begierde nicht mehr zu sprechen vermocht. Sie sei so..., in der ersten Nacht also schon, dachte Piero... einmal seien sie aus einem Restaurant verwiesen worden, so die Mutter, heftigen Küssens wegen, in München sei es gewesen, ihre erste gemeinsame Reise. Und Piero dachte plötzlich an Greta Buffon. Richard war ihr also in Rom begegnet. Er fragte sich, ob er Marie und Richard nicht hätte einweihen sollen. In der Grande Arche hatte ihn dieser Zufall sprachlos gemacht. Es hatte doch auch gar keine Bedeutung für die Sache mit Marr. Und das Wirken des Zufalls war ihm ja in der Beziehung zu Greta immer heilig gewesen. Ein Karnevalsfest im Winter des letzten Schuljahres – immer wieder sucht er die Erinnerung an jenen Abend zurückzuholen, doch sie entzieht sich ihm: Greta betritt den Raum, der Freund, mit dem er sich gerade unterhält, flüstert ihm ihren Namen zu, sie trägt ein Pierrotkostüm, die Beine in schwarzen Strumpfhosen, recht grobe Halbschuhe, ihr Haar zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, Punkt auf der Nase, Augen dunkel umrandet, aber er erinnert sich daran kaum mehr, kaum an ihr Gesicht, am wenigsten an ihr Gesicht. Der erste Blick auf sie und sie verzaubert, blendet ihn, und er nimmt sie nur noch wahr als flüchtige, verwirrende Imagination. Später, im Bett liegend, die Hände am Hinterkopf verschränkt, sieht er noch jedes Gesicht dieses Abends wieder, aber ihres nicht, er hat nur die auffällige konkave Wölbung ihres Rückens vor Augen, ihre knabenhafte Figur, ihre marionettenhaften Bewegungen beim Tanzen, das vage Bild eines verkleideten Mädchens, dessen Heimat irgendwo im Reich seiner Kindheit sein muss. Er spricht sie nicht an und verlässt diese Karnevalsfeier dennoch selig, mit einer völlig ungerechtfertigten Gewissheit im Herzen. Milde Luft schlägt ihm aus der Dunkelheit entgegen. Er läuft vorüber an den brach liegenden Tennisplätzen und geht quer über den Rasen des kleinen Parks; der milde, vorfrühlingshafte Wind bewegt die noch kahlen Nachtwipfel der alten Bäume. Vom feuchten Gras steigt der Geruch der weichen Erde auf. Dort, wo der Park sich zu den Vorstädten hin neigt und öffnet, flimmern die Lichter. Er atmet tief, saugt die Nachtluft ein, die nach dem nahenden Frühling riecht. Zwei Monate lang nährt die Erinnerung an ein gesichtsloses, aber wie er glaubt, für ihn bestimmtes Wesen seine tatenlose Sehnsucht. Ihre Aura bildet einen Kokon um ihn. Die Möglichkeit einer Freundschaft mit ihr ist fortan ein Traum, den er hegt, dessen Erfüllung er aber nicht wirklich verfolgt. Es ist bereits entschieden, dass er niemals mit ihr befreundet sein wird, denn er hat sich eine Traumgestalt geschaffen, die nur aus der Distanz geliebt werden kann. Er trifft sie wieder in einem Saal der Universität, wo sie mit einer Theatergruppe auf der Bühne steht, es ist kurz nach Semesterbeginn. Und an einem der folgenden Tage begegnet er ihr dann bei der Einschreibung für einen Kurs der Kunsthochschule. Benommen von diesem Zufall fährt er auf dem Rad nach Hause. Sie würden sich also nun regelmäßig sehen und fast zwangsläufig kennen lernen. Doch in den folgenden Monaten lässt er jede Begegnung mit ihr ungenutzt verstreichen, zwar oberflächlich betrachtet jeweils neue Meilensteine seiner kapitalen Schüchternheit, für jemanden, der tiefer in ihn hätte hineinsehen können aber der notwendige Verlauf einer Zuneigung, die nur unglücklich oder überhaupt nicht sein konnte. So sehr er also daran leidet, dass er nicht den Mut findet sie anzusprechen, so sehr er sich damit quält und sich wegen seiner Schwäche verachtet, er kann, wenn auch unwillentlich, sie nur von fern lieben, um den süßen Wahn zu bewahren, der ihm einerseits das Gefühl einer unbedingten, reinen Liebe und andererseits ein poetisches, unabhängiges Leben schenkt. Alle diese flüchtigen Begegnungen sind für ihn von schicksalhafter Bedeutung. Es gehört zum Wesen seiner Liebe, dass die Begegnungen mit ihr diesen Hauch des Ungewissen, Zufälligen haben. Er hofft zwar jede Minute, die er an der Universität verbringt, darauf, sie zu sehen, aber je unerwarteter er ihre Gestalt zwischen den anderen Studenten erblickt, desto mehr entspricht es dem Wesen seiner Liebe. Höhepunkte sind es denn auch, wenn er ihr völlig überraschend außerhalb der Universität, an irgendeinem anderen Ort der Stadt begegnet. Es kommt ihm aber nicht einmal der Gedanke, sie zu verfolgen, um in ihrer Nähe bleiben oder ihre Wege ausfindig machen zu können. Nach einer gemeinsam gehörten Vorlesung geht sie in die eine Richtung davon und er in die andere. Er hat es seit je meist dem Zufall überlassen, ob er ein Mädchen, in das er verliebt ist, sehen wird oder nicht. Dieses Moment der Überraschung birgt für ihn einen ganz besonderen Reiz.

Niemals fährt er mit einer früheren Metro oder postiert sich an irgendeiner Ecke, um seinem Glück nachzuhelfen. Auch weiht er niemanden in seine Gefühle ein. Selbst als er Suzanne mit Greta zusammen sieht, eine Entdeckung, die ihn für Tage besinnungslos vor Angst macht, wagt er es nicht, sich seiner Schwester anzuvertrauen, die ihn ja mit Greta hätte bekannt machen können. Einmal fahren er und Suzanne an einem Junisonntag ans Meer. Während einer stundenlangen gemeinsamen Strandwanderung hat er nur den einen Gedanken, nämlich sie um Hilfe zu bitten. Doch er vermag es nicht ihn laut werden zu lassen. Schweigend wandern sie nebeneinander her über den Sand. Verzweifelt sitzt er auf der Rückfahrt im Wagen, den Suzanne zurück nach Paris steuert. Vor was hat er Angst? Später wird ihm klar, dass er jeden Schritt vermeidet, der seine Träume mit der Realität konfrontieren könnte; er will nicht aufwachen. Nur diese unglückliche Liebe will er ja, eine reine, einseitige, geheimnisvolle Liebe. Ein Wort zu Suzanne aber würde ihn sofort auf den Boden der Tatsachen holen, er würde erfahren, dass Greta einen Freund hat und er bei ihr völlig chancenlos wäre. Und so vergehen die Wochen, die Monate. Das Höchste ist es, sie in einem neuen Kleid zu sehen. Dies beschäftigt ihn dann für einige Tage, in denen er sie nicht sieht. Einmal trägt sie ihre langen, dunkelbraunen Locken mit vielen bunten figürlichen Spangen aufgesteckt und er sieht sie in einer überfüllten Vorlesung, in der sie seitlich vor ihm auf den Treppenstufen sitzt, ihren Nacken. Ein Paar neuer Ohrringe, die Entdeckung, dass sie manchmal eine Brille trägt, so etwas genügt, um ihn zu entflammen; davon zehrt er wochenlang. Sie geht an ihm vorbei in einem leichten, luftigen, dunkelblauen Trägerkleid, aufrecht, unnahbar, und er hält dies dann für einen Augenblick, den er nie vergessen wird. Nach zwei Jahren geschieht folgendes: in der Pause einer Theateraufführung läuft sie ihm im Foyer über den Weg. Ihre Blicke treffen sich und sie lächelt ihm zu oder lässt sogar ein kurzes Grußwort, ein knappes "Hallo" fallen, welches er verstört erwidert. Womöglich haben sie seine flehenden, liebeswunden Augen einfach zu dieser Höflichkeit gezwungen. Irgendwie kennt sie ihn ja auch vom Sehen, waren sie nicht schon einmal zusammen in einem Kurs? In der folgenden Nacht schläft er nicht, eine solche peinvolle Angst hat er niemals zuvor in seinem Leben ausgestanden. Er ist davon überzeugt, dass er sie am nächsten Morgen wiedersehen wird und dann ansprechen muss, da ja nun einmal der Anfang gemacht ist und sie nun diesen Schritt von ihm erwartet. Statt Seligkeit, von ihr wahrgenommen worden zu sein, ist da aber nur noch Angst, die mit dem hellen Tag noch zunimmt. Kaum noch bei Sinnen fährt er zur Universität. Er taumelt in die Fakultät, will nur noch erlöst werden von dieser Not, die ihm die Kehle zuschnürt. Er gesteht es sich nicht ein, aber er hofft, sie nicht zu sehen. Doch eine vorzeitige Flucht lässt er sich nicht durchgehen. Erst am Nachmittag fährt er wieder nach Hause, erleichtert und ernüchtert, natürlich auch müde. Als er eine Woche später auf sie zugeht und sie anspricht, sie bei ihrem Namen nennt und sich ihr als Suzannes Bruder vorstellt, da bebt seine Stimme kaum. Er ist überrascht, dass sie grüne Augen hat und keine blauen, wie es ihm immer erschienen war. In der Nähe, mit dem ersten an sie gerichteten Wort, hat sich ihr Gesicht sofort verändert, gleichsam ausgeleert, es ist nicht mehr das Gesicht, das er angebetet hat; etwas Kaltes, Unbehagliches liegt nun darin. Sie ist entzaubert. Der neue Eindruck ist für ihn nicht ohne Enttäuschung. Aus dem verklärten Wesen ist eine ihm plötzlich sehr fremde Frau geworden, die in ihrer eigenen, ihm unzugänglichen Welt lebt. Der von ihm gewobene Schleier ist zerrissen. Nachdem sie sich nach einem kurzen, belanglosen Dialog voneinander verabschiedet haben, sitzt er eine Weile später im Zeichenkurs, sein Kopf kühl und klar wie seit langem nicht mehr. Bei ihrer nächsten Begegnung erfährt er, dass sie das Malerei-Studium aufgeben und an eine Schauspielschule in London wechseln wird; nebenbei werde sie wie bisher als Model arbeiten. Welche Ironie des Schicksals, dass sie ihm kurz nachdem er sie endlich kennen gelernt hat, schon wieder entrückt wird. Schließlich ist sie verschwunden. Die räumliche Trennung bewirkt, dass das alte ihn bezaubernde Bild von ihr wieder an die Stelle der erlebten Wirklichkeit tritt. Nach einigen Wochen sinnloser Sehnsucht schreibt er ihr, gibt ihr einen kurzen Abriss seiner Liebesgeschichte. Es ist kein leidenschaftlicher Brief, sondern ein recht überlegtes, vorsichtiges, fast altmodisches Liebesgeständnis. Die Antwort lässt lange auf sich warten, doch dann hält er ihren Brief endlich in Händen. Sie teilt ihm freundschaftlich, aber mit Nachdruck mit, dass sie nicht in ihn verliebt sei. Er hat kaum anderes erwartet. Ein Jahr später - er hat ihr nicht wieder geschrieben, sie aber auch nicht vergessen - zieht es ihn zu einem großen Volksfest im Park eines alten Schlosses, weit draußen im Wald von Fontainebleau. Es ist mehr als eine Vorahnung, was ihn leitet. Seine Gewissheit, ihr dort zu begegnen, ist so stark, dass er sich wie eine Marionette fühlt, von unsichtbarer Hand zwischen den Imbissständen, Verkaufsbuden, Musik- und Zirkusbühnen umhergeführt. Immer wieder und wieder, bis er, gerade als er das Fest schon verlassen will, in einiger Entfernung, vor ihm liegt ein dunkler, leicht abfallender Wiesenhang, an einer erleuchteten, weiß gestrichenen Bretterbude Greta im Kreis einiger Männer erblickt. Überwältigt von seiner Vorahnung oder der Macht des Zufalls geht er wie in Trance auf sie zu. Sie steht mit dem Rücken zu ihm, sieht ihn nicht näherkommen. Er berührt sie leicht am Arm. Sie scheint nicht erschrocken, nicht einmal überrascht zu sein. Als sie sich zu ihm umdreht, ist es, als öffne sie sich ihm, strahlender denn je, während er für die Geräusche und Bewegungen des Festes augenblicklich ertaubt, und nur sie wahrnimmt, die aber, als sie ihn erkennt, auch schon ihren hell bekleideten Körper strafft und ihn mit der gnädigen Wendung, er könne sie ja einmal anrufen, abschüttelt. Dann sieht er seinen Schritten über die schwankende Rasenfläche zu, die ihn an dem gedämpften Lärm und den fließenden Lichtern vorbei und hinaus aus dem Park tragen. Sein Auto fährt ihn fast ohne Halt, sanft und gleichmäßig rollend, durch leere Straßen nach Hause. Am nächsten Tag ruft er sie an, und sie verabreden sich. Sehr pünktlich steht er am Abend darauf vor der Eingangstür eines Hauses in der Nähe der Bastille und sucht ihren Namen auf den kleinen Metall-Schildern neben den Klingelknöpfen. Er läutet, ein- zwei- dreimal. Nichts geschieht. Er blickt die Straße hinauf und hinab, dann läutet er nochmals. Wieder keine Antwort. Ungläubig drückt er ein weiteres Mal auf den schwarzen Knopf. Die Sprechanlage bleibt stumm, die Tür verschlossen. Er tritt etwas zurück und schaut an der Front des Hauses hinauf. Dann geht er auf die andere Straßenseite und blickt zu den Fenstern empor, hinter denen er ihre Wohnung vermutet. Verleugnet sie sich? Ist sie nicht zu Hause? Mit Absicht oder weil sie die Verabredung vergessen hat? Er geht wieder zurück zum Eingang und läutet fest und lang. Dann lauscht er auf die Stille, die ihm von innen entgegenschlägt und wartet. Er wartet. Plötzlich hört er Schritte im Treppenhaus. Das schwere Holzportal wird geöffnet. Ein junger Mann kommt heraus, eine Tasche unter dem Arm, fragt noch kurz, ob er Piero helfen könne, der aber bloß den Kopf schüttelt; der junge Mann läuft rasch davon. Langsam fällt die Tür zurück ins Schloss. Gerade noch fasst er nach dem Griff, verhindert das Einschnappen des Bolzens, und zwängt sich hinein. Das Treppenhaus ist eng und dunkel, Licht dringt nur durch ein Glasdach in der Höhe über die Etagen hinab. In einem Winkel unter der Treppe steht ein mit einer roten Plane abgedecktes Fahrrad. Er lupft die Plane etwas an. Es ist Gretas Rad. In einem der oberen Stockwerke wird eine Tür geöffnet. Er springt zur Eingangstür. Als sie hinter ihm zuschlägt, ist er bereits auf der Straße, die er dahineilt, bis er eine Telefonzelle findet.

The free excerpt has ended.