Read the book: «Ein ganz böser Fehler?», page 4

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Sonnabend, 15. September. Vormittag. Visite.

"Herr Doc, fol-äh-gend--es Probem: I möch näch­ses Wochnend Ulaub bekommeen!" Während ich ihm das sage, bin ich enorm aufgeregt, versuche aber, mir das nicht anmerken zu lassen, weil ich glaube, damit meine Erfolgschancen zu schmälern.

Verdutzen quillt nun zu mir herüber. "Was wollen Sie – Urlaub??", scheint er so ein Ansinnen noch nie gehört zu haben. "Das würden Sie doch gar nicht durchstehen!"

"Warumi? Es gidoch für alles e-e-ei-ne Lösung!" Und wenn sich bewahrheiten sollte, was hier drin mit mir los ist, wäre es die Todeslösung. Und die muss nicht die schlechteste sein. "Lassmers do ein--fach droffakomm!"

Von diesem Vorschlag scheint er nicht so begeis­tert zu sein, will es sich aber noch einmal überlegen. "Fragen Sie bei Gelegenheit wieder nach." Und ver­lässt kopfschüttelnd den Raum.

*

Nachmittag.

Meine Mutter und meine Schwester sitzen vor mir. Und haben mir gerade erzählt, dass die Turnschuhe 60 DM gekostet hätten.

"Wiiieeeviiieeel?", reiße ich die Augen entsetzt auf. "Paar 5,40-DM-Tunnschuh häddo ouch gedan." Fehlt nur noch, dass ich die bezahlen soll.

Doch meine Mutter ignoriert meinen Einwand; da­für ist jetzt ihr Grüßereport an der Reihe, bei dem es mich schon wundert, dass sie die Namen nicht von ei­nem Zettel abliest. – Das ist doch öde, furchtbar langweilig, sinnlos. Ich kann da schon hören, wie ge­jammert wird: "Ach, der Arme, der muss so leiden. Ach herrje." Und wenn keiner zuhört, wird dann ge­flüstert: "Gut, dass mich der böse Wolf nicht gefres­sen hat." Oder ähnliches. Doch niemand kommt auf die Idee, mir erst einmal zu sagen, warum er eigent­lich so ein mitleidiges Geheul loslässt.

Plötzlich werde ich aus meinen Gedankenspielen, die mich leider doch keinen Schritt voranbringen, her­ausgerissen: "Hier sind Briefe für dich."

Im eigentlichen sind es nur zwei, einer davon von irgendeiner Uni in Bezug auf ein Fernstudium – habe ich mich für eines beworben? –, doch der andere scheint interessanter zu sein. Denn auf dem Absender steht ein holländischer Name, welcher mir irgendwie bekannt vorkommt: Yvonne van Rikeers.

"Ich habe die Briefe schon aufgemacht, hätte ja was wichtiges drin stehen können", bringt sich meine Mutter wieder zu Gehör.

Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber warum soll ich mich deswegen aufregen? Ist ja eh schon pas­siert. Aber der Brief ist noch im Kuvert und das ist die Hauptsache.

Ich fange an, ihn zu lesen.

Sehr Interessantes beinhaltet er: Sie lädt mich über Weihnachten und Sylvester ein, zu sich nach Holland zu kommen. Und jetzt weiß ich auch wieder, wer das ist: Wir hatten uns kennengelernt durch eine Zeitungsannonc­e – glaube, im April war das – und seit­dem schreiben wir uns. Sie studiert derzeit in Neubrand­enburg Deutsch; ich habe allerdings nicht die geringste Ahnung, wie sie aussieht. – Sie kann stock­hässlich sein, kann aber auch irgendeiner Puppe in Werbeprospekten ähneln. Ich weiß es nicht! Kann mich auch nicht daran erinnern, jemals ein Bild von ihr bekommen zu haben. Ich weiß es einfach nicht. Komisch? Komisch.

Meine Mutter will nun wissen, ob ich den Absen­der kenne. Und als ich bejahe, wer das ist: "Deine Be­kanntschaften sind scheinbar international. Wieso er­fahre ich nichts davon?"

Verwundert schaue ich sie an: Kann mich nicht er­innern, ihr das schon jemals gesagt zu haben. Mich interessiert es doch auch nicht, mit wem sie ins Bett steigt. Also hat es sie auch nicht zu interessieren, wer es bei mir ist. Ich kann mich noch sehr gut daran er­innern, wie sie mir mein erstes Zusammensein mit ei­nem Mädchen zerstört hat, als sie früh in mein Zim­mer stürmen wollte und eine wilde Szene machte, weil ich wohlweislich zugeschlossen hatte. Solchen Auf­tritten habe ich dann aber einen Riegel vorgescho­ben, indem ich ihr klipp und klar sagte, dass sie das absolut nichts angeht. Und das soll auch so bleiben. Dann muss sie das eben wieder gesagt kriegen, damit sie sich daran erinnert.

Daraufhin greift meine Schwester ein: "Ist dir schon bekannt, dass sie sich im Betrieb immer frei­nehmen muss, damit sie zu dir kommen kann?"-Mo­ralpredigt.

"Nö", brabbel ich. Doch ein reuevolles Gesicht zu ziehen, will mir nicht gelingen.

"Da könntest du ruhig ein bisschen dankbarer sein!", ermahnt mich meine Schwester weiter."

"Hm", brumme ich, bin viel mehr damit beschäf­tigt zu ordnen, was in mir vorgeht: Die Pforte hat sich weit geöffnet. Und lässt eine Flut von Erinnerung­en hinausströmen, die mir zeigen, dass die vorherigen klaren Fragmente nur ein Vorgeplänkel waren. Alles steht unter der Überschrift: 'Ich, das letzte Stück Dreck bei ihr in meiner Kindheit!' Plötz­lich ist mir auch klar, dass es für meine Mutter nicht so schlimm sein kann, sich von der Arbeit abzuseilen. Denn den Fleiß hat sie ja wahrlich nicht erfunden. Möglich, dass sie sich öfters in eine Ecke stellt und wartet, bis der Arbeitsanfall vorbei ist. Zu Hause macht sie das jedenfalls meistens.

Auf einmal dringt die schimpfende Stimme meiner Schwester an mein Ohr: "Was?? 'Warum'??"

Was ist jetzt los?

Ich schüttle den Kopf, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden. War wohl zu sehr in die Erinne­rungswogen versunken. Doch als mir klar wird, wor­um es geht, spüre ich eine noch stärkere Wallung in mir aufsteigen.

"He!", weise ich sie zurecht. "Du dir wieder mal die Ohr wasch-en! Ich ni-cht – äh – ich hab nicht 'warum', sonnern 'hm' gsagt!"

"Ich höre nicht falsch! Du hast echt 'warum' ge­sagt!"

"Komma zrück offn Dampfer", fordere ich sie auf, "dannannse weiterrädn." Ich sitze zwar nur noch auf einer Klippe, das Land ist nicht in Sicht, doch schein­bar will sie mich auch noch von der herunterstoßen.

Plötzlich erwacht meine Mutter aus ihrer Lethar­gie: "Mike, jetzt reicht es aber! Du hast wirklich 'war­um' gesagt! Brauchst es nicht erst abzustreiten!"

"Oh nein", stöhne ich auf und falle zurück. Und muss erkennen: Ganz neu bei meiner Mutter, dass sie auf jemandem herumhackt, der vor ihr sitzt. Aber wahrscheinlich denkt sie, dass ich jetzt wehrlos bin und nach ihrem Kommen bettle. Da hat sie sich aber gewaltig geschnitten. "Die Mutter zu sein gibt ihr noch lange nicht das Recht, mit mir umzuspringen, wie es ihr gerade passt", brüte ich tonlos vor mich hin. Und – ist nicht vielleicht sie an dieser Scheiß–Misere schuld, hat es veranlasst, dass ich hier drin hocke? Nur – wie das jetzt läuft, dürfte es nicht ge­dacht gewesen sein: Der böse, böse Sohn lehnt sich auf. Niemand mehr zum Dreck-Wegräumen. – Denn meine Schwester macht es auch nicht. Ist aber eigent­lich normal. Denn sie war ja immer das Hätschel­kind, brauchte nie irgendwas zu machen.

"Wenn wir wiederkommen sollen, wirst du dir überlegen müssen, wie du uns gegenüber auftrittst!"

*

Wieder allein. Aber immer noch bin ich so wütend, dass ich irgendetwas in Asche kloppen könnte. Das verwundert mich. Denn vor gar nicht so langer Zeit war dies für mich völlig untypisch, da blieb ich auch bei so einem Thema ruhig und wurde zynisch. Doch jetzt bin ich davon weit entfernt. Merkwürdig. Aber – bin ich überhaupt Mike Scholz? Doch so viele Leute, wie hier sind, die können doch nicht alle in einem Komplott drinnestecken! Und was für einen Grund sollte man dazu haben? Arbeitet meine Mutter plötz­lich hier und lässt sich nur ab und zu bei mir blicken, damit es nicht auffällt? Will man mich hier etwa ver­faulen lassen? Was hat Pia damit zu tun? Fragen über Fragen – schon wieder –, doch ich weiß keine Antwort! – Schon wieder. – Nur eine: Ich kann nie­manden danach fragen, sonst stecken die mich wirk­lich in eine Klapper.

Ich greife nach einem Buch und beginne zu lesen.

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Sonntag, 16. September. Früh. Visite.

"Guten Morgen", begrüßt mich der Chefarzt. "Sind die Bauchschmerzen weg?"

"Schein so." In der Nacht spielten paar Trampeltie­re in der Nähe meines Magens Hascher, was für mich ziemlich unangenehm war. Erst irgendwelche Trop­fen ließen mich zu Morpheus zurückkehren.

"Na ja, Sie werden sich überfressen haben. Nichts weiter."

Ich muss unwillkürlich grinsen. Klingt so – na ja, ich weiß nicht wie, auf jeden Fall regt es mich zum Grinsen an.

Er will nun gehen, doch ich habe noch ein sehr wichtiges Thema auf dem Herzen: "Ich äh hab gesten schoma davoon gesprochn unich soll noma nach­fragn: Wie siehsaus – bekommich Urlaub nächses Wochende?"

Alle Ärzte und Schwestern lächeln einander zu. Dann ergreift der Chefarzt wieder das Wort: "Ich wollte es ihnen ja eigentlich erst morgen sagen, doch sie fordern mich ja förmlich dazu auf. Also" – er schaut noch einmal durch die Runde – "am Mittwoch, den 19.9. werden Sie uns verlassen. Dann kommen Sie in das Rehabilitationskrankenhaus Großbüchen. Und dort können Sie dann Urlaub beantragen."

Diese Neuigkeit hat all meine Gedanken an andere Sachen erst einmal fortgescheucht, ich muss das eben Gehörte zunächst verarbeiten. Doch meine Freude ist riesengroß: Endlich raus hier, fort von diesem Ort; dann werde ich ja sehen, ob das, was mit mir hier los ist, einen realen Anspruch hat.

Doch Fragen habe ich noch: "Wie langerdich da­drin bleibn müssn?"

"Bis Ihre Sprache und das Laufen wieder herge­stellt sind."

"Wie lang wirdsauern?"

"Das weiß ich auch nicht. Denn das hängt ganz von Ihnen ab. Allerdings so, wie Sie sich hier aufge­führt haben, wird es nicht allzu lange dauern." Er ver­abschiedet sich jetzt ganz schnell, als wenn seine Frau mit dem Nudelholz wartet, sollte er zu spät kommen. Doch mir ist klar, dass ich der wahre Schuldige bin.

Am Mittwoch werde ich hier verschwinden. Am MITTWOCH! Und dann – dann werde ich schleu­nigst den Rückzug aus dem Rehabili-Krankenhaus antreten. Und dann? Was nach dann-Zwei ist, werde ich sehen.

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Montag, 17. September. Nachmittag.

Alles war wie immer: Krankengymnastik zweimal – bei der ich jetzt den rechten Arm und das rechte Bein langsam, kraftlos, aber doch etwas bewegen kann, die linke Seite ist von der Flexibilität her wie­der fast vollständig einsetzbar – fleißig riskieren, schreiben üben, lesen, Gehschule fordern und einmal bekommen; und doch ist seit gestern alles anders: Ich habe das Ende in Sicht, bin wie verwandelt – sprühe deswegen vor guter Laune, sehe alles etwas lockerer, nicht mehr so verbissen.

Jetzt aber sitze ich zusammen mit meiner Schwes­ter im Besucherraum. Und was mich sehr wundert, dass sie heute nicht den Geleitschutz für meine Mut­ter darstellt.

"Wasnit Mutti los? Warm bistn äh alleen?", will ich deswegen wissen.

"Die ist noch sauer wegen Sonnabend. Wirst dein Benehmen wohl doch ändern müssen."

Ich werde dadurch noch einmal in das Dilemma hineingetaucht und mir wird fast schlecht dabei. "Eh am Sonnamd habi eh ni 'warum' gsag."

"Von mir aus. Genau genommen ist es mir egal."

Plötzlich fällt mir ein, dass ich ihr Bescheid sagen muss wegen Mittwoch.

"Ich sag's Mutti mit", lässt sie daraufhin von sich hören.

Ihr Tonfall versetzt mich aber in gereizte Stim­mung. – Das klang wie: "Na gut, ich sage es ihr bei Gelegenheit. Verlass dich aber nicht darauf, dass es umgehend geschieht." – Und deswegen schustere ich mir etwas zusammen, um nachzustoßen.

Ich mache den Mund auf, damit die Worte den Ausgang finden können, da werde ich plötzlich darin gestört: Die Tür öffnet sich.

Ich schaue auf die über mir hängende Uhr, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Besuchszeit schon vorbei ist – und richtig, es ist erst zwölf nach vier!

"Was ..." Ich breche mitten im Satz ab, denn jetzt sehe ich, wer eintritt: Pia! Sie hatte ich heute nicht im geringsten erwartet.

"Mike, was wolltest du gerade sagen?"

"Äääh – wasür wunschöner Nammtag", fällt mir nichts Besseres ein.

"So so. Na ja, wenn einem nichts mehr einfällt, muss das Wetter herhalten. Ich komme wohl ungele­gen?"

"Nieee!", beteuere ich.

"Kann man das glauben?", schwingen in ihr noch Zweifel – scheinbar, denn sie lächelt schon.

Ich lege meine linke auf die Brust, senke meinen Blick und verleiere etwas die Augen, so dass ich aus­sehe wie ein Unschuldslamm, das soeben geboren worden ist.

Endlich hat sie ein Einsehen, gibt mir einen Begrü­ßungskuss, meiner Schwester die Hand und setzt sich zu uns.

Ich erkenne, meine Schwester stört. Ich habe keine Anstandsdame bestellt, welche immer schön fleißig die Kerze hält. Folglich muss ich sie irgendwie rause­keln. Und ich weiß auch schon wie.

"Um a vor--hin zurückzukomm – wieso sollich mei Benimme ändn? Besteh da irgendn Gund dazu? Ihrüsst doch schließ--lich einsehn, wennirechtab. Ich mir keener Schul bewuss."

"Einen Anteil Schuld hast du schon. Du weißt doch, wie sie ist. Da hättest du sie doch nicht erst dazu auffordern müssen." Ihre Stimme wird lauter.

Ich merke schon, ich muss noch eine klitzekleine Kelle nachlegen: "He he he, fanga an nachzudengn. Die Hautschud trächt dowohldu. Hästonierst mitter Kacke anfang müss-en."

Jetzt wird sie wütend: "Heißt das etwa, dass ich auch gehen soll?"

Ich fühle, wie mich das schon verloren geglaubte Gefühl des Zynismus ergreift: Lehne mich lässig zu­rück und fange an, höhnisch zu grinsen. "Nix dagegn", lasse ich sie hören.

"Na gut!", schreit sie mich an. Dann springt sie auf, reißt die Tür auf, rennt fluchend hinaus und knallt dabei die Tür wieder zu.

"Warum hast du das gemacht?", schaltet sich jetzt Pia ein. – Sie weiß, was am Sonnabend geschehen ist, ich habe es ihr gestern erzählt. – "Ich wage zu be­zweifeln, dass sie bei dieser Abfuhr jemals wieder­kommt."

Und auch in mir bringt sich die Opposition zu Ge­hör: War das wirklich nötig? Hättest du sie nicht ganz normal bitten können, dich für heute zu verlas­sen? Sie hätte es bestimmt verstanden, ist doch nicht deine Mutter.

Doch ich wische diesen Einwand weg, verweigere ihm das Stimmrecht: "Die mumerkn, wosanggeht, dassch mirnialls gfalln lass."

"Mag ja sein. Aber musstest du es ihr gleich so deutlich zu verstehen geben?"

"Eeh", weise ich sie darauf hin, "wärich dodal deut--lich gewäsn, hättch zuir gsagt: 'Verpissich!' Denni wollt mitir alleisein."

Ihre Gesichtszüge enthärten sich. "Aber das nächs­te Mal beherrscht du dich. Versprochen?"

"Ich versuch."

Damit habe ich dieses Thema in die Rumpelkam­mer geschickt; nun sind wir allein und genießen das.

*

Abendessen. Feierabend für heute.

Im Zimmer ist ein neuer Patient. Er soll laut Schwestern ein ziemlich schwerer, annähernd hoff­nungsloser Fall sein.

Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass er so was wie ein Miesepeter ist. Sieht auch recht un­sympathisch aus, der Kunde. Oder wird von den Schwestern was anderes gemeint mit "wird nicht mehr"? Ach, egal, was geht es mich an? Übermorgen verschwinde ich hier. Und nach mir die Sintflut.

*

Ich schlafe. Plötzlich merke ich, wie mir etwas den Hintern entlang kraucht.

Möglicherweise ist das der neue Alte, dem traue ich das zu. Sein Bild will mir nicht aus dem Sinn ge­hen.

Ich schlage mit der linken Hand nach hinten. Und bleibe an der Hose hängen.

Hä, was ist das??? – Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch – eigentlich logisch, denn seit ich hier bin, habe ich noch nie ein Ei gelegt. Dann wird man auch noch von diesem Alten geistig manipuliert. Was mache ich jetzt? Geht ja wohl nur klingeln, ääh, denn damit schlafen kann man ja schlecht.

Ein Pfleger kommt: "Was ist los? Warum klingelst du?"

Mann, ist das peinlich! – Ich beschließe, auf die Zeichensprache zurückzugreifen und zeige nach hin­ten.

Er muss es richtig analysiert haben, denn er fängt an zu fluchen. Dann ruft er eine Schwester herbei und holt neue Sachen.

"Tumi furch--bar traurig unis mir unheim--lich peilich, arder Alte darüben hat mich mani-äh-ma­ni-äh-puliert", versuche ich mich leise und mit schüch­ternem Tonfall zu rechtfertigen, denn weder für die Schwester noch für den Pfleger dürfte es ein Genuss sein, mir die Musrinne auskratzen zu müssen; und mir selber macht das auch keinen Spaß.

"Ich möchjetz off Tolte, damits ninoma paiert."

"Das möchte ich auch hoffen. Hier hast du einen Nachtstuhl."

Ich schweige. Sitze nur noch bedrückt da – wobei mir der Blödsinn klar wird, den ich gerade dem Pfle­ger erzählt habe: – Scheißen tust du selber, niemand anders; oder meinst du, dir hält jemand ein Saugrohr ans Arschloch??

Aber es bleibt beim Versuch. Darum lasse ich mich zurück ins Bett fallen.

12

Dienstag, 18. September.

Als ich früh aufwachte, fiel mir sofort wieder ein, was letzte Nacht geschehen war. Das Peinlichkeitsge­fühl stieg in mir erneut auf, wollte mich schier erdrüc­ken, machte mir klar, dass es die ganze noch verbleib­ende Zeit über mich herrschen würde. Mir kam es auch so vor, als wenn jede Schwester verächtlich auf mich gucken würde. "Zum Glück ist es bloß noch ein einziger Tag, den ich hier aushalten muss", redete ich mir immer wieder ein. "Aber dieser eine wird wahr­scheinlich so schmerzen, als wenn man bei Bewussts­ein in einem kurz vor dem Zerschmelzen ste­henden Kessel gegart wird."

Der Pfleger, der die Krankengymnastik leitet, frag­te natürlich auch nach der gestrigen Nacht. Und ich fand es toll, dass er darüber im Bilde war.

"So schlimm ist es doch nicht", meinte er, als ich es ihm mit Worten geizend erzählt hatte. "Kann halt mal passieren."

Ich hätte ihn anschreien können: "Das hat aber nicht zu passieren!", doch ich ließ es. Befinde mich heute nicht in der Stimmung, Widerstand zu leisten; will mich am liebsten einbuddeln in den Boden, das letzte Nacht hier Passierte wegschließen und den Schlüssel ganz weit, unauffindbar für jedermann, wegwerfen. Auch verzichte ich heute darauf, den Schwestern auf den Geist zu gehen. Ich verschanze mich im Bett, lese oder übe schreiben. Und kann mir vorstellen, für die Schwestern muss das eine wahre Erholung sein.

Doch eine Schwester ist davon nicht so begeistert. Nach dem Mittagessen fragt sie mich, warum ich heu­te so schweigsam sei. Ich erzähle es ihr stockend und erwarte sofort eine strenge Rüge; hätte mich auch nicht gewundert, wenn als Schlagzeile am schwarzen Brett im Krankenhaus erschienen wäre: In der Nacht vom 17. zum 18.9. schiss Mike Scholz sich ein! Schä­men soll er sich!

"Nimm es nicht so tragisch, das kann doch jedem mal passieren", versucht sie jedoch, mich wieder auf­zurichten. "Lass wieder ein paar Sprüche raus, man vermisst sie ja richtig."

"Na ja", stoße ich aus mir raus, überrascht und ein klein wenig gelöster, doch immer noch eine Spur misstrauisch, "wenn demidrum bittest, musschjawohl. Aer dafür, wasde mir grad gsagt hast, vielen Dang! Du könntst deie Brötchen ouals Pch--Ps--Ps--sycholo­ge verdienen. HasTalet dazu."

Sie lächelt: "Muss ich mir noch überlegen. – Willst du wieder ans Fenster?"

"Gehschul wärmir lieber."

Sie lacht lauter: "Okay, wir laufen zum Fenster. Einverstanden?"

"Zum Tisch wärmir lieber."

*

Am Abend erfahre ich dann noch, dass meine Mutter angerufen und gesagt habe, sie komme mich am Mitt­woch in Großbüchen besuchen und bringe mir dann Wäsche mit. Worauf ich mich freue.

13

Der letzte Morgen – Mittwoch, 19. September.

Ich bin unheimlich nervös. Denn noch sitze ich nicht draußen, sondern nur in der Nähe des Ausgan­ges. Ich traue dem Frieden nicht, glaube erst, dass es wirklich passieren wird, wenn ich es sehen kann. Zwar bin ich nicht mehr im Bett und eben dieses Bett wurde schon neu bezogen, und auch mein weniges hier befindliches Hab und Gut wurde schon zusam­mengepackt, doch ich bin noch nicht weg hier. Und genau das ist entscheidend. Denn dann werde ich se­hen, ob es stimmt, dass ich nicht mehr laufen kann.

Plötzlich wird mir von den Schwestern gesagt, dass jetzt der Abschied gekommen sei. "Gute Besse­rung, Mike! Und komme uns mal besuchen, damit du uns erzählen kannst, wie das dort mit dem Laufen ge­macht wird."

"Okay. Un ihr wa sehr nett. Tschüs-si!"