Read the book: «Die Heimkehr der Jäger», page 2

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"Das ist eine großartige Idee, ein solches Forum der Erde", sagte er nach einer Weile, "aber ich kann mich nicht ohne eine gewisse Melancholie darin bewegen. Es ist nicht etwa eine Sehnsucht nach all diesen Ländern, sondern nach einer anderen Zeit, als jeder Ort noch ein Geheimnis war. Denke an die großen Kulturen, die nichts voneinander wussten, getrennt durch Meere, Wüsten, Berge. Indianische Zelte stehen inmitten von Wellen hohen Grases, ein italienischer Künstler zeichnet der Stadt Florenz den Entwurf für einen Turm, mühselig treibt ein Bauer sein Lasttier in ein Tal zum Mount Everest hinauf, dem er einen anderen Namen gibt und von dem er nicht weiß, dass er die höchste Erhebung der Erde ist; einige tausend Kilometer südlich versinkt ein Mann in tiefes Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; in einer Savanne Ostafrikas rennt eine Gruppe von Jägern, mit langen Speeren bewaffnet, auf ein Rudel Antilopen zu; irgendwo am Amazonas, umgeben vom undurchdringlichen Pflanzenlabyrinth starrt ein Indio, dahingleitend in seinem Boot, auf den in der Dämmerung brütenden Strom und hat nur einen Gedanken: wohin fließt dieses Wasser?" -

"Und heute wird alles gleichgeschaltet", fuhr Piero mit brüchiger, immer wieder stockender Stimme fort, "die verbleibende Wildnis wird zum Abenteuerspielplatz erklärt. Rund um die Erde sind Anzug und Krawatte die Uniform der Politiker und Geschäftsleute, eine grauenhafte Eintönigkeit und Geschmacklosigkeit breitet sich aus. Die Vielfalt, die Klarheit und die Poesie verschwinden. Insofern ist das hier" - und er deutete in die riesige Halle, in deren Mitte sich der Globus drehte - "eine nostalgische Veranstaltung, eine Gaukelei, vielleicht aber auch eine Utopie. Könnte es nicht sein, dass es uns in nicht ferner Zeit gelingt, unser Leben neu einzurichten. Vielleicht wollen wir einmal keine Sklaven des Geldkreislaufs mehr sein, die mit allen Mitteln bei Laune gehalten werden. Wir alle sind doch willenlos, betäubt von den Spielzeugen, die wir uns geschaffen haben. So vielen ist der Sinn ihrer Arbeit nicht mehr einsichtig."

Er atmete tief ein. Marie sah ihn verwundert an. Während seiner seltsamen Rede hatte sie die Kellnerin herbeigerufen und sich noch eine Tasse Tee bestellt.

- "Entschuldigen Sie! Darf ich mich setzen?" sagte plötzlich eine fröhliche Stimme. Marie und Piero blickten beide zugleich auf.- "Darf ich mich setzen", wiederholte Maries Detektiv und saß im gleichen Augenblick schon, indem er sich einen Stuhl vom Nebentisch heranzog und rittlings darauf niederließ, so als geselle er sich wie ein alter Freund zu ihnen. Piero sah Marie an. Ihre Wangen waren leicht gerötet. Die Pupillen ihrer blauen Augen hatten sich zu kalten Punkten zusammengezogen. Marie griff nach ihrer Teetasse und führte sie zum Mund. - "Richard Cawthra", stellte sich der Gast zu Piero gewandt vor und schaute sie abwechselnd beide freundlich und offen an. Er drückte den Stummel einer Zigarette in einem Aschenbecher aus. Da Marie schwieg, nannte Piero selbst seinen Namen, was ihm von ihr einen bösen, funkelnden Blick eintrug. - "Diese kleine Beschattung tut mir leid", sagte Cawthra und nickte dankend der Frau im Seidenkleid zu, die ihm unaufgefordert eine Tasse Tee gebracht hatte. - "Ich habe hier noch einen Brief von ihrer Mutter, Mrs. Amber Malone", fuhr Cawthra fort, "ich vergaß es, ihn Ihnen bei unserer ersten Begegnung zu geben." Er fasste in die Innentasche seiner lange getragenen Lederjacke, zog einen hellblauen Briefumschlag hervor und reichte ihn Marie.

"Darin wird hoffentlich einiges erklärt", sagte er, "möchten Sie ihn nicht lesen?" Da Marie den Brief nicht anrührte und schwieg, legte er ihn vor sie auf den Tisch. "Warum haben Sie mich wieder verfolgt", fragte sie plötzlich. Cawthra spitzte kurz die Lippen, was seine Wangen sehr hohl werden ließ.

- "Ich war ungeschickt", sagte er. "Sie hätten es gar nicht bemerken dürfen. Und ich war unsicher, ob ich mich Ihnen noch einmal nähern sollte. Ich gebe zu, es wäre nicht nötig gewesen, dieses Versteckspiel. Aber lesen Sie einfach den Brief." Marie riss den Umschlag auf und überflog die beiden Blätter. Dann rückte sie mit dem Stuhl etwas zurück und las langsam folgende Zeilen:

- "Engelchen,

der junge Mann, der Dir den Brief überbringt, ist von der New Yorker Detektivagentur Melville, Sands & Harper. Er soll Dir helfen, Deinen Vater zu finden. Ich weiß, dass Du jetzt verärgert bist. Du glaubst, ich ließe Dich überwachen. Aber das ist nicht wahr. Meiner Ansicht nach brauchst Du eine professionelle Hilfe. Ich will Dich nicht bevormunden. Sprich einfach mal mit Mr. Cawthra. Er hat übrigens schon einiges herausgefunden. Du kannst Dir kaum vorstellen, welche Möglichkeiten eine solche große Agentur hat. Mit Carl Harper bin ich, wie Du weißt, seit vielen Jahren befreundet. Als ich ihn vor einigen Wochen auf einer Vernissage drüben in Williamsburg traf - dort hat sich jetzt eine Künstlerkolonie etabliert - und ihm von Deiner "Grand Tour" und ihrem Zweck erzählte, schlug er mir sofort vor, sozusagen Klient bei ihm zu werden, auf Kosten der Firma. Du liegst mir also auch nicht auf der Tasche. Natürlich werde ich Mr. Cawthra für seine Arbeit, ob Ihr Erfolg habt oder nicht, etwas zukommen lassen. Betrachte mein Eingreifen auch als einen Akt der Reue. Es war falsch, Dir das Schicksal Deines Vaters so lange zu verschweigen. Ich hätte damals, als er verschwand, etwas unternehmen müssen. Aber ich hasste ihn so und war zugleich noch immer so närrisch verliebt in ihn; ich verzieh ihm sein Verschwinden erst nach Jahren, in denen ich ihn aus meiner Erinnerung gelöscht hatte. Deine wachsende Ähnlichkeit mit ihm ließ mich aber bald immerzu an ihn denken. Bitte, lass Dir von Mr. Cawthra helfen. Zu Hause ist es wie immer im September ganz, ganz wunderbar. Das Licht in den Straßen ist überwältigend schön, alles funkelt, flirrt, glänzt. Letzten Samstag war ich mit Merle Nicholson im E.A.T.-Cafe´ frühstücken. Anschließend gingen wir ins Metropolitan. Ich war seit Jahren nicht mehr dort. Am besten gefiel mir ein Hockney: eine japanische Vase mit einer weißen Blume steht auf einem Fensterbrett, in der Ferne steigt eine weiße Bergspitze aus dem Blau, dessen Schattierungen den Mittelgrund füllen, empor, offenbar der Fuji. Du kennst das Bild sicher. Louise ist gerade zu Besuch. Sie hat Aussichten auf eine kleine Rolle in einem Film mit Harrison Ford. Lass Dich umarmen kleiner Indiana Jones und verzeih mir. Melde Dich bald, Mummy."

Während des Lesens zog Marie mehrmals ihre runde Stirn in Falten. Einmal spielte kurz ein abschätziges Lächeln um ihren Mund. "Also, Herr Detektiv, was haben Sie Neues zu berichten", sagte sie, nachdem sie die beiden Briefbögen wieder in den blassblauen Umschlag gesteckt hatte und sah den Überbringer herausfordernd an. - "Zunächst sollten Sie mir sagen, ob ich Ihnen bei der Suche helfen soll," sagte Cawthra ruhig, "mein Auftrag lautet vorerst nicht, den Aufenthaltsort ihres Vaters herauszufinden, auch wenn dies vielleicht ihre Mutter von mir erwartet. Ich könnte zwar auch in dieser Richtung tätig werden, aber meine Direktive war bisher, Sie zu beobachten und im Notfall einzuspringen. Daran halte ich mich seit drei Wochen. Zunächst wartete ich in London, bis Sie sich aus irgendeinem Hotel bei ihrer Mutter melden würden. Als dann ihr Anruf aus Barcelona kam, gab man mir sofort Nachricht und ich nahm ein von unserer Agentur gechartertes Flugzeug. Nun, und dann ging es über Nimes und Aix bis hierher nach Paris. Am Cours Mirabeaux in Aix saß ich einmal unter den Platanen neben Ihnen im Café. Dass ich mich nun zu erkennen gegeben habe, könnte mir Ärger einhandeln. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit mehr, in dieser Sache voran zu kommen. Diese Beschattungen liegen mir nicht. Sie haben ja heute gesehen, wie dumm ich mich dabei anstelle. Von wann stammt denn das letzte Lebenszeichen Ihres Vaters?"

- "Von vor fünf Jahren", sagte Marie, "damals erschien im Wissenschafts-Magazin "Experientia" ein Aufsatz von einem Joseph Berlin, möglicherweise sein Pseudonym."

Cawthra lächelte. - "Der Aufsatz wurde der Zeitschrift von einem Londoner Rechtsanwalt zugeschickt", sagte er, "wir arbeiten oft mit dieser Kanzlei zusammen. Ich traf mich mit einem der Mitarbeiter. Erst wollte er nicht damit heraus, doch dann erfuhr ich, dass ihnen das Manuskript aus Rom zugeschickt worden war, Absender unbekannt, nur ein Postfach war angegeben. Wie kommen Sie aber darauf, dass Joseph Berlin und ihr Vater identisch sein könnten?"

"Es gibt noch eine Reihe weiterer Aufsätze von diesem Berlin", erwiderte Marie, "teilweise zwanzig und mehr Jahre alt. Niemand hat Berlin je getroffen. Beim "Science Magazine" hieß es, Wissenschaftler würden zwar in der Regel nicht unter einem Pseudonym ihre Texte veröffentlichen. In Berlins Fall deuteten aber Stil und Gehalt auf einen Physiker von Rang hin, der nur hin und wieder veraltete Wendungen benutze und sich kaum auf jüngste Entwicklungen des Fachs beziehe. Ich gebe zu, es ist nur eine Vermutung, doch warum sollte ich ihr nicht nachgehen."

"Ja, warum nicht", sagte Cawthra. Er zog ein schwarzes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor, blätterte darin und fuhr in raschem Tonfall fort: "In Rom war ich nicht sehr erfolgreich. Im Bus befreite mich ein Taschendieb von einigen zehntausend Lira. Das Postfach wurde für eine Greta Buffon geführt, wohnhaft Via Bramante,... Was ist denn?" Cawthra wandte sich plötzlich an Piero, der mit einem unverständlichen Laut und einer kuriosen, ziellosen Armbewegung beider Blicke auf sich gelenkt hatte. - "Entschuldigung, ich glaubte Sie wollten etwas sagen." - Piero schüttelte den Kopf. - "Fahren Sie ruhig fort", sagte er zu Cawthra. - "Also gut, sie war Schauspielerin oder Fotomodell von Beruf, Mitte zwanzig vielleicht. Sie lud mich zu einem Espresso ein; erklärte mir, nie irgendetwas nach London geschickt zu haben. Sie kenne weder einen John Marr noch einen Joseph Berlin. Sie sah hinreißend aus und log mich kalten Herzens an. Ich kam bei ihr nicht weit, in keiner Beziehung." Marie starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen vor sich hin. - "Ich dachte mir dann: Alter Junge, Du musst zurück zum Ausgang der Geschichte. Also fuhr ich nach Washington. Beim CIA legten sie mir natürlich auch keinen roten Teppich vor, aber ich fand heraus, dass Marr weder vom Geheimdienst entführt noch verhaftet worden war. Alles deutet daraufhin, dass er aus freier Entscheidung verschwand." - Erst bei diesem letzten Satz sah er Marie fest an. Zuvor hatte er unentwegt wie suchend in seinem Notizbuch vor und zurück geblättert. Sie erwiderte seinen Blick kühl und ausdruckslos.- "Die Spionagestory ist also ein Märchen", sprach Cawthra weiter, "aber was geschah in den Rocky Mountains, in jener geheimen Forschungsstation. Das ist vielleicht die Frage, deren Antwort uns sein Verschwinden erklären würde. Ich vermute, dass ihn dort etwas verstörte oder ängstigte, und dass er für eine Weile allein sein wollte, vielleicht nur für ein paar Tage, ein paar Wochen, aber dann wurden fast vierzig Jahre daraus. Bloß warum? Fand er Geschmack an diesem abgeschiedenen Leben oder hatte er gewichtige Gründe, nicht zurückzukommen, im Verborgenen zu bleiben? Es muss nicht sein, dass er wie ein Robinson lebt. Vielleicht hat er jahrelang das Postamt von Sumatra, Montana, geleitet und ist nun in Pension, sitzt auf der Veranda seines Häuschens und guckt in seinen Vorgarten, wo die von ihm gepflanzten Astern blühen." - "Sie wissen selbst, dass es so nicht ist", sagte Marie humorlos und zu Piero gewandt: "Lass uns weitergehen. Kommst Du?" Sie rief die Asiatin, doch Cawthra bestand darauf zu bezahlen. Marie schenkte ihm noch ein gereiztes Lächeln und lief davon.

Piero folgte ihr. "Findest Du nicht, dass er ein wenig zu arrogant ist. Er scheint sich wunderbar über uns zu amüsieren. Und dann noch dieses mickrige Musketierbärtchen und das Gel im Haar!" Marie lehnte mit verschränkten Armen in einem Winkel des Aufzugs, der sie hinauf zur Dachterrasse des Riesenquaders trug. "Mir war er nicht unsympathisch", sagte Piero, "und er scheint Dir wirklich helfen zu wollen." – Doch Marie schnaubte verächtlich und starrte düster vor sich hin. Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, ließ sie Piero ohne ein weiteres Wort stehen.

Die Nachmittagsluft war mild. Selbst in dieser frei ausgesetzten Höhe blies der Wind sanft, strich warm um die Köpfe und hatte sich auf seinem Weg über Land noch Meeresduft bewahrt. Bald tauchte Cawthra wieder auf und lehnte sich neben Marie an eine mit einem hohen Gitterzaun bewehrte Brüstung, über die hinweg sie auf die Stadt sehen konnten. "Beantworten Sie mir noch ein paar Fragen", sagte er, "danach verschwinde ich, wenn Sie mögen, für immer." Ein kurzes Lachen entfuhr ihr.

"Sie sind hartnäckig, nicht wahr. Verstehe schon, rein beruflich." Cawthra wunderte sich über die Wandlung in ihrem Gesicht und fragte sich, warum sie so plötzlich ihre abweisende Haltung fallen zu lassen schien. Er neigte dazu, es allein seinem Charme zuzuschreiben. Sie sah ihn an und sagte: "Als meine Mutter ihren Widerstand aufgegeben hatte, ermüdet von meiner Entschlossenheit, Vater zu suchen, gab sie mir ein Tagebuch, das er ihr einmal geschenkt haben soll. Er hat es mit 22 Jahren während einer Europareise geschrieben, die er in Begleitung eines Freundes unternahm. Mutter sagte mir, sie habe nie eine Zeile darin gelesen, aber vielleicht werde es mir ja helfen und ihn mir näher bringen. Es erschien mir seltsam, dass er ihr dieses Buch überlassen hatte. Sie hielt es für aussichtslos, nach ihm zu suchen. Ich schlug das Heft auf, ein schwarzes Schulheft mit karierten Blättern, und mein erster Gedanke war, dass sich darin ein Hinweis auf den Aufenthaltsort meines Vaters verbergen könnte. Ich setzte mich in den Lesesessel in meinem Zimmer, las es in einem Zug durch und beschloss dabei, seine Reise, soweit es nur möglich war, nachzuahmen. Ich wollte die gleichen Orte wie er aufsuchen, in den gleichen Unterkünften übernachten, sofern es sie noch gab, und mir mehr Zeit nehmen, als ihm damals zur Verfügung stand, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Auf dieser Reise befinde ich mich noch. Ich war in der Schweiz, in Irland, Spanien, Portugal und Südfrankreich. Von dort, wie Ihnen ja bekannt ist, kam ich vor drei Wochen nach Paris. Glücklicherweise lernte ich dann Piero kennen, der mich bei zwei Freundinnen von ihm unterbrachte. Es gefällt mir dort so gut, dass ich Paris nicht mehr so bald verlassen möchte. Ich wünschte, ich könnte meinen Vater in einer der Straßen dort unten finden."

- "Sie haben sich aber nicht genau an seine Route gehalten", sagte Cawthra, "er fuhr nämlich zunächst nach Deutschland."

- "Woher wissen Sie das?" rief Marie. Sie war erschrocken; der ängstliche Ausdruck ihrer Augen entging ihm nicht.

"Ich habe mit dem Freund ihres Vaters gesprochen, der ihn auf der Reise damals begleitet hat", sagte Cawthra, "er wohnt in London."

- "Aber Mutter sagte mir doch, sie wisse nichts über ihn."

"Ich habe es auch nicht von ihrer Mutter erfahren. Bevor wir solch einen Fall angehen, erstellt eine eigens dafür zuständige Abteilung unserer Agentur eine möglichst lückenlose Biographie der gesuchten Person bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie verschwand. Es war nicht schwierig auf Mr. Goldberg zu stoßen. Ihr Vater und er waren schon in Deutschland Freunde, während der Zeit der Diktatur. Irgendwann während des Krieges verloren sie sich aus den Augen, denn Goldberg ist Jude und wurde deportiert. Er überlebte. Ende der vierziger Jahre trafen sie sich zufällig in Cambridge wieder. Sie saßen im gleichen Seminar. Als der Dozent in der ersten Sitzung die Teilnehmer aufrief, fiel irgendwann der Name Goldberg. Ihr Vater saß einige Bankreihen hinter ihm und muss wohl während der weiteren Namensverlesung auf Goldbergs Hinterkopf gestarrt haben, denn als schließlich der Name John Marr und das bestätigende "Ja" durch den Raum schallten, drehte sich Goldberg, der ja nur einen Johannes Maar gekannt hatte, unwillkürlich um, und ihre Blicke trafen sich. Es ist meist leicht, die besten Collegefreunde einer Zielperson herauszufinden", schloss Cawthra seinen Bericht und es klang nicht arrogant, sondern besänftigend, als er dann sagte: "Sie haben gar nicht daran gedacht, Goldberg zu besuchen. Sie konnten es nicht einmal, denn im Tagebuch steht wohl nur der Vorname Daniel."

- "Nein, er nennt ihn Dan oder auch Ben", sagte Marie. Mit einer abrupten Bewegung entfernte sie sich einige Schritte von ihm. Er blieb an die Brüstung gelehnt stehen und sah ihr zu, wie sie umherging. Es war, als wolle sie mit jeder Geste ihre Unabhängigkeit beweisen. Ihre kindliche Schroffheit amüsierte ihn. Sie war von einer Aura des Unbehausten umgeben, die sich tief aus ihrem Inneren nährte, doch zugleich auch nur ein Habitus sein mochte, den sie vielleicht schon vor Jahren am Ausgang der Kindheit angenommen hatte. Er folgte ihr nicht und wartete, zündete sich eine Zigarette an. Es war wie ein Spiel und Cawthra war sicher, dass er es gewinnen würde. Tatsächlich schlenderte sie nach einer Weile zu ihm zurück, und er bemerkte die Verunsicherung im Blick ihrer verschatteten Augen.

Piero, der von einer anderen Seite aus in die Tiefe geschaut hatte, schloss sich ihnen wieder an. Ein Gespräch über Sehenswürdigkeiten in Paris, über besuchenswerte Lokale und neueste Filme entwickelte sich. Gemeinsam verließen sie die Grande Arche. Unter der Wolke hatten die Vorbereitungen für ein Rockkonzert begonnen, das am Abend des folgenden Tages stattfinden sollte. Sie gingen die Freitreppe hinab und über den Platz von La Defense auf das jetzt still stehende Karussell zu. Von dort blickten sie noch einmal zurück. Der monolithische Bau wäre würdig gewesen ein Tor zu einer anderen Welt zu sein. Trotz seiner vollendeten geometrischen Klarheit verwies er auf ein Geheimnis, kündete von einer unsagbaren Hoffnung. Es war, als wolle diese Architektur mit revolutionärer Unbedingtheit ihre Utopie gegen alle realen Widerstände durchsetzen.

Sie blieben neben dem Karussell stehen und Cawthra sagte plötzlich leichthin: - "Ich glaube, dass er in Italien lebt."

Marie schwieg und starrte auf die grauen Steinplatten unter ihren Füßen. - "Bloß eine Intuition", sagte Cawthra, "ich werde morgen noch einmal nach London fahren und mit Goldberg sprechen. -

Möchten Sie mitkommen?" fügte er in möglichst beiläufigem Ton hinzu. - Marie zögerte: "Warum... " - sie blickte noch immer zu Boden - "Ich dachte dies sei nicht ihr Auftrag."

"Sie wollen also ihren Vater weiterhin allein suchen? Sie glauben ihn zu finden, indem sie Europa kreuz und quer bereisen und dabei in einem alten Tagebuch lesen?"

Piero nickte Marie aufmunternd zu, doch sie sah ihn überhaupt nicht an und ging rasch davon in Richtung einer Metrostation. Als die beiden sie wieder eingeholt hatten, hob sie mit einem Ruck wie in plötzlicher Entschlossenheit den Kopf und sagte: "Nein! Sprechen Sie allein mit ihm. Ich kann Sie ja doch nicht davon abhalten. Hauptsache, Sie verfolgen mich nicht mehr."

- "Wir könnten uns dann spätestens Samstag wieder treffen", sagte Cawthra.

"Ja, kommen Sie zu Carla", doch als er sofort zustimmend nickte, rief sie: "Ach, Sie kennen ja gar nicht die Adresse!" Cawthra verzog Augenbrauen, Wangen und Mund zu einer Grimasse. Aus Marie brach prustend ein schallendes Lachen hervor, was ihr seit langem nicht mehr widerfahren war.

"Nehmen Sie es mir nicht übel, wir sind nun mal eine der besten Agenturen Amerikas und außerdem - nennen Sie mich doch Richard, Sie auch Piero. Bis zum Samstag. Ich rufe an", - und er war die Treppe zur Untergrundbahn schon halb hinab gesprungen, da drehte er sich nochmals um, winkte und lief dann erst tiefer hinab.

II.

An jedem Morgen war Irene als erste in der Küche, um die Milchflasche für ihren zweijährigen Sohn zuzubereiten. Carla und Marie schliefen noch. Während Irene auf das Aufschäumen der Milch wartete, trat sie kurz ans Fenster und lauschte auf das gleichmäßige Brausen des Verkehrs, der über den nahen Platz strömte. Ab und an polterte ein Lastwagen beim Überqueren einer Bodenwelle. Dann wieder war ein Hupen zu hören. Gegenüber im Nachbarhaus schlug die Haustür ins Schloss. Jemand hustete und dann hörte sie, wie schwere Müllsäcke zur Straße hinaus geschleift wurden. Gleich mit dem Aufwachen kreisten Irenes noch dumpfe Gedanken wieder um ihre Arbeit. Die immergleichen Wortfolgen schwirrten ihr in den Sinn wie lästige Fliegen. Auch im Schlaf schien ihr niemand diese Last abzunehmen, die sie sich selbst auferlegt hatte. Eine Last, die erst mit den Jahren zur Qual geworden war, seit ihr bewusst war, dass sie ihrem Anspruch nicht würde gerecht werden können. Wie jeden Morgen und Abend füllte sie die Milch aus dem Topf in die Flasche um, schraubte den Deckel zu und stellte die Flasche in einen Behälter mit kühlem Wasser. Seit sie das Kind hatte und sich so viele Handgriffe täglich wiederholten, kam ihr das Leben in vielen Stunden eintöniger vor, doch empfand sie zugleich in Momenten der Besinnung, etwa am Abend sobald sie den Kleinen schlafen gelegt hatte und noch eine Weile im dunklen Zimmer neben seinem Bett lag, jeden Tag als ein Abenteuer, eine mühselige, alle Kräfte beanspruchende Wanderung durch ein unbekanntes Land. Aber diese Entdeckungsreise im Alltag der Erde führte zu keinem Ziel. Sie stieß auf kein weites, grünes Tal mit schimmerndem Bach und zierlichen Uferbäumen, kein Ort des Bleibens tat sich hinter einer Biegung auf, sie fand kein Gold, keinen fremden Eingeborenenstamm, keine pflanzenüberwucherte Stadt. Die Mühe begann jeden Morgen neu. Ich bewege mich im Kreis, dachte sie und setzte Wasser für Tee auf. Seit sieben Jahren arbeitete sie an einer Dissertation über die Anlagen von Segesta. Dabei war ihr aufgegangen, was für eine illusionäre Gaukelei die Wissenschaften sein konnten. Zu Ruhm gelangte man offenbar nur, indem man sein Gewissen ablegte. Um Entdeckungen, Ergebnisse seiner Forschungen bieten zu können, schritt so mancher über Ungereimtheiten hinweg. Sie fügten die Gegenstände in ihren Händen ihren Vorstellungen, nicht umgekehrt. Wie selten war es, dass beide zu Deckung kamen. Irene aber war gewissenhaft. Sie wollte nichts bloß behaupten, sondern alles einwandfrei beweisen. Obwohl sie sah, dass fast alle in ihrem Fach Behauptungen erhoben, blendeten, das Kümmerliche ihrer Beweisketten vertuschten, und dennoch Erfolg hatten, rang sie selbst um Wahrhaftigkeit. Und scheiterte damit immer wieder, da die Wahrheit von Ereignissen, die mehr als zweitausend Jahre zurücklagen, sich jedem Zugriff nun einmal entzog. Sie goss siedendes Wasser über die Teeblätter. Den Wissenschaftlern ist vielleicht zugute zu halten, dass es oftmals ihre Begeisterung für das Fach ist, die sie Schwächen, die übertünchten Brüche ihrer Arbeiten, übersehen lässt. Sie selbst lassen sich dann täuschen von einer nach zermürbenden Gedankenstrecken gewonnenen Erleuchtung, die aber gerade tückischer ist als die seltene, unvermittelte Inspiration, deren Empfänger von ihr überrascht wird, tückischer daher, weil doch niemand von dem offensichtlichen Lohn seiner Bemühungen lassen will, während im anderen Fall das nie Gesuchte leichter auch wieder aufgegeben werden kann. Irene hatte die Begeisterung nur einmal erfahren. Damals war sie - knapp drei Jahre war es her - in Sizilien gewesen. Sie hatte an einer Ausgrabung in Segesta teilgenommen und hatte in den vier Monaten ihres Aufenthalts den Tempel und das Theater untersucht. Immer wieder war sie wie selig und benommen auf den Steinen des etwas unterhalb einer Bergspitze in den Hang gebauten Theaters gesessen und hatte die Freiheit des Schauens genossen. Vor ihr breitete sich die Landschaft wie ein Gleichnis der Erde aus. Das fruchtbare Tal spannte einen weiten Bogen zum Meer hin, umgrenzt von den Küstenbergen, deren sanftes Steigen in schroffe Gipfelfelsen mündete.

Die Berge verschlossen den Raum nicht, sondern öffneten ihn, mehr noch als die nur erahnbare blau-diesige Ferne der Bucht von Castellamare, ins Weltweite. Stundenlang fotografierte und zeichnete sie, machte Notizen, unterbrochen nur von der Siesta, die sie im Schatten eines Baums oder im luftigen Zelt des Ausgrabungscamps hielt. Am Abend dann in dem kargen Zimmer des alten Bauerngehöfts, wo ihre Unterkunft war, bewertete sie ihr Tagwerk, verglich es mit Unterlagen und Büchern, die sie in ihrem Reisegepäck hatte, und breitete ihre Zeichnungen auf den Terrakotta-Fliesen des Bodens aus. Den kleinen Holztisch, der zur Zimmereinrichtung gehörte wie noch eine Truhe, ein Bett und ein Stuhl, hatte sie ans geöffnete Fenster gerückt. Dort las und schrieb sie, während draußen die Zikaden schrillten, begleitet vom leiseren Zirpen der Grashüpfer, und der Himmel über den Wipfeln der Pinien und Kiefern langsam in tiefstes Blau dunkelte. Irene nahm gerade das Teesieb aus der Kanne, als sie ein Trappeln kleiner Füße und dann ein kurzes, empörtes Stöhnen hörte. Da wurde auch schon die Küchentür aufgestoßen und Max stolperte verschlafen herein, ließ sich neben ihr fallen und begann zu weinen. "Ja doch, mein Schatz", sagte sie, "Guten Morgen" und hob ihn auf. In ihren Armen beruhigte er sich gleich, streckte aber eine Hand nach der Milchflasche aus. "Sie ist noch ein bisschen heiß", sagte Irene, worauf Max erneut jammerte. Sie beruhigte ihn, indem sie sich gemeinsam an den Küchentisch setzten und einen Spielzeugkatalog betrachteten. Nach einer Weile gab sie ihm die Milch und trug ihn in sein Zimmer, wo sie ihn, während er trank, auszog und wusch. In einer Stunde schon würde sie wieder über einem Buch brüten, in das sie Hoffnungen gesetzt hatte, das ihr aber in der Frage der im Tempelinneren fehlenden Cella bisher auch nicht weiter half. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, dass sie in einigen Tagen gerade zu diesem Thema innerhalb eines Kolloquiums vortragen sollte. "Errichtet über einer prähistorischen Kultstätte", dachte sie, "der Tempel steht an einer den frühen sizilianischen Einwohnern heiligen Stelle. Das ist nichts Neues. Kein brauchbares Ergebnis. Das haut mir Madame um die Ohren." - Überhaupt Madame Bastide! Von Beginn an hatte sie Irene mit ihren Skrupeln und Zweifeln behindert und gepeinigt. Diese kleinen Briefe, die sie ihr auf ihren Platz in der Bibliothek legte! Meist begannen sie so, ohne Anrede: "Frage: Kann es sein, dass der Tempel zum Schein gebaut wurde, um nämlich die griechischen Nachbarn zu besänftigen? Vorgetäuschte Assimilation wäre das wohl zu nennen. Lesen sie dazu mal Richardson. Gruß Bastide." In dieser Art. Und dann die Sitzungen in Madames kleiner Wohnung in der Rue Vaneau, wo die Wände sozusagen mit Büchern tapeziert waren, sogar über den Türen hingen Regale. Nachmittage in ihrem Arbeitszimmer, die nicht zu enden schienen. Verkrampft saß Irene dort auf der Chaiselongue, im Rücken ein riesiges, besticktes Seidenkissen, das Madame Bastide einmal aus China mitgebracht hatte, Madame Bastide ihr gegenüber auf einem schlichten, ungepolsterten Lehnstuhl, zwischen ihnen ein mit Papieren und Büchern überhäufter niedriger Tisch; in einen ernsthaften Arbeitsdialog, wie es ihre Gastgeberin nannte, verstrickt, saßen sie da mehrere Stunden und ihr wurde es immer unbehaglicher zumute. Madame bot ihr niemals etwas an, weder Kaffee noch Tee, höchstens mal ein Glas Leitungswasser, geschweige denn Gebäck oder Kuchen, nicht aus Unhöflichkeit, es kam ihr einfach überhaupt nicht in den Sinn. Einmal, Irene war schon im Aufbruch, stand im Mantel, Rucksack geschultert, an der Tür, da fragte Madame sie plötzlich: "Sie dürften wohl Hunger haben?" - es klang wie eine Feststellung. "Oh, wir essen ja gleich zu Hause", wich Irene aus, Madame aber hörte ihr gar nicht zu und war schon in die Küche gelaufen. Sie kam mit einem vollkommen runzligen Apfel und einem Stück Baguette zurück, das trocken war, um ehrlich zu sein. "Danke, aber ich mag nur die fast noch grünen Äpfel", sagte Irene, nahm aber das Brot. Madame rümpfte tatsächlich, leicht pikiert durch die Replik, die Nase und sagte: "So, na wie Sie meinen. Auf Wiederschauen dann." Max war nun angezogen. Irene hob ihn hoch in die Luft, schüttelte ihn ein wenig, bis er lachte und stellte ihn auf die Füße zurück. Er blickte zu ihr auf und sagte: "Mama. Nicht arbeiten." - "Doch Max, ich muss arbeiten, und Du musst in die Krippe." - Der Junge nickte kurz und machte sich über eine Säulenhalle aus Bausteinen her, die Irene am Abend zuvor mit ihm gebaut hatte. Max rammte mit einem Bagger einige der Säulen und betrachtete sich dann die Trümmer. Irene war inzwischen in die Küche gegangen, trank dort Tee und aß zwei Scheiben Toastbrot dazu. Obwohl sie frühzeitig aufgestanden war, war sie nun doch in Eile. Sie musste Max noch die Tasche packen und ihm Mantel und Schuhe anziehen. Irgendwie schafften sie es aber, obwohl Max sich sträubte und, immerzu in Bewegung, nach irgendwelchen Dingen in seiner Reichweite griff, rechtzeitig das Haus zu verlassen. Fünfzehn Minuten später saßen sie in der Metro und stiegen an der dritten Station schon wieder aus. Sie kamen nach oben in den Lärm einer in der Morgensonne glänzenden Ausfallstraße. Stadtauswärts schlug sie eine schnurgerade Schneise durch einen Eichenwald. "Hier beginnt Paris", dachte Irene an jedem Morgen und sah sich um; Vorstadtvillen säumten einen seitlich der Straße gelegenen kleinen Park. In den Villen, die früher von Gärten umgeben gewesen waren, hatten sich der Nähe eines Friedhofs gemäß, Blumenhändler und Steinmetze angesiedelt. Pavillons und Verkaufsbuden waren an der Straßenfront der Villen angebaut worden, in den ehemaligen Vorgärten lagerten Grabsteine oder Blumenkästen. Irene ging mit Max auf dem Arm durch den kleinen Park, vorüber an einem von Sträuchern umschlossenen Rondell, zwei Kastanienbäumen und einem Rasenstück. Sie überquerten eine Zufahrt zu einem Friedhof und betraten durch ein altes, schmiedeeisernes Tor den Garten der Krippe. Die scharfen und klaren Klänge des Sommermorgens flossen hinter ihnen zu einem einheitlichen Rauschen zusammen. Feucht und kühl war es unter den Platanen, die den kiesbestreuten Weg zum Haus beschatteten. Die scheckige Baumrinde duftete. Seitlich des Eingangsportals, zu dem drei Stufen hinaufführten, stand eine schlichte unlackierte Holzbank vor der Mauer aus hellem Sandstein. Dort saß Piero, der sich, als die beiden näher kamen, erhob, aber dann unschlüssig stehen blieb. Irene ging ohne ihn eines Blicks zu würdigen zum Eingang hinauf und verschwand mit Max in der Villa.