Wolkenschwäne

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Ich grinste bei der Erinnerung an Paul. Denn ein Tag danach hatte er vor meiner Tür gestanden und gefragt, ob ich nicht Lust hätte mit ihm ins Kino zu gehen. Sephie hatte allen Ernstes wissen wollen, ob ich zugesagt hatte. Als ich sie ungläubig gefragt hatte, wie sie darauf kam, ich hätte seine Einladung angenommen, hatte meine Freundin locker die Achseln gezuckt.

Meinetwegen hättest du mit ihm ausgehen können. Er ist gar nicht so schlecht im Bett. Sanft und vorsichtig. Genau das Richtige, um wieder ins Spiel einzusteigen.“

Das war ihre Antwort gewesen. Danach war das Thema für sie beendet. Sie brauchte nicht erwähnen, dass es ihr ernst damit war.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Damals hatte ich entrüstet, für meine Verhältnisse sogar wütend reagiert. Jetzt sechs Wochen später gelang es mir, über Sephies Reaktion zu lachen. Wahrscheinlich hatte sie Recht und es war unmöglich zu behaupten, ich könnte für den Rest meines Lebens enthaltsam und ohne Mann leben. Aber sie verstand einfach nicht, dass ich noch nicht so weit war, mir überhaupt nur vorzustellen, mit einem anderen Mann auszugehen. Bei der Vorstellung ein Date zu haben, Händchen zu halten, oder gar jemanden zu küssen, schauderte es mich. Wenn ich meine Augen zumachte, spürte ich Simons Berührungen auf meiner Haut. Wenn ich mich konzentrierte, schaffte ich es auch ein Jahr nach seinem Tod noch, seinen Duft in der Nase und sein Lachen im Ohr zu haben. Dieses laute, schiefe Lachen, was zu seiner offenen, redseligen Art gepasst und mir sofort gefallen hatte.

Ich öffnete die Augen, wischte mir die Tränen von der Wange. Für einen neuen Mann, ein Rendezvous oder ein One-Night-Stand war ich ganz klar noch nicht bereit. Ich vermisste all das nicht.

Was ich wirklich vermisste, war meinen Ehemann. Ich vermisste Simon. Wie wir zusammen gewesen waren. Wie er meinem Alltag Farbe gegeben hatte. Danach sehnte ich mich und das konnte mir kein Date mit einem Fremden wiedergeben. Also kuschelte ich mich unter meine Decke in meinen Lesesessel, ignorierte den Fakt, dass es zu warm dafür war und griff nach meiner Abendlektüre. Das Buch hatte den großen Vorteil, dass es so traurig war, dass ich behaupten konnte, meine Tränen kämen von der Geschichte und nicht vom Kummer, der schwer wie Blei auf meinem Herz lastete.

Ein Paradies für Bücher

Es war der letzte Arbeitstag in dieser Woche und das war, woran ich dachte. Andere überlegten bestimmt was sie an ihrem freien Wochenende machen würden. Ausschlafen, zeitintensive Hausarbeiten, die unter der Woche liegen blieben oder einfach mal ausspannen und sich Zeit für seine Hobbys nehmen. Da Sephie und ich die Buchhandlung nicht am Samstag schlossen, stellten sich mir diese Fragen nicht. Allerdings beschäftigten wir seit einem halben Jahr eine Aushilfe, so dass wir uns die Wochenenden aufteilen konnten.

Sephie hatte Lila eingestellt, als ich bei meinen Eltern gewesen war und nur unregelmäßig bis gar nicht im Laden gearbeitet hatte. Zuerst war ich recht befangen mit Lila umgegangen. Ich war mir nicht sicher gewesen, wie sie auf mein Wiederkommen reagieren würde, und ob wir miteinander auskamen. Aber meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Denn zu meiner großen Erleichterung verstanden wir uns hervorragend. Mittlerweile zählte ich Lila zu meinen Freundinnen und freute mich immer auf die gemeinsamen Stunden mit ihr im Laden.

Ich war gerade dabei, die Verlagsvorschauen nach Sommerhits zu durchforsten. Vielleicht konnten wir noch was Besonderes anfordern und im Schaufenster ausstellen, als Lila zur Tür herein kam. Wir öffneten erst in einer halben Stunde und da Sephie heute frei hatte, kam Lila früher als sonst.

„Guten Morgen!“, begrüßte sie mich mit einem breiten Lächeln im Gesicht und hielt mir zwinkernd eine braune Papiertasche und einen Becherhalter entgegen. „Lust auf Frühstück? Ich war noch auf einem Sprung im Boulder Cafe.“

„Wirklich?“ Ich lächelte und kam hinter dem Computer hervor. „Das war eine tolle Idee.“

„Ich weiß doch von Sephie, dass du dir zuhause kein Frühstück machst. Bis zum Mittag zu warten, erschien mir zu lang.“

Sie ging nach hinten in den kleinen Aufenthaltsraum, wo wir zwei bequeme Sessel stehen hatten und richtete auf dem kleinen Beistelltischchen die Bagels und den Kaffee an. Zumindest roch es eindeutig nach frisch gekochtem Kaffee.

„Ich wusste gar nicht, dass Sephie über mein Frühstücksverhalten mit dir redet.“ Grinsend setzte ich mich, griff zu dem Truthahnbagel, und begann zu essen.

„Gibt es etwas, über das Sephie nicht mit einem redet?“

„Nein“, gab ich zu und lachte. „Sie ist wirklich unmöglich.“

„Ach na ja. Sie macht sich eben Sorgen um dich. Ist schöner, als wenn sie dir den Mann ausspannen würde, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.“

Mit großen Augen sah ich sprachlos zu Lila, die mich beruhigend anlächelte.

„Guck nicht so, Eden. Ich bin über Bill hinweg. Und auch über Carmen. Sollen die beiden doch glücklich zusammen werden.“

Lila hatte vor einem Dreivierteljahr die Scheidung eingereicht, als sie herausgefunden hatte, dass ihr Mann sie mit ihrer besten Freundin betrog und war von Denver nach Boulder gezogen. Die Vorstellung von seinem Mann mit der besten Freundin betrogen zu werden, erschien mir grauenhaft.

„Ich kann nicht fassen, dass dir das in so kurzer Zeit gelungen ist.“

„Bei Bill hat es lange gedauert. Das muss ich zugeben. Wir kannten uns 23 Jahre lang und waren 22 Jahre davon zusammen. Beinahe 20 Jahre Ehe und ein Sohn verbinden uns und werden uns immer irgendwie verbinden. Zu Matt war er schließlich gut, das kann ich nicht ausblenden. Doch was Carmen angeht“, Lila schüttelte entschlossen den Kopf. „Das Thema habe ich abgehakt, nachdem ich sie das zweite Mal im Bett meines Mannes fand. Sie war eine falsche Schlange und ich bereue bloß, dass ich das nicht viel früher bemerkt habe. Aber so bin ich wohl. Zu leichtgläubig und naiv. War ich immer schon. Als kleines Mädchen wollte ich schon nur das gute in den Menschen sehen und scheinbar hat es diesen harten Aufprall gebraucht, um zu begreifen, dass nicht jeder gut ist. Selbst wenn man es sich wünscht.“ Sie sah mich fragend an. „Was ist?“

„Du klingst gar nicht verbittert. Wie machst du das? Wo steckst du die ganze Wut hin?“

„Keine Ahnung.“ Sie lächelte ehrlich. „Ich war wütend. Zwei Wochen oder so. Danach sagte ich mir, dass mich das auch nicht weiter bringt. Weder die beiden zu hassen, noch mich selbst, hilft mit jetzt. Also habe ich damit aufgehört und mich darauf konzentriert, was ich mit meinem Leben anfangen will. Und soll ich dir was verraten?“

„Was?“

„Es fühlt sich toll an. Zu Anfang war es schwer, aber es tat gut, einfach mal nur an mich zu denken. Herauszufinden, was ich will, wer ich sein möchte und was ich im Leben alles allein schaffen kann. Das hat mir geholfen, über die beiden hinwegzukommen. Jetzt bin ich viel freier als früher. Selbstbewusster, weil ich mir selbst mehr zutraue und um ehrlich zu sein, bin ich irgendwie auch glücklicher. Vielleicht geht es Bill so, wenn er mit ihr zusammen ist. Was soll ich ihm da vorwerfen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Solange er für unseren Jungen da ist und für ihn zahlt, um ihn zu unterstützen, will ich mich nicht beklagen. Immerhin haben wir das mit Matt beide gut hinbekommen. Das ist nicht allein mein Verdienst.“

„Das hast du schön gesagt.“

„Ist ja die Wahrheit.“ Lila trank von ihrem Kaffee und auch ich schwieg einen Moment. Wie schon so oft fragte ich mich, ob sie ihre Kraft daher nahm, dass sie Mutter war.

Ich fragte mich, ob ich mit Simons Tod anders umgegangen wäre, hätte ich ein Kind mit ihm gehabt. Vielleicht wäre ich stärker, als ich es jetzt war. Und wenn nicht? War es dann nicht besser so?

Ich vertrieb den Gedanken. Natürlich war es besser so. Niemand sollte sich in meiner Situation wünschen, er hätte ein Kind. Als Kind ohne Mutter oder Vater aufzuwachsen, war das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Noch schrecklicher, als den Ehemann zu verlieren. Ich sollte froh sein, dass unsere Versuche ein Kind zu bekommen, nicht geklappt hatten.

„Hast du keinen Hunger mehr?“

Lila riss mich aus meinen trübseligen Gedanken und ich sah auf meinen halben Bagel. „Tut mir leid.“ Ich steckte ihn zurück in die Papiertüte. „Den Rest esse ich heute Mittag.“

Als ich aufstand und nach dem Kaffee griff, sah sie mich fragend an.

„Ich gehe schon mal vor.“

Obwohl ich mittlerweile wieder gerne im Laden arbeitete, fiel mir der Kundenkontakt immer noch etwas schwer. Die meisten unserer Kunden kannten mich. Sephie und ich besaßen das Geschäft jetzt seit 5 Jahren und ich hatte schon zuvor für 4 Jahre hier gearbeitet, als die Buchhandlung noch Boulder Bookstore hieß und Mr. Jefferson gehört hatte. Ich dachte daran, wie wir uns kennengelernt hatten.

Als ich fünfzehn war, war meine Großmutter gestorben und ich war schrecklich traurig gewesen. Immer öfter war ich statt zuhause im Boulder Bookstore. Mr. Jefferson hatte nichts dagegen, wenn ich mich mit einem Buch in einem der Erkerfenster im zweiten Stock verkrümelte und aufgrund abenteuerlicher, fantastischer Geschichten vor der Realität und meinem Kummer floh. Es mochte verrückt klingen, aber das half mir damals wirklich und dennoch blieb ich nach vielen Wochen immer noch, denn mittlerweile hatte ich den Laden und auch Mr. Jefferson liebgewonnen.

Einen Sommer später machte ich mein erstes Praktika bei ihm. Wir nannten es so, weil ich darauf bestand, dass er mir nichts zahlte für meine Hilfe. Dafür verlangte ich, dass er mir alles zeigte, was er so machte, um eine Buchhandlung zu führen. Die gesamten Ferien über war ich kaum aus dem Geschäft zu bekommen. Damals hatten Sephie und ich den einzigen Streit in unserer Freundschaft, an den ich mich noch heute erinnerte. Es war ein heftiger und langwährender Streit gewesen. Statt mit ihr ins Freibad, oder auf Partys zu gehen, zu denen wir eingeladen worden waren, verbrachte ich meine Zeit lieber mit einem alten Mann und einem Haufen trockener, langweiliger Geschichten.

 

Aber ich liebte nun mal Bücher und meine Reisen in fremde Welten, fremde Zeiten und manchmal mochte ich es auch, ein anderer Mensch zu sein. Das Gefühl zu haben, tausend Leben zu leben und immer wieder in ein neues Leben schlüpfen zu können. Wann immer ich wollte.

Mr. Jefferson hatte meine Liebe zu Geschichten erkannt und mich verstanden. Das hatte zu einer wunderbaren Freundschaft geführt, die mich nach meinem Collegeabschluss wieder zu ihm zurückgebracht hatte. Er war gar nicht überrascht, als ich erklärte, für ihn arbeiten zu wollen. Zuerst half ich nur aus, später kümmerte ich mich zusätzlich um die Buchhaltung, was ihm nie Freude bereitet hatte. Und als er seine Krebsdiagnose bekam, übernahm ich immer mehr seiner Arbeiten, bis er dann so krank wurde, dass er gar nicht mehr in den Laden kommen konnte.

Mr. Jefferson hätte mir die Buchhandlung gern geschenkt, ohne Geld dafür zu nehmen. Für ihn war ich die Enkeltochter, die er nie gehabt hatte, denn seine Frau war jung und kinderlos gestorben. Er hatte nie wieder geheiratet und war sehr einsam gewesen. Doch die Behandlungen waren teuer und brauchten all seine Ersparnisse auf. Schließlich offenbarte er mir einen Tag im Krankenhaus, als es ihm gut genug ging, um ein wenig länger mit mir zu reden, dass er die Buchhandlung verkaufen müsse. Ich bat ihn um etwas Zeit und landete so bei der Bank, um einen Kredit aufzunehmen. Den wollten sie mir geben, aber er hätte nicht gereicht. Also überredete ich Sephie und hatte Glück, dass meine Freundin ihren Bürojob in einer Werbefirma schrecklich fand. Denn all ihre Kolleginnen umschwänzelten ihren arroganten Chef, den sie nicht ausstehen konnte. Ihrem Aktionismus war es geschuldet, dass sie gleich Nägel mit Köpfen machte. Sie kündigte ihren Job, nahm ihr Erspartes und steuerte den Restbetrag bei, um Mr. Jefferson die Buchhandlung abzukaufen.

Acht Wochen später starb er friedlich dank der Schmerzmittel, die man ihm täglich gab. Nach seinem Tod hatten wir der Buchhandlung den neuen Namen Paradise Bookstore gegeben.

Für mich war es immer ein Paradies gewesen und daher fand ich den Namen perfekt. Wir hatten ein wenig umgestellt, doch die alten Regale und Lampen hatten wir übernommen. Unser Laden hatte zwar ein modernes Programm, aber in unserer Ausstattung waren wir antik, gemütlich und so geblieben, wie ich die Buchhandlung von früher kennen und lieben gelernt hatte.

Unten im vorderen Bereich führten wir die Belletristik. Im Schaufenster präsentierten wir die jeweiligen Quartalhighlights oder themenorientierte Tipps. In der Mitte hatten wir einen Tisch mit den Bestsellern stehen, so dass diese schnell griffbereit waren. Außerdem gab es eine kleine Nische, in der man einen Geheimtipp fand, den ich aussuchte und jeden Monat wechselte. Im hinteren Bereich des Ladens standen die Sachbücher, Biografien, Bildbände und Schulbücher.

Im zweiten Stockwerk gab es direkt über der Belletristik die Abteilung Kinder- und Jugendbücher. Auch dort hatten wir einen Tisch aufgestellt, auf dem wir unsere Favoriten präsentierten. Zudem gab es eine Ecke mit Mal- und Bastelbüchern und eine kleine Auswahl an Vorschulbücher. Im hinteren Bereich hatten wir dafür auf Bücher verzichtet und uns stattdessen für eine gemütliche Leseecke entschieden. Der Erker, der früher mein Stammplatz gewesen war, war nun mit hübschen und gut gepolsterten Sitzkissen geschmückt und lud zum Träumen ein. Außerdem gab es gemütliche Sessel, um in Büchern zu blättern oder zum Lesen herzukommen.

Mittlerweile hielten wir dort auch Lesungen und Signierstunden ab und das war eine Neuerung, die Sephie arrangiert hatte. Der Buchhandel lief schleppend. Die Konkurrenz durch die digitalen Medien war immens. Wir mussten immer pfiffiger werden und uns auf die Büchersegmente konzentrieren, die gut liefen. Kinderbücher und Sachbücher zum Beispiel. Andere Bücher stachen heraus, wenn es Lesungen dazu gab, Signierstunden oder wenn es Bücher waren, die gerade durch TV-Serien, Kinoverfilmungen und Merchandise in den Köpfen der Kunden waren. Darauf stürzte sich Sephie dann wie ein Adler. Mit ihrem offenen Wesen war sie mittlerweile mit den meisten Pressemitarbeitern der Verlage und Agenturen per du und hatte auf diese Weise schon tolle Events für unseren Laden auf die Beine gestellt.

Ich lächelte über mich selbst. Meine Gedanken waren abgeschweift. Etwas, was mir seit Simons Tod oft passierte. Durch den Verlust dachte ich wieder öfter an die Zeit mit Mr. Jefferson, den ich auch verloren hatte. Natürlich fiel es mir schwerer, Simons Tod zu verarbeiten und hinter mir zu lassen, als den von Mr. Jefferson. Und dennoch ...

Es schmerzte auf die gleiche unfaire Art und schon damals hatte ich nicht gewusst, auf wen ich so wütend war und wie ich die Wut loswerden sollte. Ich war 25 gewesen und ständig traurig. Aber ich hatte mich mit meinem Schmerz in Bücher und lange Spaziergänge mit meinem Vater geflohen und ganz langsam war es besser geworden.

Drei Monate später hatte ich Simon kennengelernt und noch im gleichen Jahr hatten wir geheiratet. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man uns nur vier Jahre Glück gönnen würde. Ich fragte mich, was ich verbrochen hatte, um das zu verdienen. Doch vermutlich fragten sich das alle Menschen, die so etwas durchmachten.

Ich trank den letzten Schluck Kaffee, warf den Becher danach in den Papierkorb unter dem Tisch und widmete mich wieder der Recherche in den Verlagsvorschauen. Lila öffnete derweil den Laden und im Laufe des Vormittags kamen die ersten Kunden. Während ich auf Fragen reagierte und nebenbei den Bestand aufstockte oder Bücher an ihren richtigen Platz zurücklegte, blieb Lila an der Kasse und bediente das Telefon. Wir waren gut eingespielt und es war ein harmonisches Arbeiten. Ich war fast ein bisschen traurig, als sie um zwei Uhr Feierabend hatte und nach Hause ging. Der Nachmittag war jedoch nicht stressig, wie ich erwartet hatte. Ich kam gut zurecht, und wenn ein Kunde an der Kasse mal zwei Minuten warten musste, war er verständnisvoll. Der Vorteil am Leben in einer Kleinstadt war der, dass die Menschen viel weniger gehetzt waren. Außerdem behauptete ich Sephie gegenüber gerne, dass die gemütliche Einrichtung mit den verspielt buchigen Accessoires und den warmen Farben, die Leute beruhigte und fröhlich stimmte. Bücher hatten diese Wirkung auf Menschen und ich war ohnehin der Meinung, dass Buchliebhaber die nettesten Menschen auf der Welt waren.

Mein poetischer Teddybär

„Edie!“, mein Vater nahm mich in den Arm und ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Schön, dass du gekommen bist.“

„Wenn du mich nicht nur mit Moms Erdbeerkuchen, sondern auch noch mit einem Spaziergang durch den Park herlockst, kann ich doch unmöglich nein sagen.“

Mein Vater lachte leise. Natürlich hatte ich Recht und er hatte gewusst, dass er mich so aus der Wohnung locken konnte. Dabei hatte ich mir schon genau ausgemalt, was ich mit diesem warmen Sommersonntag anfangen wollte. Zuerst wollte ich meine Wäsche waschen und aufhängen, die trocknete bei den Temperaturen nämlich wunderbar. Danach hätte ich einen kleinen Stadtbummel gemacht und irgendwo in einem Bistro auf der Pearl einen leichten Salat gegessen. Den restlichen Tag hätte ich mit meinem aktuellen Buch auf dem Sofa verbracht. Als ich gerade die Waschmaschine angestellt hatte und ins Bad gehen wollte, um mich fertigzumachen, hatte mein Vater angerufen.

Nun folgte ich ihm am Haus vorbei zum Garten, wo meine Mutter das Mittagessen auftischte.

„Eden.“ Sie küsste mich über die große Schüssel, die sie in der Hand hielt.

„Kann ich dir noch helfen?“

Sie warf einen Blick auf den Tisch und schüttelte den Kopf.

„Nein, setz dich zu deinem Vater. Ich gehe nur schnell die Limonade holen.“

„Das sieht alles ganz toll aus.“ Ich warf meinem Vater einen Blick zu und er lächelte.

„Nachdem ich deiner Mom sagte, dass du schon zum Mittagessen kommst, ist sie gleich in der Küche verschwunden.“

„Du hast das geschickt geplant. Mom wollte mich wohl nur zum Kaffee einladen, was?“

„Sie dachte, wenn sie dich fragt, ob du den Tag mit uns verbringen willst, hast du eine Ausrede parat und kommst gar nicht. Sie hat immer noch nicht gelernt, dass man nur die richtigen Worte finden muss.“

„Du meinst, sie weiß nicht, wie man mich besticht?“

Er grinste unverschämt und sah dabei aus, als sei er sich keiner Schuld bewusst. Ich schüttelte lächelnd den Kopf.

„So da bin ich.“ Meine Mutter schenkte uns ein. „Warum habt ihr euch noch nicht aufgetan?“

„Du machst das viel besser, Liebling.“ Mein Vater lehnte sich in seinem Gartenstuhl zurück und meine Mutter nickte ernst.

„Das stimmt. Was darf ich dir geben?“

Sie meinte mich und ich sah auf die verschiedenen Schüsseln und Schalen. „Was ist das alles, Mom?“

„Das hier ist Salat mit frisch gerösteten Pinienkernen und Ziegenkäse. Das da ist Salat mit Heidelbeeren und Linsen und der Feldsalat ist mit Erdbeerdressing gemacht.“

Ich warf meinem Vater einen Blick zu und er erwiderte ihn. In seinen Augen las ich die eindeutige Botschaft: „Ich habe es dir ja gesagt.“

„Weißt du Mom, das sieht alles hervorragend aus und ich habe nicht gefrühstückt. Ich nehme von allen drei Salaten ein bisschen.“

Meine Mutter lächelte glücklich, schnitt mir danach von dem noch warmen Brot zwei große Scheiben ab und schob den Ziegenfrischkäse und die Erdbeermarmelade in meine Richtung.

Wir aßen über eine Stunde, saßen dabei zusammen im Garten und unterhielten uns. Mein Vater erzählte mir von der Ernte, seinem Kampf gegen freche Vögel und Käfer und seinen neuen Eigenkreationen, wie der Erdbeer-Ingwer Marmelade und dem Birnen-Quitten Gelee mit einer kleinen Note von Cranberry. Ich versprach zu kosten, und ihm danach meine ehrliche Meinung zu sagen. Allerdings klang der Name bereits so lecker, dass ich schon jetzt wusste, dass es mir schmecken würde.

Nachdem wir eingesehen hatten, dass keiner von uns in der Lage war, auch nur eine Gabel mehr zu essen, half ich meiner Mutter beim Abräumen. Während sie die Salate umfüllte und in den Kühlschrank stellte, spülte ich.

„Und wie geht es dir Schatz?“

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, wie meine Mom mich beobachtete.

„Gut. Warum fragst du? Ich habe euch doch eben erzählt ...“

„Du hast von deiner Wohnung erzählt, die Fotos auf deinem Handy gezeigt und von der Arbeit und Lila berichtet. Ich freue mich, dass ihr gut miteinander auskommt, deine Wohnung sieht wirklich schön aus und Vater und ich besuchen dich bestimmt gerne, um uns alles selbst anzusehen. Aber du hast uns trotzdem nichts von dir erzählt.“

So wie sie das betonte, konnte ich die Intention dahinter nicht missverstehen. Ich seufzte. „Und ich dachte schon, du hättest es nicht gemerkt.“

Meine Mutter schnaubte. „Ich bin deine Ma. Natürlich merke ich so was.“ Sie kam zu mir, lehnte sich an die Küchenzeile und sah mir von der Seite her in die Augen. „Es tut immer noch sehr weh, nicht wahr?“

Ich nickte, unfähig etwas zu sagen.

Sie streichelte meinen Arm und ich hörte, wie sie seufzte. „Ach mein armer Schatz.“

„Nicht.“ Ich hob den Kopf und sah sie an. „Kein Mitleid, Mom. Wir müssen damit aufhören. Es hilft mir kein bisschen, wenn du genau so traurig bist, wie ich.“

„Ja, ich weiß.“ Sie lächelte unsicher. „Aber ich weiß nicht, was ich machen kann, um dir zu helfen. Und das macht mich wahnsinnig, Kind.“

„Das braucht es nicht. Mit der Zeit wird es besser.“ Das musste es einfach. „Es ist schön bei euch zu sein und zu reden. Lass uns so tun, als wäre das der Grund dafür, dass ich hier bin und nicht, weil ihr euch immer noch Sorgen um mich macht. Meinst du das geht?“

„Ja.“ Sie nickte. „Ja, natürlich, Schatz.“

„Edie?“

Ich sah an meiner Mutter vorbei. Mein Vater stand im Flur und warf mir einen fragenden Blick zu. „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Wir können bis zum See gehen und sind bestimmt rechtzeitig zum Kaffee wieder hier. Außerdem haben wir nach dem Laufen bestimmt mehr Hunger als jetzt.“

 

„Müssen wir denn viel Hunger haben?“ Ich sah von ihm zu meiner Mom, die verlegen errötete.

„Es gab da dieses neue Rezept, was ich ausprobieren wollte.“

Ich lachte auf. „Und das heißt?“

„Deine Mutter hat Erdbeerkuchen gemacht, einen Obststreuselblechkuchen und noch Torteletts. Du siehst, wir müssen unbedingt bis zum See laufen, bevor wir uns wieder zurück in den Garten trauen.“

„Du bist wirklich unmöglich, Mom.“

„Ach was. Das, was übrig bleibt, kann dein Vater morgen mit in den Laden nehmen. Wenn es nach unseren Kunden geht, könnte ich glatt noch eine Bäckerei oder ein Café aufmachen.“

Mein Vater nickte. „Sie lieben das Gebäck deiner Ma.“

„Natürlich lieben sie es.“ Daran zweifelte ich kein bisschen. Meine Mutter war eine ausgefallene Köchin, aber sie tat es mit so viel Liebe und Leidenschaft, dass jede ihrer Kreationen dennoch gelang, und zudem unglaublich lecker war.

„Vielleicht sollte ich mir die Idee ernsthaft überlegen. Wäre zur Abwechslung doch mal schön, mein eigener Chef zu sein, statt für deinen Vater zu arbeiten.“

Mein Vater schüttelte den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Wir haben genug Arbeit.“

Es war schön, zu sehen, wie meine Eltern sich nach so vielen Jahren einander immer noch mit liebevollen Neckereien bedachten. Bevor mein Herz schwer wurde und die Traurigkeit mich zu verschlucken drohte, wandte ich mich an meinen Vater.

„Komm schon, Dad. Lass uns gehen. Sonst wird es zu spät und du weißt ja, wie Mom es hasst, wenn der Tee kalt wird.“

Denn vier Uhr war ihre feste Teezeit und sie duldete es nicht, dass man früher damit anfing oder zu spät kam. Als ich noch zuhause gewohnt hatte, hatte ich um vier Uhr alles stehen und liegen lassen und im Wohnzimmer oder im Garten erscheinen müssen. Während des Tees unterhielten wir uns über den Tag und egal wie blöd ich es fand, an so einer kindischen Regel festzuhalten, war ich am Ende glücklich gewesen, dass meine Mutter keine Gnade kannte. Denn irgendwie war es doch immer schön, zusammenzukommen, zu reden und sich daran zu erinnern, dass es mehr gab als sich selbst. Gerade als Teenager war das eine merkwürdige Erfahrung gewesen und meine Mutter behauptete bis heute, dass sie meine Pubertät anders nie überstanden hätte. Statt mit Strafen und strengen Regeln hatte meine Mutter es geschafft, zu meiner Freundin zu werden, indem sie mich dazu brachte, sie nicht aus meinem Leben auszugrenzen. Sei es auch nur durch diese halbe Stunde am Tag, die ich ihr zuhören musste, oder die sie mich überredete, über die Dinge zu sprechen, über die ich sonst nicht reden wollte. Heute war ich ihr dankbar dafür, denn trotzdem ich viele Freundinnen hatte, konnte niemand meine Mom ersetzen. Ich liebte meine Eltern und sie würden für mich immer die wichtigsten Menschen auf der Welt sein.

Genau deswegen antwortete ich meinem Vater ehrlich auf die Frage, ob es okay sei, dass ich meinen freien Sonntag mit ihnen verbrachte.

„Das ist schon okay, Dad.“ Ich hakte mich bei ihm ein und gemeinsam liefen wir den schmalen Kiesweg bis zur Straße entlang. Die Sonne brannte hoch am Himmel und ich hatte mir einen von Moms Strohhüten geliehen, so dass ich keinen Sonnenstich bekam. Dad trug seinen Anglerhut und brachte mich auf eine Idee.

„Warum hast du nicht deine Angelrute mitgenommen?“

„Ach Edie. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr angeln.“

„Wieso nicht?“

„Die Zeit, Liebes. Ich wüsste nicht, wann ich das machen soll. Um ehrlich zu sein, hat deine Mutter dich nur eingeladen, damit ich mal nicht arbeite.“

Obwohl in seiner Stimme die Heiterkeit lag, die ich von meinem Vater gewohnt war, hörte ich doch heraus, dass er die Wahrheit sagte.

„Dad!“, schimpfte ich. „Du sollst dir doch wenigstens einen freien Tag in der Woche gönnen.“

„Als Obst- und Gemüsebauer und Geschäftsbetreiber gibt es keine freien Tage.“ Er sah mich an. „Das war schon immer so und ich habe Glück. Ich liebe meine Arbeit. Würde im Leben nie was anderes machen wollen.“

Ich seufzte, weil es keinen Sinn machte, mit ihm darüber zu streiten. Mein Vater liebte seine Arbeit und deswegen war es sinnlos ihm klarmachen zu wollen, dass er sich mit sechzig ruhig mal einen freien Tag in der Woche gönnen durfte. Zum Glück war er kerngesund und es gab keinen Grund, dass er kürzertreten musste. Meine Mutter sagte manchmal scherzhaft, wie traurig sie es fand, dass er so gesund war. Er handelte sich im ganzen Jahr vielleicht eine Erkältung ein. Und diese eine Woche Bettruhe trieb meine Mutter eher in den Wahnsinn, als dass sie sie genießen konnte. Denn es gab nur eines was schlimmer war, als ein kranker Mann. Einer, der es nicht gewohnt war krank zu sein, und Bettruhe auf den Tod nicht ausstehen konnte. Manchmal hätte Mom ihn sicher gerne ans Bett gefesselt. Insofern waren es wirklich nur Scherze, wenn sie sich wünschte, Dad würde häufiger krank sein, um frei zu machen.

„Wie geht es denn Mom?“, fragte ich meinen Dad und kehrte damit zurück in die Gegenwart. Meine Mutter hatte Anfang des Jahres anfängliche Osteoporose und Rheuma diagnostiziert bekommen. Ihr taten jetzt häufiger die Knochen weh. Gerade bei Wetterumschwüngen war es schlimm und immer öfter hatte sie am Abend dann angeschwollene Füße und kam in keine Schuhe mehr.

„Der Sommer tut ihr gut. Sie klagt nicht so oft über steife Finger, wie im Winter und sie kann barfuß laufen, was es ihr unheimlich leicht macht, zu verbergen, ob sie wieder Elefantenfüße hat.“

„Dad!“, ermahnte ich ihn und musste dennoch lächeln. Ich wusste ja, dass er es liebevoll meinte. „Ruht sie sich ab und an aus?“

„Na du kennst sie doch. Ich versuche mein Bestes. Manchmal kann ich sie zu Handarbeiten überreden. Oder ich gebe ihr den Auftrag, für den Laden ein bisschen neue Dekoration zu basteln. Dann hat sie eine sinnvolle Aufgabe und setzt sich auch mal hin. Aber die meiste Zeit ist sie genau so lang auf den Beinen und klettert mit mir auf Leitern herum, wie ich.“ Er lächelte. „Ohne sie würde ich es nicht schaffen, Edie. Sie weiß das. Macht also keinen Sinn ihr was anderes vormachen zu wollen. 36 Jahre sind eine lange Zeit.“

36 Jahre kannten sich meine Eltern. Das war so eine verdammt lange Zeit. „Ihr habt bald 35-jährigen Hochzeitstag. Macht ihr was Besonderes?“

„Wir haben nie was Besonderes gemacht, warum sollten wir das dieses Jahr ändern?“

„Weil du nicht weißt, wie viele Gelegenheiten du noch bekommst. Niemand weiß, wie viele Jahre er hat. Ihr solltet etwas Schönes machen.“

Mein Vater schwieg, aber ich spürte deutlich, wie er mich nach meinen Worten ansah. Trotzdem blickte ich stur auf den Weg. Wir verließen gerade den Gehweg, um in den Wald einzubiegen. Die Bäume spendeten hier Schatten und es war dadurch ein wenig kühler.

„Hier lässt es sich gleich viel besser aushalten“, lenkte ich ab. Als mein Vater immer noch nichts sagte, sah ich ihn schließlich an. „Sag schon, was du sagen willst, Dad.“

Er blieb stehen. „Ich möchte nichts sagen, Edie. Glaub mir, ich wollte keines dieser Gespräche führen. Welcher Vater will seiner wundervollen Tochter Tipps geben, wie sie über den Tod ihres Ehemanns hinwegkommt? Abgesehen davon habe ich keine Erfahrung damit. Wie gut können meine Ratschläge da schon sein?“

„Deine Ratschläge sind immer gut. Du gibst sie mir nur viel zu selten.“

Er lachte und eine Weile gingen wir schweigend weiter. Schließlich räusperte er sich.

„Was würdest du denn vorschlagen? Was würde deiner Mutter gefallen?“

Ich überlegte einen Moment. Das war gar nicht so einfach. Meine Mutter hatte sich meinem Vater so sehr angepasst, dass sie ihr ganzes Leben nach ihm ausgerichtet hatte. So wie sie früher ihr Leben nach mir ausgerichtet hatte. Ich war ihr Mittelpunkt gewesen. Ihre Aufgabe.

„Ganz schön schwer, deine Mutter zu ergründen, was?“