Wolkenschwäne

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„Wenn es dir nach 36 Jahren nicht gelingt, frage ich mich, wie du von mir Hilfe erwarten kannst.“ Ich schmunzelte und suchte nach einer Eingebung. Wenn ich meinem Vater vorschlug, etwas Besonderes zum Hochzeitstag zu machen, durfte ich ihn jetzt nicht im Stich lassen. Irgendwas musste mir doch einfallen, womit er sie überraschen und ihr gleichzeitig eine große Freude machen konnte.

„Na schön. Mom liebt die ausgefallene, gute Küche. Sie braucht ein wenig Erholung, was euch beiden gut täte. Wie wäre es mit einem Wochenende in einem schönen Wellnesshotel?“

„Wellnesshotel? Aber nicht so was Glamouröses, Liebes. Wir sind keine feinen Leute. Deine Mutter mag es nicht einmal, sich übermäßig herauszuputzen.“

„Weiß ich ja, Dad. Ich gucke mich im Internet mal um und bestimmt finde ich was Passendes. Lass mich nur machen. Die Hauptsache ist doch, ihr kommt mal raus. Habt mal ein bisschen Zeit nur für euch zusammen, ohne dass ihr dabei an den Laden denkt.“

„Stimmt schon, Edie.“

Mein Vater lenkte das Gespräch geschickt weg von dem Thema und ich war ihm nicht mal böse. Auch mein Hochzeitstag näherte sich. Simon und ich hatten am ersten September geheiratet. Vier Jahre war das her. Während es mir so vorkam, als habe er erst gestern noch mit mir zusammen gefrühstückt, lagen die Erinnerungen an diesen Tag, an dem wir uns das Ja-Wort gegeben hatten, tatsächlich weit zurück. Vielleicht hatte ich sie im Unterbewusstsein verdrängt, um mich vor noch mehr Kummer zu bewahren. Mir wollte jedenfalls nicht mehr einfallen, was der Pfarrer bei der Trauung gesagt hatte, oder zu welchem Lied wir getanzt hatten. Ich wusste, dass Sephie an dem Abend auch eine sehr witzige Rede gehalten hatte. Sie war meine Trauzeugin gewesen. Doch selbst an ihre Worte konnte ich mich nicht mehr erinnern.

„Warum erinnern wir uns eigentlich viel besser an die schlimmen Dinge im Leben? Wieso ist das so, Dad?“

„Ach Liebes.“ Er legte seinen Arm um mich, ging aber weiter. „Ich schätze das liegt einfach daran, dass wir Menschen uns viel zu oft an Erinnerungen hängen.“

Als er daraufhin schwieg, knuffte ich ihn in die Seite. „Wie meinst du das? Erklär mir das genauer. Denn ich begreife das Prinzip nicht.“

„Ich bin nicht so gut mit Worten, Edie.“

„Doch bist du. Du weißt, dass du es bist. Du ziehst es vor zu schweigen, statt viel zu reden. Aber wenn du willst, kannst du ganz wunderbar mit Worten umgehen.“

Meine romantische Ader, mein Hang zu träumen und meine Liebe zum Lesen, all das hatte ich jedenfalls von ihm. Und nicht von meiner Mom, die im Leben immer allen praktischen Dingen den Vorzug gab, und nur auf ihre pragmatische Stimme hörte.

„Komm schon Dad. Für mich“, flehte ich und diesmal tat ich es bewusst. Ich wusste ja, dass er meinem Flehen nicht widerstehen konnte. Eine Tatsache, die ich nur im Notfall gegen ihn verwendete. Aber das gerade war so ein Moment, der das Mittel rechtfertigte. Ich musste einfach wissen, wie er das gemeint hatte. Es beschäftigte mich bereits eine ganze Weile, dass ich mich so detailliert an den Tag erinnerte, als die Polizei mich über Simons Unfall informiert hatte. Auch den Tag seiner Beisetzung konnte ich mir ganz genau in Erinnerung rufen. Ich wusste sogar, welcher Psalm gesprochen worden war und was für Blumen auf seinem Sarg gelegen hatten. An all das erinnerte ich mich viel zu klar und deutlich, während unsere Hochzeit oder der Tag, an dem wir uns das erste Mal begegneten, immer mehr verblassten.

„Na schön“, seufzte mein Vater und ich sah zu ihm auf, froh, dass er seinen Arm nicht von meiner Schulter nahm. „Ich finde einfach, dass wir uns zu sehr an Erinnerungen hängen, statt das Glück, was wir so krampfhaft festzuhalten versuchen, jeden Tag aufs Neue da draußen zu suchen.“

Er sah mir nun in die Augen und hielt meinen Blick. „Das Schlimme begleitet uns, weil es unsere Angst widerspiegelt. Es sind oft Erinnerungen von denen wir hoffen, wir hätten sie nie erlebt. Wenn wir traurig sind, wenn wir Angst haben oder es uns schlecht geht, kommen sie in uns hoch. Die Angst beschwört sie herauf. Aber das Glück lässt sich nicht so leicht heraufbeschwören, nur weil wir in dem Moment nach etwas suchen, um die Angst zu vertreiben. Du musst erkennen, dass das Glück ebenfalls dein täglicher Begleiter ist. Alles was du machen musst, ist die Augen öffnen und danach suchen, Edie. Simons Tod war ein schrecklicher Schicksalsschlag und glaube mir, ich habe mehr als einmal mit dem Leben gehadert, dass es so grausam zu euch beiden sein musste. Aber diese Dinge liegen nicht in unserer Macht. Doch nur weil das Leben einmal grausam zu dir war, heißt es nicht, dass es nicht dennoch wunderschöne Wege für dich bereithält. Du kannst wieder genauso glücklich sein, wie vor Simons Tod, wenn du nur danach suchst und dem Glück die Möglichkeit gibst, dich zu finden.“

„Das ...“ Mir fehlten die Worte und ich merkte erst, dass ich weinte, als mein Vater stehen blieb und mir aus seiner Hosentasche ein Stofftaschentuch reichte. Allein der Anblick brachte mich zu einem kleinen Lächeln. Mom änderte sich nie. Sie hielt Taschentücher zum Wegwerfen für unnötigen Müll und weigerte sich diesen neumodernen Unsinn mitzumachen. Sie sah keinen Grund, der gegen die Verwendung von Stofftaschentüchern sprach. Immerhin gab es den Luxus von Waschmaschinen und Trocknern.

Als ich meine Tränen getrocknet und mir die Nase geputzt hatte, lächelte ich meinen Vater dankbar an. „Du hättest auch Therapeut werden können, weißt du das?“

„Nein hätte ich nicht.“ Mein Vater grunzte. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Lachen war oder Ärger, der sich dahinter verbarg. Vermutlich war er beschämt. Er hatte die witzige Angewohnheit seltsam mit Situationen umzugehen, die ihn verlegen machten.

„Warum denn nicht?“, hakte ich nach.

„Weil ich es hasse, mir die Probleme der Leute anzuhören.“

„Aber meine Probleme hast du dir angehört?“

„Das ist etwas anderes. Du bist meine Tochter.“ Er lächelte mich an. „Du darfst mir immer alles sagen. Deinen Ärger und deine Wut an mir auslassen, mir deinen Kummer geben. Liebes, wenn ich könnte, würde ich dir gern den Schmerz abnehmen. Doch leider habe auch ich Grenzen, denen ich mich beugen muss. Wünsche hin oder her.“

„Ich liebe dich Dad. Dich und Mom.“

Er zog mich in eine feste Umarmung und danach gingen wir weiter. Schweigend und so nah beieinander, dass es sich anfühlte, als könnte kein schlechter Gedanke, kein Schatten von Kummer an der warmen und starken Präsenz meines Vaters vorbeigelangen.

„Zumindest mit einer Sache hatte ich recht“, durchbrach ich die Stille, als wir den schmalen Weg hinunter zum See gingen. Wir mussten uns dafür trennen und hintereinandergehen.

„Womit Liebes?“, fragte mein Vater über die Schulter.

„Das in dir ein richtig einfühlsamer und weiser Poet steckt.“

Er lachte laut und heiter und schüttelte gleichzeitig den Kopf. „Einfühlsam vielleicht. Du weißt doch, ich bin in Wahrheit nur ein großer, kuscheliger Teddybär. Aber weise bin ich kein bisschen. Sonst wäre mir längst selbst eingefallen, wie ich Isabel dazu bekomme, sich mehr zu schonen. Oder wie ich meine Angst vor Fremden verliere, so dass deine Mutter nicht nur für mich mitarbeiten muss, sondern auch die Chance erhält, ihre eigenen Wünsche zu verwirklichen. Wäre ich ein Poet, würde ich statt Marmeladen zu kreieren, Bücher schreiben.“

„Das wäre ziemlich interessant, wenn ich die Bücher meines eigenen Vaters verkaufen würde, oder was findest du?“

Mein Dad lachte wieder. „Nein, nein. Die hohe Kunst der Poesie und des Bücher Schreibens überlasse ich anderen Menschen. Ich will meinen Laden für nichts auf der Welt eintauschen. Ich bin sehr glücklich mit meiner Arbeit und meinem Leben. Genau so, wie es ist.“

In seinen Augen stand deutlich, wie wahr seine Worte waren. Er strahlte regelrecht und ich dachte wehmütig, dass ich mir genau das auch für mein eigenes Leben wünschte. Das Gefühl glücklich zu sein, und mein Leben gegen kein anderes eintauschen zu wollen.

Natürlich war ich mit meiner Arbeit und meiner Buchhandlung zufrieden. Da ging es mir wie meinem Vater. Für nichts auf der Welt würde ich meinen Job gegen einen anderen eintauschen wollen. Es war ohnehin der perfekte Beruf für mich, das hatte ich schließlich schon sehr früh gewusst, obwohl Simon das nie richtig verstanden hatte. Er hatte immer nur die harte Arbeit gesehen. Das Schleppen von zu schweren Bücherkisten, die Stunden, die ich stehen musste und die viele Zeit, die ich mit dem Lesen von Büchern verbrachte. Er hatte mein Klagen über Rückenschmerzen, nach einer harten Woche, missverstanden und mir so manches Mal erklärt, dass ich als Geschäftsführerin einfach eine Buchhändlerin einstellen und mich selbst um andere Dinge kümmern konnte. Dinge, bei denen ich keine Rückenschmerzen bekam und nicht jeden zweiten Samstag arbeiten musste. Aber das war auch so ziemlich der einzige Punkt bei dem wir uns nicht einig gewesen waren. Und ich hatte dennoch das Glück gehabt, dass er nicht versucht hatte, mich zu ändern, nur weil er die Liebe zu meinem Beruf nicht verstand.

Es war nicht das, was mir Kummer bereitete. Was mir fehlte war ein Mensch, der sein Leben mit mir teilte. Einen Mann, der mich liebte und den ich liebte. Die Einsamkeit war erdrückend. Die Leere in der Wohnung beunruhigend und die Tatsache, dass ich mich weder bereit für einen neuen Mann fühlte, noch wusste wo und wie ich jemanden kennenlernen sollte, machte das Ganze nicht einfacher für mich. Ich hatte Angst, alleine zu bleiben, gefangen in einer Vergangenheit, die für immer verloren war. Hatte ich all meine Wünsche von Familie begraben, als ich Simon verloren hatte? War das so, wenn man einmal liebte und der gemeinsame Weg dann vom Schicksal getrennt wurde? Gab es keine zweite Chance?

 

Ich wollte es meinem Vater nicht eingestehen, weil ich ahnte, welche Sorgen er sich sonst machte, aber manchmal kam es mir so vor. Selbst nach seinen lieben Worten fühlte es sich so an, als gäbe es für mich keine zweite Chance auf dieses Glück. Als wäre mein Leben an einem Punkt, an dem es in Eis gefroren war, zum Stillstand gezwungen. Und das machte mir größere Angst, als ich bereit war, irgendwem zu gestehen.

Wir erreichten das schmale Stück Wiese, das zur Uferböschung hinabführte. Der Anglersteg lag ein Stück weiter rechts von uns. Da mein Vater seine Ausrüstung nicht mithatte, wollte ich vorschlagen links um den See herumzugehen, aber er führte mich trotzdem in Richtung Steg und ich folgte ihm.

Es war so heiß, dass die Bienen, Wespen und Hummeln träge von Blume zu Blume flogen. Nur den Mücken schien das alles nichts auszumachen. Sie fühlten sich in der Nähe des Wassers und bei der Wärme pudelwohl. Ich machte mir nicht die Mühe sie zu verscheuchen. Ich war nicht so naturbezogen aufgewachsen, aber hatte mich in den letzten Jahren daran gewöhnt.

„Weißt du noch, wie wir hierher gezogen sind?“, fragte mein Vater als hätte er meine Gedanken in meinem Gesicht gelesen. Vermutlich hatte er das. Er war ein aufmerksamer Beobachter, was daran lag, dass er sich bei Gesprächsrunden mit mehr als einer Person gerne zurückhielt und lieber anderen das Reden überließ. Meiner Mutter zum Beispiel, die sehr gerne redete und zu jeder Gelegenheit das passende Thema fand.

„Ja, daran erinnere ich mich sehr gut“, antwortete ich verspätet. „Ich war siebzehn und die Highschool war von reiner Notwendigkeit zu etwas Coolem mutiert. Seit es Partys, Proms und Jungs gab, die Football spielten und dabei plötzlich erwachsen aussahen und nicht wie pubertierende, pickelige, zu schlaksige oder zu bullige Teenies.“

Wie erwartet, brachte ich meinen Vater mit meinen Worten zum Lachen.

„Und dann kam ich und habe dich in diese Provinz geführt.“

„So viel kleiner ist Greeley nicht.“ Das war wahr. Boulder wirkte größer und der Fläche nach war das auch so. Es gab eine zentrale, große Einkaufsmeile, die Pearl Street. Parallel dahinter verlief die Walnutstreet, eine schnuckelige Straße mit alten Geschäften, in der ich jetzt wohnte. Die Sprucestreet umgab das beeindruckende Campusgelände und die Studenten waren es auch, die Boulder so groß und belebt wirken ließen. Am Rand der Stadt gab es auf der einen Seite die 13th Street und 14th Street mit ihren Einfamilienhäusern. Dort war Tamsyn aufgewachsen und Grace und Alec wohnten auch da. Auf der anderen Seite lag die 15th Street und Mahahoe Street, in dem die etwas besser betuchten Bewohner Boulders lebten. In der 15th Street lag zum Beispiel das Gebäude der Stadtverwaltung, ein Kindergarten und eine Primary School und Abygails Praxis. Auch mein Zahnarzt hatte da seine Praxis. Direkt gegenüber von Abby, weswegen ich es gerne hatte, wenn ich meinen jährlichen Check-up bei Abby mit der Kontrolle bei Dr. Warner auf denselben Tag legen konnte.

Greeley war kleiner. Es gab eine kleine Altstadt mit wenigen Geschäften, darum herum Straßen mit Häusern und Wohnungen und am äußeren Rand ein paar Industrieausläufer und dann eben der ländliche Teil. Dort wo jetzt auch meine Eltern ein Haus hatten.

„Als wir hierhergezogen sind, fühlte es sich nicht unbedingt wie die Provinz an. Eigentlich mochte ich Greeley sofort.“

„Wirklich?“ Mein Vater sah mich überrascht an. „Da erinnere ich mich aber anders. Du warst so wütend auf mich, dass du über eine Woche nicht mit mir geredet hast. Die längste und schwierigste Zeit. Deswegen habe ich das auch nicht vergessen.“

„Habe ich dir ein schlechtes Gewissen gemacht?“

„Sehr.“

„Das hast du dir nie anmerken lassen.“

Auch ich erinnerte mich, wie sauer ich gewesen war. Wie Dads dämlicher Traum von einem eigenen Obstgarten und Laden, mich zur Weißglut getrieben hatten.

„Das lag aber nicht an Greeley. Oder an dir. Ich war wütend, weil ich Sephie und meine Freunde verlassen musste.“

„Deswegen hast du dann auch wieder mit mir gesprochen, als ich zugestimmt habe, dass du ein eigenes Auto bekommst und weiterhin in Boulder zur Schule gehen darfst, wenn du selbst dahin fährst.“

„Ja.“ Ich lächelte. Ich hatte Glück, dass ich immer eine vorbildliche Schülerin gewesen war. Meine Lehrer hatten mich geliebt und meinen Wunsch weiter auf der Schule zu bleiben unterstützt, obwohl ich nun nicht mehr in Boulder wohnte. Außerdem war es nur noch ein Jahr gewesen und ein Schulwechsel hätte sich nicht mehr gelohnt.

„Und dann bist du ausgezogen.“

Ich lachte auf. „Ich bin nach meinem Schulabschluss ausgezogen, als klar war, dass ich an der Universität angenommen bin.“

Mein Vater sah mich an. „Das war nach einem Jahr. Für mich war das damals 'sofort'. Es fühlte sich wenigstens so an.“

„Ich war schon immer sehr unabhängig, oder?“

„Ja, das warst du. Deine Mutter hatte immer Angst, dass du einmal einen reichen, gutaussehenden Mann triffst, der aus Denver oder von außerhalb Colorados zum Skifahren herkommt, und das er dich dann wegbringt, sobald ihr geheiratet habt.“

„Wirklich?“

„Ja, sie war der Meinung, irgendwann lebst du mal in einer Großstadt und siehst und erlebst all die Dinge, die wir beide nie erlebt haben.“

„Und nie erleben wolltet“, fügte ich an. „Das stimmt doch, oder?“

„Ja, richtig. Uns hat das Großstadtleben nie gereizt. Um ehrlich zu sein, war mir selbst Boulder immer zu groß und hektisch.“

Das überraschte mich nicht wirklich. Mein Vater mochte seine Ruhe, seine Einsamkeit. Man konnte es sich nur schwer vorstellen, aber für ihn konnte es nicht abgeschieden genug sein. Es war mir immer schon ein Rätsel gewesen, wie ein Mann wie er, den Wunsch haben konnte, einen Laden zu eröffnen.

„Und Isabel liebt es, dass die Tornadogefahr hier geringer ist. Wir hatten schon ein paar Jahre Glück.“ Er sah zum sommerlich blauen Himmel. „Wenn wir Glück haben, hält das noch bis zum Herbst an.“

„Und dann?“

„Dann bekommen wir so richtig was ab. Ich spüre das in den Knochen.“

Das war der Nachteil, der uns umgebenden, wunderschönen Natur. Die Tornadogefahr war in Colorado nicht zu vernachlässigen. Gerade im Landstrich um Denver herum kam es bis zu zwei Mal im Jahr zu einem Tornado. Zwar war die Schwere der Stürme in den letzten Jahren geringer als anderswo in den USA und die Schäden hielten sich im Rahmen. Aber die Gefahr in Boulder mitbetroffen zu sein, war höher, als in Greeley, das besser im Schutz der Rocky Mountains lag.

„Dafür habt ihr alle paar Jahre so heftigen Schneefall, dass ihr nicht vor eure eigene Tür kommt.“

Ich erinnerte mich genau wie meine Eltern damals eingeschneit waren. Da war ich gerade 21 Jahre alt und stand vor dem 3. Weihnachten in meiner eigenen Wohnung.

„Wir wollten bei dir Weihnachten feiern.“

„Richtig. Mom hatte endlich zugestimmt, bei mir zu Abend zu essen. Allerdings wart ihr zwei Tage vor Weihnachten so heftig eingeschneit, dass sogar die Telefone ausfielen. Ich wusste tagelang nicht, was mit euch los ist, weil die Nachrichten nur im Schneckentempo vorankamen.“

Am 26. Dezember schließlich riefen meine Eltern mich an und beruhigten mich, dass sie lebten und es ihnen gut ging. Sie hatten genug Vorräte gehabt, um noch zwei Wochen gut durchzukommen. Was sich nicht als notwendig herausstellte. Bereits zu Silvester waren die Wege geräumt, so dass sie bis in den Ort kamen. Und da meine Eltern immer schon pragmatisch gewesen waren, hatten sie den Laden am gleichen Tag aufgemacht und statt mich zu besuchen und mit mir ins neue Jahr zu feiern, hatten sie gearbeitet.

„Vielleicht holen wir das nach.“

„Was?“

„Das Weihnachten bei dir. Simon und du, ihr beide seid entweder zu uns gekommen oder wir haben getrennt gefeiert und uns erst am Weihnachtsmorgen getroffen. Wir sollten dieses Jahr bei dir in der neuen Wohnung feiern.“

Ich sah meinem Vater in die Augen. „Weihnachten ist noch so lange hin.“

„Eine halbe Ewigkeit. Aber lass es dir von deinem weisen, poetischen Vater gesagt sein, Ewigkeiten sind auch nicht mehr das, was sie waren. In unserer modernen Welt vergehen sie mit einem Blinzeln.“

Ich lachte bei seinen Worten, ließ mich in seinen Arm ziehen und auf den Steg hinaus führen. Dort setzten wir uns an eine ruhige Stelle. Es war wunderbares Sommerwetter. In einiger Entfernung tobten Kinder am See, Familien saßen zum Picknick zusammen und natürlich bellten Hunde in der Menge der Menschen. Sie jagten Bälle, Stöcke oder wahlweise auch die Vögel, die versuchten, sich was von den vielen Backwaren auf den Picknickdecken zu ergattern.

Mein Vater folgte meinem Blick. „Ist dir das zu viel?“, fragte er mich dann.

Ich wusste, dass es sein Plan gewesen war. Dass er mich deswegen hierher geführt hatte. Es ging ihm nicht, wie sonst, um den friedlichen Spaziergang, den wir in Abgeschiedenheit unternahmen und des Wanderns wegen. Es ging um das hier. Mich mitten ins Leben zu platzieren, in der Hoffnung irgendwas in mir erinnerte sich daran, dass ich ein Teil davon war. Und das dieser Teil wieder dahin zurück wollte.

Aber alles, was ich fühlte, war der ohnmächtige Wunsch wegzurennen. Soweit ich konnte. Ich verkrampfte meine rechte Hand und schob sie unter meinen Oberschenkel, so dass mein Dad es nicht sehen konnte. Dann zwang ich mich zu einem Lächeln.

„Nein, es geht schon.“

Ich spürte die angespannte Haut um meine Wangen, als ich mir ein Lächeln aufzwang, das sich wie eine Maske anfühlte. Darunter lag Leere und ein kühler Schauder rann mir über den Rücken, als mir klar wurde, wie weit weg ich in Wirklichkeit von diesen fröhlichen Bildern war.

Die „neue“ Eden

Etwa drei Wochen, nachdem ich meine Eltern besucht hatte, war mein Wochenende auf ein Neues verplant. Die letzten beiden Samstage hatte ich gearbeitet, die Sonntage auf meinem Balkon oder dem Sofa verbracht und mich bereits mit der Frage gequält, was ich mit den zwei freien Tagen anfangen sollte. Es war eine Sache, einen Tag in meiner Wohnung herumzulungern, sich mit dem liegengebliebenen Haushalt zu beschäftigen und Bücher zu lesen. Da konnte ich mir einreden, wichtige Dinge zu tun, statt mich zu verkriechen. Aber ein ganzes Wochenende?

Zum Glück gab es in meinem Leben nicht nur Sephie, sondern meine Kochclubmädels. Und während bei mir gerade alles auf Stillstand gepolt war, überschlugen sich bei Grace die Veränderungen. Erst einmal hatten sie und Alec sich endlich wieder versöhnt. Ich hatte schon befürchtet, dass sie sich scheiden ließen, so wie es bei Abygail passierte. Dass ihre Ehe auf diese Weise zu Ende ging, beschäftigte mich beinah ebenso wie die Tatsache, wie es zu der Verbindung gekommen war. Ich verstand Abygails Beweggründe und doch konnte ich sie nicht gut heißen. Es war merkwürdig, Jim alles Gute zu wünschen und für ihn zu hoffen, dass er glücklich wurde. Wo ich eigentlich auf Abbys Seite sein müsste und mir mehr Gedanken um ihr Glück machen sollte.

Grace jedenfalls ließ sich glücklicherweise nicht scheiden. Alec war es nicht so sehr um seine Beziehung gegangen, oder darum, dass seine Frau nun seine Chefin war. Ihr Ehrgeiz und ihre Begeisterung hatten nur immer wieder daran gerüttelt, wie unglücklich er in seinem Job war. Dass es einen Teil gab, den er so viele Jahre verschwiegen und vor sich selbst verleugnet hatte.

Grace und ich hatten ein langes Gespräch über die Sache mit Alec geführt. Mit Abby hatte Grace nicht richtig reden können. Die verstand Alec nämlich nicht und sobald sie gesehen hatte, dass Grace mit den Veränderungen klar kam und bei ihr und Alec alles wieder okay schien, war das Thema für sie vom Tisch. Henna hatte genug eigene Sorgen. Nicht nur das ihre Schwägerin Joanna zuhause rausgeflogen war, und es nun zwischen ihr und den Eltern ständig krachte, auch in Hennas eigener Familie war gerade viel los. Seit ihre jüngste Schwester Mischa einen festen Freund hatte, schienen es ihre Eltern mit dem Beschützen zu übertreiben. An beiden Fronten war Hennas Fingerspitzengefühl gefragt, um die Wogen zu glätten, und die Familienharmonie wiederherzustellen. Tamsyn war Single und schied damit irgendwie aus. Also war es mir ganz logisch erschienen, dass Grace ein paar Tage nach Alecs Offenbarung, gefragt hatte, ob ich Zeit hatte, vorbeizukommen.

Bei einem Eistee hatte ich dann endlich die ganze Geschichte erfahren und begriffen, dass ich Alec verstand. Er hatte verdrängt, dass sein Vater sich zu Tode getrunken und dabei die Farm, den wichtigsten Ort für Alec, gleich mit versoffen hatte. Er hatte all das aus seinem Leben gestrichen. Und schließlich war der Punkt erreicht, wo alles so weit weg gewesen war, dass es nicht mehr real schien. Das verstand ich von allem am Besten. Mir erschien auch so vieles nicht länger real. Hatte ich wirklich mal geheiratet? Und war mein Mann tatsächlich vor einem Jahr gestorben und ich auf seiner Beerdigung gewesen, leer vom vielen Weinen, das dennoch nicht aufhören wollte?

 

Vielleicht war es so gewesen, doch ich hatte all das immer mehr verdrängt. Ich hatte keine andere Idee, wie ich je aufhören sollte, mit dem im Leben stehen bleiben. Wie sollte ich weitergehen, wenn diese Erinnerungen mich wieder und wieder zurück in die Vergangenheit zogen?

Das Verdrängen half nicht, die Leere zu besiegen, die mich erfüllte. Aber wenigstens versuchte ich nicht länger, bei allem, was ich tat, was ich sah und erlebte, an Simon zu denken. Ich fragte mich nicht mehr, hätte Simon das gemocht? Hätte ihm das Essen geschmeckt? Würde ihm eher das dunkelblaue oder das violette Oberteil an mir gefallen?

Ich war weit davon entfernt, über seinen Tod hinweg zu sein. Ganz sicher war ich nicht bereit, loszulassen und weiterzugehen. Aber ich fand mich immer besser in meine Rolle als neue Eden ein. Ich lächelte, sobald jemand erwartete, dass ich lächelte. Ich wirkte ehrlich, wenn ich ihnen versicherte, dass es okay war, in meiner Gegenwart von Männern und von der großen Liebe zu reden. Wenn ich behauptete, es wäre kein Problem, Simons Namen zu erwähnen und das ich gelernt hatte, mit dem zu leben, was passiert war, klang es als meinte ich es so. Es schmeckte nur für mich falsch, wenn sich die Lüge über meine Lippen hinaus in die Freiheit schlich.

Trotz meines Kummers gelang es mir, mich ehrlich für Grace zu freuen. Sie war immerhin meine Freundin und sie völlig am Ende zu erleben, hatte mich zu sehr daran erinnert, wie meine eigene Welt zusammengebrochen war. Ich wusste, wie es war in einem Scherbenhaufen zu sitzen und nicht zu wissen, wie man aufstehen sollte, ohne sich zu verletzen. Mittlerweile glaubte ich, dass es unmöglich war, unbeschadet aus so einer Situation herauszukommen. Doch bei Grace heilten die Wunden. Sie hatte Alec eine zweite Chance gegeben und er liebte sie und seine Kinder genug, um diese nicht achtlos mit Füßen zu treten und wegzuwerfen. Er war, wie sagte Grace immer: schwierig, eigen und kompliziert. Aber er war nicht blöd.

Als meine Freundin also am Mittwoch angerufen hatte, um zu fragen, ob ich beim Umzug helfen könne, stimmte ich sofort zu. Ich hatte keine Ausrede. Sie wusste ja, dass ich mich an den Wochenenden, an denen ich nicht arbeitete, zuhause verkroch. Außerdem versteckte sich die neue Eden nicht. Wenn ihre Hilfe gebraucht wurde, war sie zur Stelle und scheute auch nicht die Gesellschaft einer großen Menschenmenge. Ich hatte damit gerechnet, dass mich viele Helfer erwarten würden, und reagierte daher nicht überrascht, als ich ausstieg und bereits ein buntes Treiben vor dem Haus der Valmonts herrschte.

„Grace?“, rief ich, als ich durch die geöffnete Tür herein kam. Dabei wich ich Marcus aus, der mit einem Umzugskarton beladen an mir vorbei ging und mir zur Begrüßung zunickte.

Draußen vor dem Haus standen zwei LKW's mit dem Logo eines Bauunternehmens, sowie Alecs Volvo. Da Tammy und Henna erst am Nachmittag dazu stoßen würden, hatte ich gar nicht erst nach ihren Wagen Ausschau gehalten.

„Grace? Abygail?“, versuchte ich es ein weiteres Mal und wandte mich linker Hand zur Küche. Mein Instinkt funktionierte offensichtlich prima. Denn dort fand ich die Frauen. Grace räumte die Schränke aus, Abygail packte die Kartons und die junge, blonde Frau, die das Geschirr, das Grace ihr reichte, in Packpapier einhüllte, musste dann Rina sein. Sie war das jüngste Mitglied des Kochclubs. Denn nachdem wir beschlossen hatten, noch ein bis zwei Frauen mit einzuladen, hatte Grace die Floristin kurzerhand gefragt und sie hatte tatsächlich zugestimmt.

„Eden!“ Grace hatte mich entdeckt, stellte eine Suppenschüssel auf die Anrichte und kam auf mich zu. Ihre Umarmung war fest, herzlich und ihre blauen Augen blitzen voller Tatendrang. Ich bewunderte, wie leicht es ihr gelungen war, umzuschalten. War sie vor ein paar Wochen noch völlig am Ende gewesen, hatte sie nun ein neues Ziel vor Augen und wirkte wie ein Gummiball, immer in Bereitschaft vorwärtszukommen, ohne sich dabei zu verausgaben. Ihre Energiereserven schienen unerschöpflich.

Abygail fing meinen Blick auf und deutete ihn gewohnt richtig. Sie hätte genauso gut Psychologin werden können, statt Allgemeinmedizinerin. Allerdings war sie dafür zu direkt. Dinge schonend auf den Punkt zu bringen, war nicht Abbys Stärke.

„Gräme dich nicht, Schätzchen“, Abby lachte. „Das sind die Hormone einer Schwangeren. Dagegen können wir nur verlieren.“

„Was soll das denn heißen?“, empörte sich Grace und hatte dabei ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Sie zeigte es nicht deutlicher, aber das Lächeln verriet mir ausreichend, wie sehr sie sich auf den Familienzuwachs freute. Wie glücklich sie war. Das Bild der weinenden und völlig aufgelösten Grace verschwand und obwohl ich den Stich Eifersucht merklich spürte, war ich froh. Froh das Bild gehen zu lassen. Die Welt war wieder im Gleichgewicht. Alles wie immer. Abby beherrschte das Chaos und schien damit zufrieden, ihr Leben in der eigenen Hand zu haben. Nicht mal ein Tornado könnte ihr Angst machen. Henna lebte ihr konservatives Leben, um das sie jeder beneidete, egal wie langweilig es war. Denn obwohl nie etwas Aufregendes passierte, war sie offensichtlich glücklich. Michelle war eben Michelle. Erfolgreich, gutaussehend und trotzdem sie in einem Monat vierzig wurde, ließ sie dieser runde Geburtstag völlig kalt. Sie hatte alles, was sie wollte und dank mexikanischem Blut lief in Sachen Leidenschaft im Bett alles blendend. Das hatte sie uns beim letzten Treffen versichert, nachdem sie ein paar Cocktails zu viel getrunken hatte. Wir zweifelten es nicht an. Und Tamsyn? War wie immer auf der Suche nach dem großen Glück. Ich wusste, dass ich von allen Frauen aktuell mit ihr am meisten gemeinsam hatte. Und dennoch trennte uns so viel. Tammy hatte lange gewartet und sich ganz auf ihren Beruf konzentriert und bei ihrer Suche nach Mr. Right besaß sie scheinbar nicht das glücklichste Händchen. Ich war schon einmal glücklich gewesen. Mein Leben war genauso langweilig, schlicht und doch perfekt, wie das von Henna oder Grace gewesen. Aber dann hatte sich alles verändert. Es war schwer nach etwas zu suchen, wenn man wusste, dass man es verloren hatte. Worin lag da noch der Sinn?

„Eden?“

Ich schreckte aus meinen weit abgedrifteten Gedanken auf und fand zurück ins Jetzt. Grace warf mir einen kritischen Blick zu. Ich ahnte, was sie dachte. Wie sie versuchte einzuschätzen, ob sie mir nicht zu viel zugemutet hatte, als sie mich gefragt hatte, ob ich helfen wolle.

Es war Zeit zu handeln, bevor meine Tarnung als neue Eden, mit der alles in bester Ordnung war, aufflog. Gerade in Abygails Gegenwart konnte ich es mir nicht leisten, auch nur das leiseste Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Wenn ich Abby auf meine Fährte brachte, hätte sie mich bestimmt innerhalb von Minuten entlarvt und zudem versucht, genau zu analysieren, warum ich mich fühlte, wie ich mich fühlte. Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte die letzten Monate zu hart dafür gearbeitet, diese Fassade aufzubauen. Und es funktionierte. Es machte den Umgang mit meinen Mitmenschen einfacher. Ich konnte wieder Freude an der Arbeit empfinden, und scheute den Kontakt zu meiner Kundschaft nicht länger. Es machte mir wieder Spaß zu kochen und zu essen. Ich überlegte mir sogar, was ich morgens anzog und war beim Friseur gewesen. Die neue Eden war innen vielleicht nicht vollständig, sondern fühlte sich einsam und unecht an, aber nach außen tat sie mir gut. Ich brauchte sie und konnte nicht zulassen, dass meine Freundinnen sie mir wegnahmen. Nicht mal aus Fürsorge.