Read the book: «Ein ganz böser Fehler?», page 5

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Leben oder Tod?

„All that is, was and will be …” (Metal­lica)

1

Endlich woanders – Ändert sich jetzt alles für mich? –, In einem Drei-Bettzimmer; und dort in der Mitte, was ich nicht so liebe. Aber ich kann es mir nicht aussuchen, in dem Zimmer liegen schon zwei: Der eine ist über 50 und der andere ungefähr 25, beide scheinen ganz okay zu sein. Der ältere ist sich sicher, dass er diese Woche geht. Keine Ahnung, was er hat oder hatte, er weiß es selbst nicht. Der jüngere hat zuviel gesoffen, hat Leberprobleme. Ist aber nicht ge­neigt, diesem Alkoholproblem abzuschwören; findet stattdessen, was er schluckt, ist nicht viel. Doch über die beiden kann man herzhaft lachen – soweit man lachen will –, weswegen es nicht so trist ist wie in der ITS.

Kurz nachdem ich angekommen bin, gibt es Mit­tagessen.

Oje, stelle ich angewidert fest, gegen das in der ITS kann man es ja glatt vergessen. Die blanke Gele­genheit zum Abnehmen. Obwohl – ich habe es doch gar nicht nötig, bin ja eh nur bisschen über sechzig Kilo – oder jetzt vielleicht sogar drunter? –, und das ist ja bei einer Größe von 1,73m absolut nicht viel. Doch was soll's? Da werden wieder Erinnerungen an die Flottenschule wach: Hunger treibt es rein, Ekel runter.

"Samal", frage ich die anderen, "isasEssen immo­der gibtsouma wasordentlich?"

"Erwarte nicht zu viel von hier, vor allem, was das Essen betrifft. Da kommst du besser, du verschließt deine Geschmacksnerven", bekomme ich vom Älte­ren zu hören.

"Oh Scheiße!" Nach nur einer Stunde hier bin ich schon bedient.

*

Nach dem Essen kommt eine Ärztin. – "Guten Tag, ich bin Dr. Christoph", stellt sie sich vor, "die leitende Ärztin hier."

"Guddag. Wiecheess, brauch jawoll niers zuerzähl, ni?"

Sie deutet ein Lächeln an, das verschwindet jedoch sofort wieder für die mitleidige, Vertrauen erheischen wollende Miene; mit ihren ungefähr 55 Jahren, den vollständig ergrauten Haaren und dem schlanken Äu­ßeren wirkt sie so weise und endlich wie Hexe Baba­jaga, als diese Naschenka in ihr Häusl lockte. In mir sträubt sich alles, ihr die Hand zu reichen. Alles an ihr wirkt so einstudiert, aufgestellt, zu künstlich. Mit Si­cherheit sieht sie dies tausendmal am – na gut, nicht am Tag, auch nicht in der Woche, aber zumindest im Jahr. Da ist sie natürlich völlig abgestumpft. Doch vielleicht täusche ich mich, wir werden sehen. Und außerdem – wenn ich ja sowieso nur ein paar Wochen hier bin, dann ist das doch völlig unwichtig.

"Sie sind im Rehabilitationskrankenhaus Großbü­chen auf der neurologischen Station", informiert sie mich. – Endlich mal werde ich über etwas informiert! – "Hier werden wir versuchen, Sie wieder aufzubau­en, damit Sie in das Stadtleben zurückkehren können. Würden sie mir bitte genau sagen, wie Ihr Unfall pas­siert ist?"

"Keenahnun! Ich weeß nimma, obaübhaupt eene wa."

"Alles klar. Und was für eine Schulbildung haben Sie?"

"Beufsbidung miAbi. Ichaba Motonschlossr ge­lent."

"Und, wie soll es bei Ihnen weitergehen?"

"Na eijent-ich wärch jetz as Beteuer in UssA. Do­daisja erstma hinfällch gewoden. Weitnhin habch Lei­pig ne Tudienlassung fürn Pädagikstudum Fachtung Deutsch/Elisch."

"Oh, dann gehören Sie ja zu der intelligenten Sor­te. Haben Sie noch vor, es zu absolvieren?"

Wundern: "Na loisch. Warumdn ni?"

"Hm, hätte ja sein können. Waren Sie schon mal in einem Krankenhaus?"

"Na, afang mite Gebut", fange ich an aufzuzählen, "dann warich ma, alsch viewa, wegn Kellkoppgippim Kanknhaus – das wars." Brauch ja nicht zu wissen, dass ich vor kurzem wegen Tripper einsaß, da bei mir die Penizillinspritze nicht wirkte.

"Haben Sie schon Operationen hinter sich?"

"Na ja hm, iweeßni, obe Kieferhöhöhlenspülung ou dazuzählt. Sonwa keene."

"Gut. Jetzt muss ich Sie mal untersuchen", kündigt sie mir an, nachdem sie sich alles aufgeschrieben hat.Danach teilt sie mir nicht etwa mit, zu welchen Er­gebnissen sie gekommen ist, sagt mir nur, dass ich ab heute Abend Cerutil bekomme und morgen die Be­handlung losgehe. "Haben Sie eigentlich Kleidung hier?", will sie stattdessen wissen.

"Nee, aberich hoff, da meie Mutter heukomm un­welch mitbingt. Am Telefon hatses zuminst gesach."

"Da kommt sie bestimmt auch. – Ab Sonnabend bin ich für zwei Wochen im Urlaub. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?"

Soll ich sie nach den Resultaten der Untersuchung fragen? Andrerseits macht sie auf mich nicht den Eindruck, als würde sie mich ausreichend aufklären wollen. Dann eben ein anderes Mal.

*

Was mache ich nun?, steht die seit ein paar Wochen ewig existierende Frage wieder im Raum. Und wie so oft bleibt mir nur das salomonisches Urteil: Erst mal Lage sondieren.

Was zu meinem Bedauern aber nicht so einfach ist, da meine Brille am Sonntag durch meine eigene Schuld – ich habe mich auf sie darauf gesetzt – ka­puttgegangen ist. Von meiner Schwester war sie am Montag zwar mitgenommen worden, aber seitdem hat sich niemand mehr blicken lassen – außer Pia natür­lich. Und komischerweise sehe ich hier drin noch schlechter als in der ITS. Ebenso fällt mir das Aufste­hen viel schwerer, und bis zum nächsten Locus, an dem man sich festhalten könnte, ist es furchterregend weit. Mir bleibt also nur das Aufrichten. Doch bevor ich beginnen kann, mich abzumühen, geht die Tür auf. Kommt meine Mutter? Zeigt Pia ihr niedliches Antlitz?

Jemand im rosa Kittel erscheint, jemand den ich nicht kenne; und auch die Bedeutung des Kittels ist mir fremd.

"Guten Tag. Ich bin die Physiotherapeutin Frau Miller."

Physiotherapeutin – was soll das sein?

"Ich habe die Aufgabe, mit Ihnen Krankengymnast­ik zu machen, Sie wieder aufzubau­en." Sie lächelt dabei, sieht gut und stabil aus (frie­densbereite Amazone), erfrischend. Auch ist sie mir bedeutend sympathischer als die Ärztin. Und mit ihr scherzen scheint man auch zu können.

"Na damaran", bedeute ich ihr. "Dasiegen gehmir nämi offn Gist."

"Morgen geht es erst los. Ich wollte nur mal kom­men, um zu sehen, welche Aufgabe auf mich wartet. Und deshalb werden wir mal was probieren."

Sie macht daraufhin Übungen mit mir, die ich schon von der ITS her kenne – deswegen stößt sie manchmal einen Überraschungsjauchzer aus, weil es so gut klappt – und auch einige Übungen, die mir noch nicht geläufig sind. Zum Beispiel soll ich ihr die Hände drücken, einmal mit rechts und einmal mit links. Oder den Daumen und den kleinen Finger zu­sammenbringen. Oder mich an den Füßen kitzeln.

"Links ist gut", meint sie hinterher, "nur rechts lässt zu wünschen übrig."

"Mit echts habch übest Pobeme, richtsch", kläre ich sie auf.

"Okay. Morgen komme ich wieder. Um 9.00 Uhr. Dann geht es voll los."

"Ich bi schafafSe. Wie schät issn eigetlich?"

Sie schaut auf die Uhr: "15.l0 Uhr. Tschüss."

*

So, und was tue ich nun? Wieder die obligatorische Frage. Durch die Gegend wandeln kann ich nicht, zum Lesen habe ich keine Lust. Meine Mutter müsste ja gleich kommen. Allerdings bis dahin dazuliegen wie fest geleimt, ist auch nicht mein Ding. Also richte ich mich auf im Bett, was soll ich sonst machen.

In der ITS ging das viel leichter vonstatten. Aber das liegt wohl an den hier anwesenden Kuhlen, durch die man sich vorkommt wie beim Klettern an einer steilen Felswand. Trotzdem kann ich aber von hier aus das Fenster richtig sehen und durchgucken. Was hier aber noch uninteressanter ist. Außerdem saß ich dort am Fenster und nicht paar Meter davon entfernt.

*

Nach einiger Zeit – keine Ahnung wie vieler; auf alle Fälle viel zu vieler – gibt es Abendbrot.

"Wie schät issn?", frage ich die attraktive Schwes­ter, die, wie sie mir erzählt hat, Gabi heißt.

"17.00 Uhr. Erwartest du noch jemanden?"

"Eigetich ja, dodas hasich wohl erledit. Meie Muttr wollaut Telfon heu hier offauchn; abes Telefon is kanntich geduldig."

"Na ja, die Besuchszeit ist schon vorbei, aber sie kommt bestimmt morgen. Ich glaube nicht, dass sie dich hier hängenlässt. Sie ist doch deine Mutter."

"Jaa, dasalelelerdings", erwidere ich bedächtig. Denn in mir drin hat sich ein weiteres Puzzleteil von meiner Beziehung zu ihr gefunden: Sie ist so zuver­lässig wie eine Boa, welche dem Kaninchen erklärt, dass sie es nicht fressen wird. Und scheinbar will sie dieser Offenbarung Nahrung geben, auf dass sie sich noch tiefer in mein Hirn einpflanzt. Auf jeden Fall bin ich jetzt äußerst missgelaunt.

"Kurz, bevoch hekam", erzähle ich nun Gabi, ob­wohl es mir scheint, als wenn die Zeit in der ITS Lichtjahre weit weg liegt, "wolle sesich undingt stei­ten. Meie Schwestr haf dalei. Irgendn – irgendeen Wort sollch sagt ham, was abr ni der Wikichkeit ent­spach. Logischrweis liessch mi dani gefalln. Und so sindse dann eben wüten abzogn."

"War das echt nötig?", will sie wissen.

"Ja, dennan dafja schließich ni vonner Rang­fo-fo-folge ab-wei-ch-ch-en. Also musstichn zeign, wo­sanggeh. Voallm, daichm Recht war."

"Du bist wohl nicht immer im Recht?"

"Kansei, abr behalt es für dich."

Sie lacht: "Muss ich mir noch überlegen. – sage mal, hast du eigentlich Anziehsachen?"

Ich schüttle den Kopf.

"Also möchtest du dich ihr gegenüber ein bisschen beherrschen. Denn hier brauchst du welche."

"Aalsoer Leisatz: Enwedr du bis fo-fogsam, ein­jedn Mis, dench befehl, ausfühen Sonn oder du kommt keene Sachn. Isso?"

"Da gibt es schon andere Möglichkeiten. Nur glau­be ich, du kannst jetzt keinen zusätzlichen Ärger ge­brauchen, hast ja schon genug mit dir zu tun. – So, nun aber guten Appetit!", wünscht sie mir, bevor ich noch Weiteres sagen kann.

Ich beäuge das Abendbrot erst einmal. – Gut, dass ich mir in der ITS was angemampft hab. Denn was ich hier angeboten kriege, ist der reinste Fraß. Tote Oma scheint hier das Hauptgericht zu sein, sie ist dreimal auf dem Teller. Ich bin aber kein Mitglied vom diesem Fanklub.

*

Nach einer Weile kommt Gabi wieder.

"Kanni Naschlag ham?", frage ich sie.

"Du hast doch noch zwei Scheiben drauf, iss doch die erst mal."

Ich verziehe angewidert das Gesicht: "Willt mi vergifn? So schnellaste aalso die Nase voll vommer."

Sie fängt an zu lächeln, folglich kann sie verste­hen, worauf ich hinaus will: "Tut mir leid für dich, aber wir haben nichts anderes da. Also: Essen oder hungern?"

"Hungern."

Sie ergreift Schulter zuckend meinen Teller und verschwindet.

*

Ich habe noch ein bisschen gelesen, jetzt aber die Au­gen zugemacht, allerdings ohne gleich einschlafen zu können. Muss mir itzo eingestehen, dass ich wahr­scheinlich nicht verarscht werde, dass es wirklich ei­nen Unfall gegeben haben muss. Nur – ich kann mich nicht daran erinnern! Doch eine Chance bleibt mir noch: Vielleicht bin ich gar nicht Mike Scholz. Doch wer bin ich dann?? Auf jeden Fall einer, der beschissen dran ist. Kann nicht laufen, schlecht spre­chen, den Körper schlecht bewegen ... Doch wie kom­me ich dann in den Körper? Reingeschlüpft? Blöd­sinn. Ich muss mal in den Spiegel gucken. Will ich das wirklich? Ja, ich will! Ich will Klarheit haben! Ich muss in den ...

2

Donnerstag, 20. September. Vormittag. 09.00 Uhr.

"Na, wie geht's, Herr Scholz?", fragt Frau Miller, die pünktlich erschienen ist und von mir beinahe sehnsüchtig, zumindest aber mit großer Spannung er­wartet wird.

"Ich hoff bessr, wennSe wiedrehn! – Übigns, Sie kömi ruhig Mike nenn. Ich erloubsn."

Sie lacht: "Okay, Mike. Jetzt geht es aber ran an die Arbeit."

Ich soll Sachen versuchen, die der Verbesserung meiner Kraft und Koordination dienen, z.B. Arme he­ben und spreizen, ebenso die Beine. Außerdem brach­te sie einen kleinen Gummiring mit, den man zusam­mendrücken muss, also zur Kräftigung der Finger dient. Und auch noch einen, den man auseinander zie­hen soll. Problematisch, vor allem der zweite. Aber auch, wenn ich nicht Mike Scholz bin, sondern ir­gendjemand anderes, ich muss es hinkriegen, koste es, was es wolle. Denn dann bin ich es dem anderen schuldig!

*

"Soll ich die Ringe hier lassen?", erkundigt sich Frau Miller, am Ende ihrer Session.

"Dasärni schlech, da kanma sich wenstns die Zeit verteibn. Außerdem willi soschne wiemögch weg! Dat kotzt mian hier!"

"Okay, hier sind sie. So, tschüss bis morgen."

Kaum ist die Tür wieder geschlossen, frage ich mich, warum nicht zweimal am Tage. Abgesehen da­von hätte ich mich ja gleich mal erkundigen kön­nen, wie lange ich hier kampieren muss.

Nun gut, dann muss ich es eben morgen machen.

*

Am Nachmittag kommt Pia: "Na Mike, wie geht's?"

"Umsändn entspechn. Aber hierinne isso herich beschissn. Erinnert michirgndwie ande Fottenschü."

"Inwiefern?"

Nachdem ich es ihr erklärt habe und wir eine Rei­he von Küsschen getauscht haben – keine richtigen Küsse, obwohl ich es versuche – Warum nicht? – kommt plötz­lich ein Pfleger herein und verkündet, dass er mich wa­schen will. Wir sollen Schluss ma­chen.

"Ja, wir sind gleich fertig", antwortet Pia.

Ich aber finde es unverschämt, einen damit mitten am Tage bei seinem Besuch zu stören. "Son Misvieh!, befinde ich deshalb, als er sich – nur einen Moment wahrscheinlich – verzogen hat. "Sahso aas, alsenner neidiisch wär. Der will wohouma!"

"Igittigitt!", schüttelt sich Pia von Ekel angefallen; "da könntest du mir ruhig was Besseres anbieten! Doch ..."

"Mizum Beispie?", unterbreche ich sie.

Sie überlegt. "Hm, ja, das wäre eine Möglichkeit. – Doch ich muss jetzt sowieso los."

"Scheiße!"

"Nicht doch, nicht doch. Und du musst mir auch versprechen, wegen jetzt kein Aufstand zu inszenie­ren."

"Zähnirsch ja. Wenndmi mit som schmachtenden Blick ansaust, kannchir donischabschlagn."

Sie teilt mir noch mit, dass sie jetzt nicht mehr je­den Tag kommen könne aufgrund finanzieller Proble­me, deshalb in Zukunft nur noch aller drei Tage, und will dann wissen, ob meine Mutter schon hier gewe­sen sei.

"Ääh, wo denksenhin?! KeeSpur vonnerher äh bis­her. Ichrauch abr meie Kamottn."

Plötzlich gerate ich in Rage, rege mich auf wie eine wild gewordene Furie; kann aber nichts dagegen tun – obwohl ich es nicht möchte; es überfällt mich einfach und nimmt nur zögernd seinen Zugriff wieder weg. So lasse ich mir auch diesmal die übelsten Schimpfwörter einfallen, um meine Mutter zu charak­terisieren, um meine Gefühle ihr gegenüber der Au­ßenwelt deutlich zu machen.

"Mike", möchte mich Pia beschwichtigen, "das mag zwar wahr sein, aber du musst es nicht so direkt sagen."

In dem Moment kommt der Pfleger wieder rein.

"Oh nee, scho wiedr", murmle ich, nur für Pia hör­bar. (Ich nehme es zumindest an, denn ich bin ganz leise geworden.)

"Kann ich ihn nicht waschen?", schlägt sie dem Pfleger vor.

"Dasärne lueneine Idee!", versichere ich sofort lautstark. Stelle mir dabei augenblicklich vor, wie sie zart über meinen Körper fährt, mir das Gefühl des Gestreichelt–Werdens vermittelt, Otto in die Hand nimmt und seine Vorhaut zurü...

"Nein, das geht nicht. Wir haben da unsere Vor­schriften", antwortet der Pfleger bestimmt.

"Er haAgst vodden komischn Fecken, diedaoffm Lakn entstehn könntn", flüstere ich Pia zu und bin mir sicher, dass diese dabei entstehen würden. – Wenn sie dabei noch ihre üppigen Rundungen lüftet, dann ...!

Das bringt sie zum Kichern. Mühsam versucht sie es zu verbergen; aber doch dürfte er es bemerkt haben und steht angemeiert wartend mit vorgestrecktem Bierbauch und der Waschschüssel in der Hand vor meinem Bett.

"Na, dann muss ich wohl." Sie gibt mir noch ein Abschiedsküsschen und geht, allerdings nicht ohne noch einen Blick auf den Pfleger zu werfen, bei wel­chem sie wieder loskichern muss.

"Das kann ja schließlich nicht jeder machen", recht­fertigt er sich, während er mich wäscht, "sich von seinem Besuch waschen zu lassen. Also tut es auch niemand. Schließlich haben wir unsere Vor­schriften; und die sind dazu da, dass wir uns daran halten."

"Ja ja", rede ich beruhigend auf ihn ein. Denn das wäre ja unverzeihlich, wenn er bei mir im Zimmer ei­nen Herzinfarkt bekäme. Da würde ich mich Zeit meines Lebens grämen.

*

Am Abend stelle ich Gabi die mich zurzeit am meis­ten beschäftigende Frage: "Wasoubstn, wielange werdchn hier drinneleibn müssn?"

"Na ja, ich bin ja kein Experte. Aber – willst du meine Meinung hören oder die, die in den Schulbü­chern steht?"

"Deie natürch! Sonst hättchjani gefagt!"

"Also – es ist unterschiedlich. Es kann vier Wo­chen dauern, zwei oder vier Monate, aber auch ein halbes Jahr. Manchmal sogar ein ganzes Jahr."

"Un wielange wirds bei mir dauen?"

"Das kann ich dir eben nicht sagen. Zum Teil hängt es von dir selbst ab."

"Allo anklotzn. Sis offedenfall niunmögich, in vier Wochn rauszusei?"

"Ich sehe, du hast es richtig kapiert. – Übrigens, war deine Mutter heute da?", wechselt sie das Thema. Und nachdem ich verneint habe: "Langsam wird das bedrohlich wegen deiner Anziehsachen. Wenn sie nächste Woche immer noch nicht da war, werden wir ihr die Fürsorge auf den Hals schicken."

"Fürsorje? Was isn dat?"

"Etwas Amtliches. Da kriegt sie auf jeden Fall gro­ßen Ärger.

Klingt gut. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass sie mich hier hängen lässt. Feuern aus allen Rohren. Und ich werde mich darum bemühen, ein paar Rohre aufzutreiben.

*

Kurz vor dem Einschlafen ziehe ich mein Tagesfazit: In vier Wochen kann ich also raus sein! Noch vier Wochen, an denen ich ganz hart arbeite muss! Doch dann kann und werde ich dem Mist hier mein Winke–Winke geben. Vier Wochen noch und dann werde ich endlich wieder frei sein!

3

Sonntag, 23. September. Abends.

Gabi – die ich mittlerweile zu meiner Lieblings­schwester gekürt habe – erscheint mit einem Rollstuhl in der Tür.

"Na, hast du Lust, zum Essen am Tisch zu sitzen?", fragt sie mich.

"Ich halLust", strahle ich und versuche mich zu er­heben.

"Nicht so hastig, Mike. Es geht sofort los." Und hievt mich aus dem Bett.

Blödes Gefühl, im Rollstuhl zu sitzen. Zu den Gleich-Großen oder auch Kleineren, eigentlich zu al­len, schaut man auf wie zu Außerirdischen überlege­ner Intelligenz. Man kommt sich vor wie von der Ge­meinschaft ausgestoßen – Vielleicht ist man es dann auch?? –, wartet darauf, dass sich mal jemand er­barmt, sich zu dir herunterzubeugen und dir zuzuhö­ren. Nee, an den Rollstuhl werde ich mich nie gewöh­nen können. – Wo kommt auf einmal der blöde Ge­danke her? Es besteht doch überhaupt kein Zweifel daran, dass er nur eine Übergangslösung ist! Dass er mich nur befreit vom Essen im Bett! Ich mag zwar Frühstück im Bett, doch hat das hier ja wohl über­haupt nichts damit zu tun. Ich habe es nur ganz ein­fach satt, tagein, tagaus und dazwischen auch ständig im Bett zu hocken.

*

Nach dem Essen hat sie mich im Fernsehraum abge­stellt. Dort schaut sich gerade eine Gruppe Patienten, die auf den vor einem Plattenspieler mit Radio ste­henden Sesseln sitzen, auf dem Farbfernseher irgend­eine Klatschserie an. Aber ich widme mich etwas viel Wichtigerem: Ich schaue in mich hinein, in der Hoff­nung, etwas Neues zu entdecken, vielleicht sogar et­was darüber herauszubekommen, wo ich jetzt stehe, und in die Zukunft zu sehen, was als nächstes auf mich zukommt, wie ich es lösen werde: Eines ist mir klar geworden: Auf meine Mutter brauche ich nicht zu hoffen. Zwar dürfte ich auch einen mehr oder min­der großen Schuldanteil besitzen, doch mir scheint, sie betrachtet mich nicht mehr als vollwertiges Be­standteil ihrer Umgebung. Und ich glaube – nein, ich weiß es, ich kann mich wieder sehr, sehr dunkel dar­an erinnern –, dass sie früher schon darunter gelitten hat, mich zu akzeptieren, und so dürfte sie jetzt noch vielmehr darunter leiden, dass sich daran nichts ge­ändert hat. Aber was ist eigentlich nun mit mir pas­siert? Sollte das mit dem Unfall etwa stimmen? Dann müsste ich ja einen totalen Filmriss haben. Und neh­men wir mal an, es stimmt, was mir da drüber erzählt worden ist, so lässt sich doch keine Schlussfolgerung daraus ziehen, tauchen nur Schemen auf, kein Bild aber. Okay, ich glaube, von der Annahme, dass ich verscheißert werde, kann ich abgehen. Da würden zu viele mit drinnen hängen. Was zu sehr nach irrealem mieft. Allerdings – was ist hier noch real? Was von dem, was jetzt über mich hereingestürzt ist, gehört nicht in die Märchenwelt? Keine Ahnung. Kommt auch davon, dass ich mich an nichts erinnern kann, was letzen Monat passiert ist. Mache ich mir vielleicht selber etwas vor? Möglicherweise bin ich doch gar nicht Mike. Aber das ist doch wieder der Punkt, an dem ich mich schon tausendmal geklammert habe. Es bleibt dabei: Ein Blick in den Spiegel muss her. Um erst einmal über eine Seite Klarheit zu bekommen. Und das muss sehr bald geschehen.

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