Octagon

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4

Pauls Blick fiel auf die beiden Türme des nahe gelegenen Kölner Doms, die hoch über die Dächer aufragten.

Schon lange war er nicht mehr dort gewesen. Während seiner Studienzeit an der Kölner Uni zog es ihn oft in die stille und hohe Weite dieses architektonischen Meisterwerks. Da sich die Bauzeit auf mehr als fünf Jahrhunderte erstreckt hatte, vereinte der Dom sämtliche Bauelemente und Schmuckwerke der spätmittelalterlichen gotischen Architektur. Das machte wohl auch seinen besonderen Reiz aus und ihn darum zur meist besuchten Sehenswürdigkeit Deutschlands.

In den Wintermonaten jedoch kam der Strom der Touristen weitestgehend zum Erliegen. So fand sich Paul oft nur von wenigen Gläubigen umgeben, die jene meditative Stille verbreiteten, nach der er sich im Ausgleich zum Lärmpegel in der Universität sehnte. Auch zur Beengtheit seiner damaligen Einzimmerwohnung bot die Fülle an Raum eine gute Abwechslung.

Zu Anfang seiner Besuche nahm er sich damals Zeit, etwas über die Architektur des Doms zu lernen, und studierte ausgiebig die angebotenen Broschüren. Je vertrauter ihm die unzähligen religiösen Kunstwerke dadurch wurden, desto häufiger entdeckte er versteckte Querverweise zu anderen Weltreligionen. Gegen den Auftrag ihrer katholischen Kirchenväter hatten die Künstler diese über die Jahrhunderte heimlich in ihre Werke eingeflochten.

Da Paul schon kurz nach dem Abitur aus der Kirche ausgetreten war und sich seinen eigenen Glauben aus christlichen, buddhistischen und anderen spirituellen Strömungen gebildet hatte, genoss er die verborgene Vielfalt der Aura dieser heiligen Halle der Religion.

Im Lauf der Jahre seiner psychologischen Studien verbrachte er seine Zeit im Dom immer öfter mit dem Versuch, im stillen Nachdenken das menschliche Wesen besser verstehen zu lernen.

Der Glaube spielte dabei stets eine große Rolle: Was führt und treibt Menschen schließlich mehr an als ihr Glaube an etwas, ihre Liebe zu etwas oder ihre Furcht vor etwas.

Paul legte das Geld für seine Melange auf den Tisch, schloss seinen gefütterten Trenchcoat bis hoch zum Hals und machte sich auf den Weg.

Auch in den späten Herbstmonaten war der Dom zwar bis neun Uhr abends geöffnet, doch hatte sich der Besucherstrom zu seiner Beruhigung bereits verflüchtigt. Er trat durch das große Petersportal, ging einige Schritte bis ans hintere Ende der Bankreihen und blieb beeindruckt stehen. Seit seinem letzten Besuch waren gut drei Jahre vergangen. Umso mehr überwältigte ihn nun die Ehrfurcht einflößende Atmosphäre. Langsam schritt er weiter durch das mächtige Mittelschiff, blickte von den zahllosen bemalten Glasfenstern zu den üppigen Heiligendarstellungen und war einmal mehr fasziniert vom so detaillierten, gotischen Schmuckwerk.

Er setzte sich in eine Reihe nahe an der Mitte der Kathedrale und genoss die reiche Stille, die von einzelnen Trittgeräuschen und dem Flüstern der wenigen Abendbesucher kaum noch gestört wurde.

Sein Blick glitt von der Mailänder Madonna über den Dreikönigenschrein bis hin zum Gero-Kreuz. Vor Jahren wusste er zahlreiche Details der kostbaren Artefakte zu benennen. Mittlerweile jedoch waren die Erinnerungen verschwommen, gingen ineinander über und bildeten vor seinem geistigen Auge nur vage historische Szenerien ihrer Entstehungsgeschichte und langen Reise hierher.

Tiefe Ruhe breitete sich allmählich in ihm aus.

Er lauschte seinem Atem und es wurde so still, dass er seinen eigenen Herzschlag hören konnte.

Ein Tempel irgendwo in der Welt, in dem Meister in acht Stationen die Anteile des Charakters lehren.

Gewaltige Berge und tiefe Täler, von Flüssen zu Schluchten in die Landschaft gerissen.

Ein Himmel mit Blick auf die Unendlichkeit.

Der Atem geht schwer.

Einen Schritt vor den anderen setzen.

In der Ferne wie hinter Schleiern die Silhouette eines vertrauten Gebäudes.

Die Augen brennen von Trockenheit.

Die Rucksackgurte schneiden schmerzhaft in die Schultern.

Ruhen wollen.

Nur noch ausruhen wollen.

„Entschuldigen Sie.“ Der Mesner hatte seine Hand auf Pauls Schulter gelegt. „Sie müssen aufwachen. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Paul fuhr erschrocken hoch.

„Ist alles in Ordnung?“, wiederholte der graubärtige Kirchendiener und sah Paul dabei sanftmütig an.

„Ich muss wohl eingeschlafen sein. Bitte entschuldigen Sie. Wie spät ist es?“

„Kurz nach neun. Ich mache gerade meine letzte Runde, bevor ich abschließe. Sie müssen jetzt leider gehen.“

„Natürlich, ja, ich hatte nicht vor, hier zu übernachten“, erwiderte Paul mit einem Lächeln. „Entschuldigen Sie und vielen Dank.“

„Weder das eine noch das andere tut not. Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.“

Paul stutzte: „Warum sagen Sie das?“

„Es hat so ausgesehen“, erklärte der Mesner, „als würden Sie träumen und eine schwere Last tragen. Das ist mir nur eben dazu eingefallen. Haben Sie noch einen schönen Abend. Möge der Herr mit Ihnen sein.“

„Danke. Ja. Ich gehe dann.“

Paul wandte sich dem Ausgang zu. Bevor er durch das Portal trat, hob er noch kurz den Kopf und blickte auf das, nach seinem Künstler benannte, Mildefenster. Es reichte bis hoch an das Deckenkonstrukt und Paul erinnerte sich, wie er zum ersten Mal darunter gestanden war. Auch jetzt konnte er den Blick nicht davon lösen. Die achtzehn Malereien der Hauptgläser führten dem Betrachter eindringlich die guten und schlechten Taten des Menschen, wie sie im Alten und Neuen Testament gelehrt wurden, vor Augen. Immer wieder erstaunte ihn die märchenhaft anmutende Doktrin der katholischen Kirche. Ein Kanon, in dem die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse eingeteilt wurde und der die Menschheit in einem kindlichen Entwicklungsstadium gefangen hielt.

Nun stand er noch etwas benommen da und blickte hoch bis zum oberen Bogenfeld der im späten Abendlicht schimmernd illuminierten Glasmalerei. Mit großem Erstaunen nahm er zum ersten Mal das Achteck wahr, das konzentrisch angeordnete Lichtbahnen vom äußeren Rand zu seiner Mitte zeigte. Er erinnerte sich an seinen Traum von eben, an die vagen Umrisse des Gebäudes und musste lächeln.

Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.

Und er meint es offensichtlich auch gut mit jenen seiner Kinder, die es nicht ganz so gut mit ihm meinen.

Paul beschloss noch im selben Moment, seinen Weg zum geheimnisvollen Tempel zu suchen und zu finden.

5

„Dem Gewicht und der Zeichnung des Ammoniten nach ist er echt.“ Doktor Erik Riemann hielt den Stein hoch und wog ihn in seiner Hand.

„Tatsächlich ein Shaligram Shila!“, sagte er erstaunt. „Noch dazu ein besonders seltener und wertvoller. Wo hast du ihn her?“ Paul war nicht überrascht, dass sein guter Freund aus Studientagen den Stein so schnell zuordnen konnte. Sie befanden sich im Institut für Geologie und Mineralogie der Uni Köln. Die Fakultät lag nur wenige Häuserblocks von den Fakultätsgebäuden der Psychologie entfernt.

An einem Winterabend vor gut zehn Jahren waren die beiden jungen Männer in einer der beliebten Studentenkneipen ins Gespräch gekommen. Daraus hatte sich eine jahrelange Freundschaft entwickelt.

Nachdem Paul sich nun entschlossen hatte, den Weg zum Tempel zu finden, war sein erster Gedanke, die Spur des Steins zu verfolgen und die Gelegenheit zu nutzen, um seinen alten Freund aufzusuchen. Sie hatten einander ohnehin viel zu lange nicht gesehen und vereinbarten zwei Tage nach Pauls Anruf ein gemeinsames Mittagessen.

Kurz vor Mittag war er in Eriks Labor erschienen, der mittlerweile eine Professur als Mineraloge innehatte. Nur wenige Jahre waren vergangen, doch sah sich Paul zu seiner Überraschung nicht mehr dem hageren, vergeistigten Wissenschaftsassistenten gegenüber, sondern einem gestandenen Professor. Erik hatte deutlich an Gewicht zugelegt und ließ sich einen Vollbart stehen. Das schelmische Blitzen in den Augen war ihm geblieben.

Die Wiedersehensfreude war entsprechend groß und nach dem Austausch der wichtigsten Neuigkeiten und der gegenseitigen Versicherung, dass es beiden im Leben gut erginge, hatte Paul etwas ungeduldig den Stein in Eriks Hand gelegt.

„Ich hab ihn von einer jungen Ärztin geschenkt bekommen.“ Er lächelte beim Gedanken an Lena. „Vor zwei Monaten auf einer Tagung, bei der ich mein Buch vorstellen durfte.“

„Davon habe ich gehört. Hast es also geschafft?!“, rief Erik anerkennend aus. „Das Buch ist fertig und schon veröffentlicht? Gratuliere, ist ja toll! Musst mir unbedingt davon erzählen! Und natürlich auch von der jungen Ärztin.“ Er hob vielsagend eine Augenbraue.

„Später gern“, gab Paul zurück, „aber zuerst erzählst du mir alles über diesen Stein und vor allem, woher er stammt.“ Erik ließ sich nicht lange bitten, wenn er sein reiches Wissen anbringen konnte.

„Nun, es handelt sich, wie gesagt, um ein sehr seltenes Exemplar. Ich müsste natürlich noch eine detaillierte chemische Analyse durchführen, doch da ich in den letzten Jahren einige Fälschungen dieser Steine in Händen hatte und gerade mal zwei echte, kann ich der Oberfläche, dem Gewicht und der Farbe nach auf den ersten Blick mit großer Sicherheit sagen: Das ist ein Shaligram Shila. Wobei er als solches nicht so selten ist. Dieser goldgelbe Abdruck des Ammoniten jedoch macht ihn zu einer wahren Rarität.“ Sein Blick ruhte voll Begeisterung auf dem Stein in seiner Hand. „Warte, ich kenne eine einfache Methode, die uns verlässlich Auskunft gibt.“

 

Er legte den Stein, behutsam auf ein steriles Tuch gebettet, auf den Labortisch und ging zu einer der verglasten Vitrinen, in denen sich zahllose mineralogische Exponate befanden. Mit einem Schlüssel, den er an einem Band um seinen Hals trug, öffnete er eine der Glastüren und holte aus einer der unteren Laden ein goldenes Nugget hervor.

„Was hast du vor?“, fragte Paul erstaunt.

„Du wirst es nicht glauben, aber echte Shaligramas sind zwischen fünfzig und hundert Millionen Jahre alt. Sie sind derart gehärtet, dass ein deutlich sichtbarer Abrieb haften bleibt, wenn man mit echtem Gold über ihre Oberfläche streift.“

Er nahm den Stein zur Hand und führte den Test durch. Deutlich war der goldene Streifen zu sehen.

„Jetzt ist er noch wertvoller,“ sagte Erik mit einem verschmitzten Lächeln, „und das Institut ein klein wenig ärmer. Aber das wird es verkraften und wir brauchen keine Chemie mehr. Dieser Shila ist echt.“

„Was weißt du noch?“, fragte Paul ungeduldig.

„Über Steine? Alles!“, antwortete Erik lachend. „Über diesen hier sogar noch mehr.“

„Spann mich nicht so auf die Folter.“

„Wie wär’s, wenn wir das beim Essen erledigen? Du zahlst natürlich: Mein Minimalhonorar für mineralogische Expertisen.“

Das Essen mit Erik wurde zu einer wahren Freude. Sein humorvolles Wesen machte Paul erst bewusst, wie sehr er den guten Freund in den vielen Monaten vermisst hatte.

In Erinnerung an alte Zeiten nahmen sie ihre Mahlzeit Bei Oma Kleinmann, ihrer Stammkneipe aus Studententagen, zu sich. Das Lokal mit dem liebenswerten Namen bot eine riesige Auswahl an Schnitzeln und das typische Kölsch, der ganze Stolz der Kölner Bierbrauer, mundete dazu noch vorzüglicher.

„Shila ist das Sanskritwort für Stein und Shaligram bezeichnet jene äußerst seltenen Steine, in denen Hindus die Inkarnation des Gottes Vishnu verehren.“, begann Erik seine Ausführungen. „Die Filamente, diese kreisförmig angeordneten Rillen, stammen von urzeitlichen Würmern, die in dem Stein ihre Behausung fanden. Sie stellen die Chakren des Gottes dar. Es gibt diese Einschlüsse in vielen Farben. Die goldgelben, wie auf deinem Stein, bedeuten, dass die Kraft von Vishnu am stärksten darin wirkt. Du hast einen heiligen Stein in deiner Tasche.“ Er nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich mit der Hand den Schaum vom Bart.

„Ich hoffe doch, Vishnu war ein freundlicher Gott.“

„Keine Sorge, er war einer der drei höchsten Götter und steht für die Erhaltung allen Lebens. Hindus verehren seine Steine und beten zu ihnen. Sie bringen ihren Besitzern Glück, Gesundheit, Reichtum und das Beste: sie erlösen sie von schlechtem Karma.“

„Gut für mich“, meinte Paul mit zufriedenem Lächeln, „aber du hast mir noch immer nicht verraten, woher er stammt!“ „Und du mir noch immer nicht, warum dich das so interessiert. Muss wohl mit deiner Ärztin zu tun haben“, erwiderte Erik und grinste genussvoll.

Bei der herzlichen Verabschiedung vereinbarten die beiden, einander bald schon wiederzusehen, dann aber an einem Wochenende, um mehr Gelegenheit zu erhalten, all jene Geschichten auszutauschen, für die in der zu kurz bemessenen Mittagspause keine Zeit geblieben war.

Auf dem Rückweg in die Praxis gingen Paul Bilder von politischen Unruhen, achttausend Meter hohen schroffen Bergen und vagen klischeehaft verzerrten Mythen durch den Kopf. Denn, wie Erik schließlich offenbart hatte, traten besagte Steine nur an einem einzigen Ort in der Welt aus den Untiefen des Erdinneren an die Oberfläche: an den Ufern des Flusses Gandaki, am Fuß der höchsten Gebirgszüge des Himalaya im Nordenwesten Nepals.

Dieser Hinweis beschränkte das Gebiet, in dem sich die Tempelschule befinden konnte, zwar auf nur rund zweihundert Quadratkilometer, doch gab er in keiner Weise ihren exakten Standort preis. Mehr konnte Paul allerdings auch nicht erwarten. Grenzte es doch schon an ein Wunder, dass der geheimnisvolle Shila überhaupt einem letztlich so kleinen Areal zuzuordnen war.

Zurück in seinem hellen, behaglichen Arbeitsraum positionierte Paul den Stein wieder auf seinem Schreibtisch. Diesmal jedoch zog er aus der stets für die Tränenflüsse seiner Klienten bereiten Box ein ganzes Bündel von weichen Taschentüchern, formte sie umständlich zu einer Art Nest und bettete den Stein behutsam in seine Mitte.

Nachdem er die Mappe mit den Aufzeichnungen für die bevorstehende Sitzung vom Stapel der Sprechstundenhilfe geholt hatte, setzte er sich in seinen klassischen Lederfauteuil. Ohne einen Blick in die Unterlagen zu werfen, ließ er in den wenigen Minuten vor Beginn noch kurz seine Gedanken schweifen.

Eine Reise nach Nepal, in eine von Krisen geschüttelte Region, schien ihm noch weniger bedrohlich als die Vorstellung, inmitten der höchsten Berggipfel der Welt Hunderte Kilometer nach einem ominösen Tempel abzusuchen, dessen Existenz nicht mal belegt war.

Paul hatte auch von der berüchtigten Höhenkrankheit gehört, die zahlreiche Bergsteiger gerade im Himalaya das Leben gekostet hatte. Erst einmal also keine so guten Aussichten.

Da fiel ihm ein und er wunderte sich, nicht schon früher daran gedacht zu haben, dass eine seiner Klientinnen vor etwa vier Monaten ihre Therapie unterbrochen hatte, um nach Nepal zu reisen. Danach hatte sie ihm von einem aufregenden und inspirierenden Trekking berichtet. Sie war als unerfahrene Bergsteigerin bis auf über fünftausend Meter hoch gewandert.

So unmöglich konnte es also doch nicht sein.

Die Tür in den Praxisraum öffnete sich und Ruth Meyer betrat den Raum. Paul sah sie mit großen Augen an: Es war eben jene Klientin, an die er in diesem Moment gedacht hatte.

6

„Ich habe mich gefragt“, begann Ruth nach der beiderseitigen freundlichen Begrüßung das Gespräch, „ob wir die Therapie vielleicht bald ausklingen lassen könnten? Ich fühle mich in den letzten Wochen sehr stabil und denke, dass ich schon ganz gut alleine zurechtkomme. Wissen Sie, die Reise nach Nepal, von der ich Ihnen kurz erzählt habe, war letztlich wie eine Erlösung. Allerdings wäre ich dazu ohne Ihre so hilfreiche Unterstützung in den Monaten davor nie bereit gewesen. Sie haben mir vor Augen geführt, dass ein eingeschlagener Weg, nur deshalb weil er zur Gewohnheit geworden ist, noch lange nicht der richtige sein muss. Ohne Sie wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, mein so vertraut erdrückendes Umfeld zu verlassen“, meinte sie ironisch mit einem Lächeln. „Ich glaube aber, diese schlimme Lebensphase liegt jetzt tatsächlich hinter mir.“

Ruth hatte gegenüber von Paul im Fauteuil Platz genommen. Sie trug Bluejeans, einen lilafarbenen Rollkragenpullover und hatte ihre Beine, wie sie es mittlerweile immer tat, seitlich hochgezogen.

Offen und unbeschwert blickte sie ihn nun an.

Vor nicht ganz neun Monaten war sie blass und zitternd in einem mattgrauen Kostüm mit einem schweren Burn-out-Syndrom zum ersten Mal vor ihm gesessen. Sie hatte als studierte Softwarespezialistin in einem Großkonzern gearbeitet, der Halbleiter produzierte, jene kleinsten Chipbauteile, die in allen Hightechgeräten zu finden sind. Nicht nur die Arbeit im Vierundzwanzig-Stunden-Schichtbetrieb mit extrem schwankenden Arbeitszeiten hatte sie im wahrsten Sinn des Wortes ausgebrannt, sondern auch die zusätzlich aufreibenden Anforderungen als alleinerziehende Mutter zweier pubertierender Söhne.

Nach der intensiven und langwierigen Gesprächstherapie war Ruth nun so weit ins aktive Leben zurückgekehrt, dass Paul mit gutem Gewissen ein Ende absehen konnte. Sie hatte sogar ihre Anstellung aufgegeben und war in einer Sozialeinrichtung untergekommen, die humanitäre Hilfe für Entwicklungsländer organisierte. Diese Arbeit hatte sie dann auch nach Nepal geführt.

Ihr Exehemann und Vater der Söhne war schließlich bereit gewesen, seinen Teil der Verantwortung für die Kinder zu übernehmen, und hatte die beiden für die Wochen von Ruths Reise zu sich genommen.

„Das liegt vor allem bei Ihnen“, antwortete Paul in seiner routiniert offenen Art, nachdem er eine Weile überlegt hatte. „Allerdings höre ich in Ihrer Formulierung noch eine gewisse Unsicherheit mitschwingen. Kann das sein?“

Ruth überlegte und nickte schließlich etwas zaghaft.

„Im Allgemeinen“, fuhr er fort, „sollte man sich, um eine Therapie zu beenden, tatsächlich ganz sicher und gefestigt fühlen. Ich möchte auf keinen Fall, dass Ihre so erfolgreichen, neu etablierten Lebensstrukturen erst wieder unnötig ins Wanken geraten.“ Er hielt kurz inne und sah sie mit sanftem Blick an. „Da ich Sie heute aber ausnahmsweise bitten wollte, mir mehr von eben dieser Reise zu erzählen, gibt Ihnen das vielleicht bis zu unserem nächsten Termin noch mal Zeit, ihre Entscheidung zu überprüfen. Für heute würden natürlich keine Kosten anfallen. Wären Sie damit einverstanden?“

In der verbliebenen Stunde erzählte Ruth davon, wie sie in die Abteilung für Netzwerkentwicklung der Hilfsorganisation aufgenommen wurde.

Schon nach wenigen Tagen der Arbeit in dem engagierten Team hatte sie eine tiefe Befriedigung im Wissen gespürt, mit ihrer Tätigkeit Not leidenden Menschen unmittelbar helfen zu können.

Bald darauf hatte eine kleine nepalesische Schwesterorganisation ein Hilfsprojekt für nach Nepal geflohene Tibeter gestartet. Ruth war spontan bereit gewesen, zur damit einhergehenden Reise in dieses sagenumwobene Land aufzubrechen.

Die Aussicht auf Wochen ohne geringsten Komfort, umgeben von bitterster Armut hatten sie nicht abgeschreckt. Sie hatte gehofft, dadurch nicht nur räumlich, sondern auch geistig einen Abstand zu ihrer Vergangenheit in der Hightechwelt herstellen zu können. Mit der Aussicht darauf hatte sie es auch geschafft, den Mut und die Kraft zu sammeln, um ihren Exmann in seine Pflicht zu rufen.

Was sie danach in Nepal erlebt hatte, beschrieb sie nun als das tief greifendste und schönste Erlebnis seit der Geburt ihrer Kinder.

Zu Beginn der zweiten Woche in Nepals Hauptstadt Kathmandu, voll nervenaufreibender Vermittlungsarbeit zwischen Ämtern und Volksvertretern, war sie zu einer Trekkingexpedition eingeladen worden. Das Schwesterunternehmen hatte ihr Arjun Kapur, einen erfahrenen Verhandlungspartner, zur Seite gestellt. Arjun war zugleich einer der verlässlichsten Bergführer mit eigener Agentur für diese bei Touristen beliebten Wanderungen.

Nach einer fast zehnstündigen, beschwerlichen Busfahrt zu einem kleinen Dorf am Fuß der mächtigen Achttausender hatte am folgenden Tag der Aufstieg begonnen. Arjun, der ein äußerst zuvorkommender Hindu der obersten Kaste war, hatte sie ortskundig, mit zahlreichen Hilfestellungen, um der Höhenkrankheit zu entgehen und ihre Kräfte einzuteilen, immer höher und höher geführt. Hin und wieder waren sie auf andere Trekkingtouristen getroffen, hatten in kargen Zimmern übernachtet und waren stets freundlich aufgenommen worden. Die schlichten Mahlzeiten hatten vorwiegend aus Reisgerichten bestanden.

Die körperlichen Strapazen des Aufstiegs waren zunehmend von euphorischen Stimmungen begleitet gewesen, die auf den sinkenden Sauerstoffgehalt der Atemluft beruhten.

Und dann war es geschehen: Auf über fünftausend Metern war wie aus dem Nichts eine bis dahin unbekannte innere Stimme in den Dialog mit ihr getreten. Die Stimme hatte ihr sanft und zugleich voll Stärke Mut zugesprochen und ihr uneingeschränktes Vertrauen geschenkt.

Ganz friedlich erklärte Ruth: „Noch nie zuvor war ich so sehr eins mit allem und von allem zugleich so unendlich beschützt und behütet.“ Sie hielt eine Weile inne, blickte Paul an und ergänzte mit Bedacht: „Seit diesem Augenblick begleitet mich die Erinnerung daran und gibt mir Sicherheit. Sie müssen wissen, Doktor Stenson: Das alles wäre ohne Sie nie möglich gewesen. Ich bin Ihnen unendlich dankbar.“

Paul war so gerührt, dass ihm die Tränen kamen und er selbst zu den Taschentüchern greifen musste, die eigentlich für seine Klienten bestimmt waren.

Er konnte nicht genau benennen, was an Ruths Schilderung ihn so bewegte. Neben ihrer aufrichtigen Dankbarkeit war da noch etwas Tieferes. Es schien so, als wäre auch in seinem Inneren eine leise Stimme erwacht, die ihre Wünsche nun durch Tränen zum Ausdruck brachte.

„Ich wollte Sie nicht zum Weinen bringen, bitte verzeihen Sie“, meinte Ruth gleich etwas verunsichert.

„Keine Sorge“, erwiderte Paul sanft und schluchzte, während er zugleich lächeln musste, „es gibt Tränen der Trauer und Tränen der Erlösung. Diese zählen eindeutig zur zweiten Kategorie.“

 

Nachdem Ruth ihm einige weitere Fragen beantwortet und ihm dabei zahlreiche praktische Tipps für eine Reise nach Nepal gegeben hatte, kam er schließlich noch auf die Tempelschule zu sprechen.

„Dort gibt es unzählige Tempel“, meinte sie, „aber an einen derartigen kann ich mich nicht erinnern. Es hat auch, soweit mir bewusst ist, niemand anderer davon berichtet.“

Paul nickte nachdenklich, ging zu seinem Schreibtisch und holte den Shila. „Eine letzte Frage noch“, sagte er hoffnungsvoll, „sind Ihnen solche oder ähnliche Steine bei Ihrem Aufstieg begegnet?“

„Oh ja“, antwortete sie rasch mit freudigem Lächeln, „von denen kann man dort einige finden. Sie werden aber auch von den Einheimischen zum Kauf angeboten. Einen so schönen hab ich allerdings noch nie gesehen. Sie sollen besonders wertvoll und heilsam sein.“

„Ein Freund hat mir bereits etwas Ähnliches erzählt. Aber es freut mich, dass Sie es bestätigen können.“

Nachdem ihm Ruth noch notiert hatte, wie er mit Arjun per E-Mail in Kontakt treten konnte, vereinbarten die beiden zum Ausklang der Therapie schließlich einen letzten Termin.

Bei der Verabschiedung umarmten sie einander.

Paul konnte gar nicht anders, als sich diese Intimität einer Klientin gegenüber ausnahmsweise zu erlauben. Ruth war ihm in dieser Stunde zu einer Freundin geworden.