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Michael Weger

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Die Teile der Liebe

Roman


Michael Weger


Die Teile der Liebe

Roman

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage 2016 | Originalausgabe

Copyright © 2016 Sheema Medien Verlag,

Inh.: Cornelia Linder, Hirnsbergerstr. 52, D - 83093 Antwort

Tel.: +49 (0)8053 – 7992952, Fax: +49 (0)8053 – 7992953

www.sheema-verlag.de

Copyright © 2016 Michael Weger | www.michaelweger.com

Ebook ISBN 978-3-931560-82-9

EPDF ISBN 978-3-931560-83-6

ISBN Buch-Ausgabe 978-3-931560-63-8

Coverabbildung: © shutterstock | repbone

Autorenfoto: © Isabella Weitz | www.isabellaweitz.com

Umschlaggestaltung: Sheema Medien Verlag, Schmucker-digital | schmucker-digital.de, Patrick Connor Klopf | bluepepper.at

Gesamtkonzeption: Sheema Medien Verlag, Cornelia Linder

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim | www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten. Das gesamte Werk ist im Rahmen des Urheberrechts geschützt. Jegliche von Autor und Verlag nicht genehmigte Verwertung ist unzulässig. Dies gilt auch für die Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische und digitalisierte Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische Medien, Internet, sowie auszugsweisen Nachdruck und Übersetzungen. Anfragen für Genehmigungen im obigen Sinn sind zu richten an den Sheema Verlag unter Angabe des gewünschten Materials, des vorgeschlagenen Mediums, gegebenenfalls der Anzahl der Kopien und des Zweckes, für den das Material gewünscht wird.

Haftungsausschluss: Dieses Buch dient keinem rechtlichen, medizinischen oder sonstigen berufsorientierten Zweck, sondern ausschließlich Unterhaltungs- und Bildungszwecken. Die hier gegebenen Informationen ersetzen keine fachspezifische Beratung oder Behandlung. Wer rechtlichen, medizinischen oder sonstigen speziellen Rat oder Hilfe sucht, sollte sich an einen geeigneten Spezialisten wenden. Autor und Verlag übernehmen keine Haftung für vermeintliche oder tatsächliche Schäden irgendeiner Art, die in Verbindung mit dem Gebrauch oder dem Vertrauen auf irgendwelche in diesem Buch enthaltenen Informationen auftreten könnten.

Für Isa, Luc und die Rebellen

Mag sein, die Strudel reißen uns hinab.

Mag sein, wir landen an den glücklichen Inseln.

Wird uns auch manches genommen,

so erwächst uns doch viel.

Und haben wir oft nicht mehr die Kraft,

die einst den Himmel und die Erde hat bewegt –

wir sind doch, was wir sind:

die immer gleiche Glut heroischer Herzen,

durchdrungen von Zeit und Schicksal,

stark im Willen, unverzagt zu kämpfen,

zu suchen und zu finden, irgendwann.

(Homer, Odyssee, um 790 v. Chr.)

Spalte ein Stück Holz und ich bin da.

Heb` einen Stein auf und du wirst mich finden.

(Thomasevangelium, Logion 77, um 150 n. Chr.)

Im siebten Himmel befinden sich Gerechtigkeit und Recht,

Reichtum und Heil, die Schätze des Lebens,

die Schätze des Friedens und die Schätze des Segens,

die Seelen der Gerechten, die Geister,

die Seelen derer, die einst geboren werden,

und der Tau, der einst die Toten beleben wird.

Gefunden sind fernerhin: die Ophanim, die Seraphim,

die heiligen Tiere, die Dienstengel

und der Thron der Herrlichkeit.

(Talmud, Hagiga II,1; 12b, 0 bis 800 n. Chr.)

I

Die Schatten der Krieger

1

Der junge Mann war in Rom angekommen.

Er stand vor dem Kolosseum und starrte in den Himmel. Das helle Blau hing wie ein unwirklicher Baldachin über dem baufälligen Wahrzeichen.

Richtung Süden zog ein Großer Brachvogel vorbei.

Im Westen türmten sich Gewitterwolken.

Es würde Regen geben.

Vorsichtig betrat er einen der Bogengänge, die in das Innere des Amphitheaters führten. Das Gewölbe erweckte den Eindruck, als könnte es jeden Augenblick Brocken der Mauern auf ihn herabstürzen lassen. Er zog den Kopf ein und beeilte sich, die gefährlichen letzten Meter schnell hinter sich zu bringen.

Am Eingang der Arena hielt er inne und sah sich um. Traurigkeit stieg in ihm hoch und mit ihr Erinnerungen an die vielen trostlosen Erlebnisse und ähnlichen Anblicke im Laufe seiner langen Reisen.

So viel Verwahrlosung und Elend hatte er in der ewigen Stadt nicht erwartet, im Gegenteil: Er war guter Hoffnung gewesen, endlich sein Ziel zu erreichen.

Was ihm jedoch begegnete, schien das erlebte Grauen noch zu übertreffen.

Oder täuschten ihn seine Sinne? War er einfach zu hungrig, zu erschöpft und leer, um all der Not ein weiteres Mal gewappnet entgegenzutreten?

Wellblechdächer armseliger Quartiere, vor Jahren als Notlösung errichtet, hatten sich über morschen Holzbalken abgesenkt und waren zusammengefallen. Davor reihten sich, unter verschlissenen Planen, Lager aus Pappkartonagen, voll von vermodernden Konservendosen, Stofffetzen, Unrat – würdelose Behausungen, die jeder zivilisierten Kultur spotteten.

Männer und Frauen, allen Alters und aller Hautfarben, saßen teils dicht gedrängt in Gruppen beieinander, mit gesenkten Köpfen über angezogenen Knien, die sie umschlungenen hielten, als wollten sie mit letzter Kraft einen Funken Geborgenheit heraufbeschwören.

Mütter reichten ihre Säuglinge an jene weiter, die noch stärker und genährt genug schienen, um die schreienden Bündel mit wenigen Tropfen Milch aus ihren Brüsten am Leben zu erhalten.

Etwas abseits spielten die älteren Brüder und Schwestern, stellten, mit Holzstöcken in dünnen Händen, alte und neue Kriegsszenarien nach. Sie hatten sich einige Jahre länger ins Dasein gerettet, hieben aber, als wollten sie es trotzig beenden, wild aufeinander ein. Traf sie ein Hieb, flohen sie, versteckten sich, preschten hervor, stürzten erneut ins Getümmel, fielen wieder, rappelten sich hoch und kämpften weiter. Hätten sie echte Waffen in Händen gehalten, ihr Spiel hätte nicht anders ausgesehen. Denn obwohl es weithin, als einzige Szene dieses Dramas, etwas von Leben versprühte, handelte es nur vom Tod. Und der Zorn der Kleinen, gespeist aus der Not, befeuert vom Elend des täglichen Überlebenskampfes, stand jenem ihrer Väter und Brüder, die lange zuvor, irgendwo in der Welt, gefallen waren, um nichts nach. Das hatten sie erlebt – und nur davon konnten ihre Spiele zeugen.

Der junge Mann stand noch immer am Eingang der Arena – erschöpft, sprachlos, den Tränen nahe.

Vergeblich hielt er nach Hilfskräften Ausschau, nach Sozialarbeitern, Dolmetschern, Sanitätern oder Ärzten, denen er auf seinen Reisen, an Orten wie diesen, stets begegnet war. Er hatte den Glauben nie aufgegeben, vielleicht ja gerade an den traurigsten Plätzen der Welt, jene beherzten Menschen anzutreffen, jene Rebellen der Hoffnung, nach denen er auf der Suche war.

Erst als sein Blick an der gegenüberliegenden Seite der Arena auf eine Menschenschlange fiel, wurde er fündig. Einige Frauen und Männer verteilten Suppe aus großen Plastikeimern, andere winkten Kranke und Verletzte zu sich.

Was er aus der Entfernung jedoch beobachten konnte, gab ihm wenig Zuversicht: Auch ihre Gesichter waren fahl, ihre Augen leer, die Bewegungen mechanisch, teilnahmslos. Das Mehr an Lebensenergie, das es brauchte, um neben routinierten Handlungen etwas an Wärme, Obhut und Nähe zu spenden, war ihnen scheinbar schon lange verloren gegangen.

Trotz allem entschied der junge Mann, nicht aufzugeben, schritt die gut neunzig Meter über den Platz und reihte sich in die Schlange ein.

Stunden später, es dämmerte bereits, saß er neben den anderen Fremden an einer der offenen Feuerstellen auf dem Boden und schöpfte mit trockenen Brotstücken Suppe aus einem Metallteller. Das gab ihm ein wenig Kraft zurück.

Die Kapuze seines bodenlangen Mantels hatte er tief über die Stirn gezogen. Der widerstandsfähige Stoff bot Schutz vor Hitze und Kälte und würde auch den Regenströmen des aufziehenden Gewitters standhalten, das nun bedrohlich schnell näher kam.

Es war still in der Arena.

Die Kinder hatten ihre Spiele um Leben und Tod für diesen Tag beendet. Nur hie und da war ein Murmeln zu hören oder das Bellen eines Streuners, der um eine der Gruppen herumstrich, in der Hoffnung, etwas von dem kärglichen Mahl abzubekommen.

 

Die Feuer warfen ihr flackerndes Licht auf die ansteigenden Ränge des Amphitheaters und für Momente schien es, als würden die Jahrhunderte über die Menschenschar hereinstürzen, als wolle der Geist eines Gladiators sein Schwert erheben, um den endgültigen Hieb zu setzen.

Mit den ersten Tropfen machten sich vereinzelt kleine Gruppen auf den Weg in die Wandelgänge unter der Arena, um eine trockene Kammer zu finden.

Der junge Mann blieb ruhig sitzen. Er vertiefte sich gerade in eine der Übungen, die er von Kindheit an erlernt hatte. Und es gelang ihm, einmal mehr, sich der Trauer zu entledigen und jene Gelassenheit heraufzubeschwören, die es ihm erlaubte, dem Schicksal und den Wirren des Lebens mit milden, liebevollen Augen zu begegnen.

Er beobachtete weiterhin die wenigen freiwilligen Helfer, die den Armen und Siechen zur Seite standen, bemühte sich, in deren Gesten und Blicken etwas Seele, Funken aus dem Feld der Seele, zu entdecken, doch mangelte es ihm in diesen Stunden an der nötigen Energie, um ihnen oder seiner Aufgabe gerecht zu werden.

Er würde die Nacht im Freien verbringen und es morgen erneut versuchen. Sein Mantel würde ihn schützen und wenn der Regen später über seine Wangen liefe, würde er es genießen. Sonne und Wind hatten seine Haut über Tage hin ausgetrocknet. Er zog den Kragen enger und legte sich eingerollt auf die Erde.

Wo vor seinen Augen nun Tropfen auf den sandigen Boden fielen, stiegen kleine, rötliche Staubwolken auf. Der Südwind hatte seit Wochen in Wellen von Wolkenbänken Saharasand mit sich gebracht und ihn über der Stadt verteilt. Schon in den Randbezirken war ihm der rote Staubfilm aufgefallen, der sämtliche Gebäude und Denkmäler in einen alles begleichenden Ton getaucht hatte.

Auf seiner Kapuze hörte er das Trommeln schwerer Tropfen. Das Geräusch nahm an Regelmäßigkeit zu, wurde zu einem Tosen, einem aufgewühlten Meer, in das er versank.

Langsam übermannte ihn die Müdigkeit, die er nach den Strapazen der langen Schiffsreise – westlich der Atlantikküste Afrikas entlang nach Norden, durch die Straße von Gibraltar und das Mittelmeer bis Rom –, schon viel früher erwartet hatte.

Morgen würde seine Suche erneut beginnen.

Hier, in der ewigen Stadt, glaubte er trotz allem fündig zu werden und auf ein paar jener seltenen Menschen zu stoßen, die der Kolonie des Glücks neue Hoffnung bringen mochten.

2

Die ersten Sonnenstrahlen malten eine Sichel aus Licht auf die hohen Arkadenbögen des Amphitheaters. Der junge Mann blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und ließ seinen Blick eine kurze Weile auf diesem Gemälde ruhen, das am oberen Rand in tiefem Blau von einem intakten Himmel erzählte.

Seine Glieder fühlten sich schwer an, doch konnte er mit einzelnen geübten Bewegungen die Muskeln dehnen, den Blutstrom stärken und schließlich zumindest im Ansatz zu jener Kraft zurückfinden, die ihn sonst so verlässlich trug. Er erhob sich, schüttelte den Sand von seinem Mantel und steuerte den Ausgang der Arena an.

Er sah sich noch einmal nach den Hilfskräften um, doch entschied endgültig, dass es die Mühe nicht lohnte, ihr Wesen weiter zu erforschen oder sie gar zu befragen.

Er schlug den Weg Richtung Norden ein.

Dort sollte sich den Berichten nach unter einem der sieben Hügel eine andere, intakte, wieder genesene Völkergemeinschaft befinden. Zwar, hieß es, seien Rassen- und Glaubenskonflikte nach wie vor Teil des Alltags, doch wäre es einigen der neuen Anführer geglückt, Ordnung und Gerechtigkeit herzustellen. Diese Anführer, Männer und Frauen aus aller Welt, waren nach ihren ersten Hilfseinsätzen vor Ort geblieben oder zurückgekehrt, um nach dem Niedergang der sozialen Strukturen, den Wiederaufbau zu unterstützen. Der monatelange Bürgerkrieg, der auf das Eintreffen Hunderttausender Flüchtlinge innerhalb weniger Jahre gefolgt war, hatte in vielen betroffenen europäischen Städten und Ländern nur Chaos und verbrannte Erde hinterlassen. Ohne das aufopfernde Engagement solcher beherzten Seelen hätte es keine Zukunft gegeben, wären alte Seuchen ausgebrochen, neue Hungersnöte, neue Kriege und der Tod hätten weiter regiert, mit all der Härte und Brutalität, die der Mensch ihm seit Jahrtausenden beigebracht hatte.

Jenen, die ihn, den Tod, schließlich besiegten – wenn auch nur an wenigen Orten Europas –, wollte der junge Mann begegnen. Sie sollte er beobachten, ihre Seelen erkunden, um dann vielleicht Einzelne den Prüfungen zu unterziehen. Je nachdem, wozu ihn Zufall und Weisungen anleiten mochten.

Auf seinem Weg durch verwinkelte Gassen, Straßen und über Plätze der römischen Innenstadt kam er ins Staunen, wie viele unterschiedliche Eindrücke ihm innerhalb weniger Kilometer begegneten. Mit den Jahren hatten sich viele neue Bezirke gebildet, die wie durch unsichtbare Grenzen voneinander getrennt schienen. Er hielt sich jedoch nicht lange auf, folgte seiner Route mit schnellen Schritten und die Eindrücke zogen wie im Flug an ihm vorbei.

In einer Nebengasse reihten sich pittoreske Geschäfte aneinander, die von einzelnen Passanten besucht wurden. Deren Bekleidungen nach musste es sich um die wenigen Übriggebliebenen einer betuchten Gesellschaft handeln, die, wider besseren Wissens und zu sehr verwurzelt, ihre alte Heimat nicht aufgegeben hatten.

Gleich darauf folgten ausgestorbene Häuserreihen und Straßenzüge, verwahrloste Ecken, in denen jeder Schritt von den Wänden widerhallte, als rhythmisches Echo, das sich im Nirgendwo verlor.

Wenig später tauchte unversehens ein bürgerkriegsähnliches Szenario auf, mit Rauchwolken aus Gullys, aufgerissenen Pflastersteinen und Erkern voll Einschusslöchern.

Keine Hundert Meter weiter mündete sein Weg in ein beschaulich anmutendes Viertel, mit blühenden Orangenbäumen in eingefassten Blumenbeeten und alten Leuten, die gebückt des Weges trotteten oder auf Holzbänken beieinandersaßen.

Dann wieder stieß er auf Häuserfronten, deren Fassaden oft Stockwerke hoch, über und über mit Graffitischriftzügen oder Nachahmungen berühmter Fresken bemalt waren. Eines der obersten Geschosse war eingefallen – und so reckte Adam die Hand vergeblich seinem Gott entgegen.

Hier schienen selbst die Trittgeräusche von der Stille verschluckt zu werden und er fühlte, wie sich die Traurigkeit erneut seiner bemächtigen wollte.

Diesmal nahm er – mit einem kurzen Blick auf sein inneres Feld, indem er seinen Atem regulierte und eines seiner schönsten Erlebnisse erinnerte – dem aufkommenden Schmerz schon im Keim die Energie.

Schließlich gelangte er auf einen der Hügel. Um welchen es sich handelte, wusste er nicht zu sagen. Von hier aus konnte er einen Marktplatz überschauen, der etwas unter ihm in lebhaftem Treiben pulsierte. In der Mitte des Rondeaus ragte ein ägyptischer Obelisk in die Höhe und schien mit seiner Pyramide an der Spitze auf den einzigen Ausweg hinzuweisen: Vergiss nicht, dort wartet ein Himmel.

Immer der Himmel, der einen die Hoffnung gemahnt.

Der junge Mann hatte seinen Mantel abgestreift, ihn auf dem Boden ausgebreitet und saß in Trägershirt und Jeans auf dem doppelt gewebten Stoff. Durch sein Fernsichtgerät, ein Monookular der letzten Generation, beobachtete er das weitläufige Areal.

Und tatsächlich schien das Leben hier in neuen und anders geordneten Bahnen zu verlaufen: Menschen unterschiedlichster Hautfarben lachten und feilschten an Marktständen; Kinder jagten verspielt Hunden und geflickten, ledernen Bällen hinterher; Junge und Alte saßen tratschend beieinander, hielten sich an Händen, spielten Karten, tranken Kaffee und Likör oder rauchten schwarzen Tabak.

Der junge Mann verstaute das Okular im Innenfutteral des Mantels, stützte die Arme auf, lehnte sich zurück und genoss für eine Weile die heiße Luft und das Licht der Sonne, die im Zenit stand.

Die Nacht in der Arena und der zügige Marsch durch die Stadtviertel hatten ihm einiges abverlangt; und noch immer steckte ihm die lange Schiffsreise in den Gliedern.

Er legte sich hin und schloss für einen Moment die Augen, um an seine Heimatinsel, an seinen Lieblingsplatz über den Klippen, zu denken, wo er seit frühester Kindheit Stunden um Stunden verbracht hatte. Jahrelang war er immer wieder dorthin zurückgekehrt.

Er saß auf der äußersten Kante des Felsbruchs, ließ die Beine über dem Abgrund baumeln und betrachtete das Meer darunter, das sich an den Felswänden brach und an manchen Tagen die Gischt bis zu ihm hochspülte.

Beinahe konnte er das Salz auf den Lippen schmecken.

„Du bist nicht von hier“, ertönte die helle Stimme eines Jungen hinter ihm, „die von hier haben nicht so was“, er formte mit den Fingern das Okular nach, „wie heißt das denn? Und auch so einen Mantel haben die nicht. Wo bist’n du her? Was is das denn? Da drin?“ Er wies auf das Futteral. Offensichtlich hatte der Junge ihn schon eine ganze Weile beobachtet und setzte sich nun, ohne Scheu, direkt an seine Seite.

Der Mann sah ihn an und freute sich über das offene Wesen des Kleinen, der ihn jetzt aus großen, braunen Augen anblickte. Aus Gewohnheit streifte er mit seinem inneren Blick kurz über dessen Feld und was er empfing, löste einen Funken Glück in ihm aus. Er musste lächeln.

„Komm. Ich zeig dir was“, trällerte der Junge, war schon wieder auf den Beinen, hatte die Hand des Fremden genommen und versuchte, ihn hochzuziehen.

Er folgte ihm, stand auf, griff nach dem Mantel und lief, an der Hand des Kleinen, den Hügel und einige Treppen hinab, mitten hinein in das Treiben des Platzes.

„Komm! Komm!“ Der Junge ließ nicht nach, ihn durch die Menschenmassen irgendwohin zu zerren.

„Amid!“ Eine großgewachsene Frau mit rötlich gelockter Mähne war hinter einem der Marktstände hervorgetreten. „Was stellst du denn wieder an?“, tadelte sie ihn liebevoll auf Farsi und strich ihm über die Haare. „Entschuldigen Sie“, sprach sie den Mann an. „Ich hoffe, er hat Sie nicht belästigt. Wie dumm von mir: Sprechen Sie überhaupt diese Sprache?“ Den letzten Satz hatte sie auf Italienisch formuliert.

Der junge Mann nickte, doch bevor er etwas erwidern konnte, wandte sich die Frau wieder an den Jungen.

„Ich hab dich überall suchen müssen. Das geht so nicht, Amid. Die anderen Viertel sind gefährlich und ich mache mir Sorgen.“ Schuldbewusst blickte der Junge sie mit großen Augen an. „Und nicht diesen Blick. Du weißt genau, das zieht nicht bei mir.“ Sie sah wieder zu dem Mann. „Es tut mir leid, aber wir müssen weiter. Amid hat heute schon seine monatliche Untersuchung verpasst und ich habe nur mit Mühe einen späteren Termin bekommen. Entschuldigen Sie uns, ja?“

Damit machten sie sich auf den Weg. Amid winkte ihm noch zu, und dann waren die zwei auch schon in dem bunten Treiben verschwunden.

Während die Frau mit dem Jungen gesprochen hatte, konnte der Mann auch in ihrem Feld entdecken, wonach er suchte. Sollte das Schicksal sich fügen, würde er gewiss bald wieder auf die beiden treffen.

Zufrieden, so schnell schon mögliche Kandidaten gefunden zu haben, wandte er sich nun den Menschen zu, die um ihn herum fröhlich ihren Alltag verlebten. So viel Unbekümmertheit hatte er lange nicht mehr gesehen.

Mit wenigen Handgriffen formte er einen Rucksack aus seinem Mantel, schulterte ihn lässig und ließ sich hineinziehen in das Treiben der Menge. Er folgte dem Menschenstrom, der ihn, wie als natürliches Element eines inneren Kreislaufs, mal an den Rand, dann wieder ins Zentrum des pulsierenden Organismus trug. Stundenlang trieb er in Mäandern durch dieses Flussbett aus Menschen und Nutztieren, vorbei an Marktständen, Brunnen und Skulpturen. Der Platz kam ihm so, während er kreuz und quer herumwanderte, noch um vieles weitläufiger vor.

Erst gegen Abend ließ er sich erschöpft auf dem Holzsessel eines rustikalen Straßenlokals nieder. Die auf dem Tisch ausgelegte Speisekarte erinnerte ihn daran, wie hungrig er eigentlich war und dass er den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. In einem der Straßenläden hatte er gerade mal ein paar Flaschen Wasser erstanden, die er in regelmäßigen Abständen mit kleinen Schlucken geleert hatte.

Die Kellnerin, eine zierliche Frau mit dunklem Teint, warf, während sie Bestellungen an den anderen Tischen aufnahm, wiederholt verstohlene Blicke auf seinen muskulösen Oberkörper. In dem Trägershirt sah er aus wie einer der Männer aus dem Arbeiterviertel, die sich an den späten Nachmittagen gerne hier sehen ließen. Trotzdem unterschied er sich von ihnen. Ob es an seinen klaren, dunklen Augen lag oder an der Haltung, mit der er am Tisch saß und die Menschen beobachtete, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Als sie schließlich vor ihm stand, konnte sie ihre Augen nicht von ihm lassen.

 

Er strich sich eine Strähne seiner schwarzen Haare aus dem Gesicht und blickte zu ihr hoch. Das Interesse in ihren Augen war nicht zu übersehen und er erwiderte es mit einem freundlichen Lächeln. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, sah sie verlegen zur Seite, nahm dann aber, ohne weiteren Versuch einer Annäherung, seine Bestellung entgegen.

Er bestellte ein Steak mit Salat und ein großes Glas Limonenwasser.

Nach kurzer Zeit, in der er müde dasaß und das Treiben auf dem Platz nur noch an sich vorüberziehen ließ, kam die Kellnerin mit dem Essen zurück.

Mit Bedacht kaute er lange an jedem Bissen des zu heiß gebratenen Fleisches, um seinen Magen nicht zu überfordern Zusehends kam er wieder zu Kräften.

Das Abendlicht warf in immer größeren Schatten die Vorboten der Nacht über den Markt. Langsam leerten sich die Stände. Planen wurden aufgezogen, Rollläden heruntergelassen und die Menschen verschwanden in den Nebengassen, als würden sie, nach dem großen Spiel des Tages, eine ganz andersartige Arena verlassen, eine, die nie für den Kampf um Leben und Tod errichtet war, sondern zur puren Lebensfreude und zum fairen Wettstreit, bei dem es nur Gewinner gab.

Der junge Mann blieb noch länger sitzen und ließ den Tag Revue passieren.

Nur wenige weitere Kandidaten waren ihm begegnet. Immer wieder hatte er, wenn eine Äußerung, eine Geste oder ein besonderes Funkeln im Antlitz Einzelner seine Aufmerksamkeit erregt hatten, einen Blick auf ihr Seelenfeld geworfen. Doch die in Frage kommende Energie war wie üblich rar.

Sein Essen bezahlte er mit einer der flachen Goldmünzen in Größe eines Zehncentstückes, die er in einem versteckten Schutzbeutel bei sich trug. Die Kellnerin freute sich über das seltene Geldmittel, war jedoch wenig überrascht. In diesen Tagen wurde mit allem gehandelt, was sich anderenorts wieder eintauschen ließ. Und Gold und Silber waren, wie zu allen Zeiten, die beliebtesten Währungen.

Langsam musste er sich um einen Schlafplatz kümmern.

Mit gewohnten Handgriffen langte er in den Rucksack, entfaltete ihn wieder zum Mantel, streifte ihn über, erhob sich und entschwand, nach wenigen Schritten, aus dem trüben Licht, das noch aus den Fenstern des Lokals strömte, ins Dunkel der Nacht.