Oliver Hell Abschuss

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Oliver Hell Abschuss
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Michael Wagner

Oliver Hell Abschuss

Oliver Hells erster Fall

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum und Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Impressum neobooks

Impressum und Widmung

Ungekürzte Ausgabe

Erste Auflage November 2012

Vierte Auflage März 2014

Copyright © 2014 Michael Wagner

Textur by Ruth West

Frame by Freepik

Umschlaggestaltung unter Verwendung der

Zeichnung „Spanischer Hund“ von Michael Wagner

Korrektorat: Michaela Retetzki

Michael Wagner

Auf dem Beuel 10

53773 Hennef

All rights reserved.

Für Rosi

Ich will wissen, wo ich einst begraben werde und nicht dem Zufall überlassen, an welchem Ort mein Gebein zu Erde wird. Ich will selbst bestimmen, wo alles endet, wofür ich gekämpft habe.

Kapitel 1

Er dachte, er kenne sich aus in seinem Leben. Er dachte, er kenne sich. So gut, wie man sich mit fünfunddreißig Jahren kennen konnte. Daniel Hesse kannte seine Einstellung zum Leben, er hatte ein festes Weltbild besessen. Es war geprägt durch seine Erziehung. Seine Eltern hatten ihm beigebracht, alles Leben zu achten. Seine Erziehung hätte man streng christlich nennen können. Mit Anfang zwanzig aber hatte er begonnen zu zweifeln, hatte den christlichen Glauben schließlich abgelegt. Die dogmatische Gläubigkeit seiner Eltern empfand er nur mehr als Fessel. Ein Gott, der die Welt sich selbst überließ, der konnte kein die Dinge liebender Gott sein. Die eigene Schöpfung führte dieser Gott ad absurdum. Er konnte nicht mehr an diesen Gott glauben, den seine Eltern ihm vermittelt hatten. Doch die ihm vermittelten Werte hatte er behalten. Etwas sollte man behalten, dachte er sich. Alles Leben blieb ihm heilig. Wenn man sich schon nicht auf die Eltern und Gott verlassen konnte. Dann wenigstens auf die Schöpfung und die Geschöpfe. Der Glauben war jahrelang sein Anker.

Seit geraumer Zeit trieb er ohne eine Rettungsplanke durch die Fluten ins Ungewisse.

Auch für jedwede Not der Anderen hatte er ein Gespür. Dort half er den Bedürftigen so gut er konnte. Haben und Nichthaben hatte er schon früh kennengelernt. Schon als Kind hatten andere Dinge, die für ihn in weiter Ferne blieben. Seine Eltern wollten es so. Das sei alles nur Tand und man sollte sich überhaupt nicht von Dingen abhängig machen. Alle Dinge, die seine Freunde oder Mitschüler besaßen oder liebten, waren für seine Eltern nur Nichtigkeiten. Deshalb hatte er nie eine Chance, so zu sein wie alle anderen.

Wenn es in seinem Leben etwas wirklich Negatives gab, so war es das. Darum lag alles Folgende darin begründet. Das für ihn immerwährend Erduldete erzeugte eine andauernde Frustration.

Diese Desillusionierung versuchte er, mit seiner Einfühlungsgabe für seine Mitmenschen zu kompensieren. Doch in Zeiten des allgemeinen Überflusses und der trägen Selbstgefälligkeit war niemand mehr in der Lage zuzugeben, dass er etwas benötigte. Damit war diese Zeit vorbei. Menschen litten keine Not mehr, also suchte er sich die aus, die noch Not verspürten. Tiere. Tiere in Not wurden sein neuer Fokus.

Mit Genugtuung dachte er daran, wie er Tieren geholfen hatte, die von Menschen verletzt und gequält worden waren. Jeden Tag ging er mit Tieren aus dem nahe gelegenen Tierheim spazieren, bei Wind und Wetter. Ein eigenes Tier konnte er nicht nach Hause holen. Seine Kinder hatten eine Tierhaarallergie.

Wenn er an sich dachte, dann konnte er in seinem Spiegelbild einen zerrissenen Menschen sehen. Die Menschen, denen er Hilfe angeboten hatte, hatten seine Hilfe nicht mehr nötig gehabt. Die Tiere fragten nicht um Hilfe. Er half. Sie taten ihm gut, er tat ihnen gut.

Nach außen trat er als ein in sich ruhender Charakter auf. Er hatte sich dafür entschieden, niemandem seine innere Zerrissenheit zu zeigen. Auch hatte er nicht das Bedürfnis, alles, was er bisher erlebt hatte, anderen mitzuteilen. Er schloss es in sich ein. Es gab kaum noch jemanden, der ihn wirklich kannte.

Auch nicht seine Frau und seine beiden Kinder. Er liebte seine Kinder, liebte sein kleines Mädchen und auch seinen Sohn. Er liebte auch noch seine Frau, obwohl sie ihn sehr verletzt hatte, als sie ihn verließ, um mit den Kindern zu ihren Eltern zu ziehen. Es sei nur vorübergehend, sagte sie. Sie wolle sich ihrer Gefühle wieder klar werden. Er fühlte sich, als müsste er ersticken. Er tat es nicht. Wie er alle Verletzungen und Abweisungen in seinem Leben überlebt hatte, überlebte er auch das.

Er lebte einfach weiter.

Gerade eben stand er mitten im Zimmer seiner Tochter und starrte auf das leere Bett. Sein Herz klopfte wie nach einem Hundertmetersprint. Ein Traum hatte ihn aus dem Schlaf aufgeschreckt. Atem flog. Der Traum hatte ihm vorgegaukelt, seine Tochter hätte nach ihm gerufen. Ein Traum. Nur ein Traum. Das Bett blieb leer.

Er lehnte noch eine Weile unschlüssig am Türrahmen. Schließlich riss er sich los, um sich einen Kaffee zu machen. Er strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht und stapfte die Treppe herunter. Die Küche war völlig unaufgeräumt, Chaos. Er tat nur das Notwendige. Aufräumen und Spülen gehörte nicht dazu. Es gab keine saubere Tasse mehr, also spülte er eine nur mit klarem Wasser. Es war drei Uhr nachts. Zitternd füllte er das Kaffeemehl in den Filter und stellte die Kaffeemaschine an.

Langsam trank er seinen Kaffee. Er fühlte sich besser. Der Traum verblasste.

Mit dem Kaffee in der Linken zog er sich den nächsten Küchenstuhl heran. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Ein bestimmter Artikel ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste, was dort stand. Er hatte ihn bereits zigmal gelesen. Kaffeeflecken zeugten davon. Der Artikel war sogar rot umrandet. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er erneut auf das Blatt.

Auf einer Weide in der Nähe waren mehrere Schafe verletzt worden, ein Schafbock wurde getötet und an einem Bach ausgeweidet. Danach aufgehangen und zur Schau gestellt. Die Polizei suchte nach einem Mann mit einem Blaumann, der von Zeugen in der Nähe des Tatortes blutverschmiert gesehen worden war.

Wieso geht da keiner hin, fragte er sich. Wieso hilft niemand den Tieren?

Wieso?

Tiere waren den Menschen meist egal. Vielfach hatten die Menschen keinen Kontakt mehr zur Natur. Keinen Kontakt mehr zu Tieren. Veränderungen gehen schleichend voran. Viele waren zudem feige geworden. Oder die Gesellschaft belohnte die, die weniger riskierten. Die Kinder der Stadtbewohner dachten, Milch käme aus einem Tetrapack. Kaum eines der Kinder hatte schon einmal eine lebendige Kuh gesehen. Keines der Kinder wusste, wie es in einem Stall riecht. Wenige kannten überhaupt das Landleben.

Auf dem Land lebten heute vielfach die Stadtflüchtlinge. Es waren die Schlafstätten derjenigen, die der Hektik in den Städten den Rücken zugekehrt hatten, um auf dem Land die Ruhe zu genießen.

Diejenigen Kinder, die auf dem Land wohnten, hatten keinen Kontakt zu den Bauern. Sie wussten zwar, wie eine Kuh aussah, aber sie hatten keine Beziehung zu den Tieren. Auch ihre Eltern nicht. Sie wohnten nicht dort, weil ihnen die Natur zusagte, sie wohnten dort, weil ihnen durch die Hektik der Stadt die Nerven bündelweise ausfielen. Ruhe suchten sie. Abspannen wollten sie hier, ihre Akkus aufladen. So kam es auch, dass den meisten Menschen dort das Schicksal der Tiere egal war.

Früher wären die Bauern mit Mistgabeln bewaffnet auf die Weide gestürmt und hätten sich den Kerl geschnappt. Aber heute? Es gab nur noch wenige Bauern.

Die Menschen in den Wohnsiedlungen hatten keine Mistgabeln mehr und auch keinen Mut. Sie fuhren morgens zum Arbeiten in die Stadt, ließen ihre Familien daheim und kehrten abends zurück in die Ruhe. Auch kümmerte sich niemand um seine Nachbarn. Nicht wirklich. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging, bei so einem Anlass einzugreifen. Sie riefen die Polizei an und verschanzten sich hinter ihren Fenstern. Feiglinge.

Es hätte ihn hinausgezogen. Gegen den Protest seiner Frau. Sicher. Er wäre gegangen. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er völlig unbewaffnet war. Das kannte er nicht und das wollte er ändern. Für was auch immer die Waffe einzusetzen sein würde. Beinahe ruhig nahm er einen Schluck aus der Tasse.

Kapitel 2

Zwei Uhr dreißig in der Nacht. Zwanzig Minuten nachdem er den Anruf bekommen hatte, versuchte Kommissar Oliver Hell seinen jungen Kollegen Jan-Philipp Wendt über das Handy zu erreichen. Der hatte am Abend vorher seine Beförderung zum Polizeioberkommissar gefeiert. Sicher war er noch in irgendeinem Bett versumpft, dachte Hell. Das wäre typisch für ihn. Wendt war ein Frauenheld.

 

Hell stieg in seinen Dienstwagen, programmierte im Losfahren das Navigationsgerät. Sein Ziel lag weit draußen auf dem Land. Im Siegtal. hoffentlich findet das Navi das da draußen, dachte er. Der Regen wurde stärker, noch fuhr er auf der Autobahn. Die Wischer schafften es gerade noch bei Stufe eins. Ein heftiger Sommerregen, nach einem heißen Tag. Es war seit einigen Wochen ungewöhnlich heiß. Für die Region viel zu heiß. Tropisch.

Er überquerte den Rhein auf der A565.

Man hatte ihn gerufen, weil es sich um einen Jagdunfall handeln sollte. Einen Jagdunfall mit einer äußerst ungewöhnlichen Waffe. Daher hatte es die Polizei vor Ort für besser gehalten, die Kriminalpolizei hinzuzuziehen.

Das Handy klingelte. Wendt meldete sich. Das Gespräch fiel kurz aus, er gab Wendt die Adresse durch und legte auf. Wendts Protest hörte er schon nicht mehr. Der Anruf seines Chefs hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Doch war seine Bettgesellin deutlich eher wach gewesen und reichte ihm verschlafen das klingelnde Telefon, dann wälzte sie sich wieder herum und war sofort wieder eingeschlafen.

Hell spürte eine gewisse Schwermut. Wendt war jetzt sein Stellvertreter. Jung, dynamisch, ein Frauenheld. Nichts konnte er seinem jungen Kollegen mehr vorwerfen. Er war ein fehlerloser Kriminalist mit einem scharfen Verstand. Jeder Teamleiter wäre froh gewesen, einen solchen Mann in seinem Team zu haben.

Hell machte es wehmütig. Vielleicht hatte Hell gehofft, dass seine große Zeit wieder kehren würde. Aber er wurde älter, das spürte er jeden Tag. Hell fand fast nur noch Trost in der Erinnerung. Die Erinnerung hielt ihn hoch. Seine Erfolge, die ihn über die Grenzen hinaus bekannt gemacht hatten. Doch hatte er langsam aufgegeben, daran zu glauben. Seine Erfolge verblassten wie eine alte Fotografie, sie verloren ihre Schärfe im Laufe der Jahre.

Hell verließ die Autobahnen, fuhr von dort aus über die Dörfer. Kein Regen mehr. Von einer schmalen Landstraße zweigte ein noch schmalerer Weg ab. Er stoppte. Keine Frage, das Navigationsgerät forderte von ihm, dort lang zu fahren. Er bog ab, der Nachthimmel erschien ihm noch dunkler. Das Fernlicht half kaum. Der Wagen geriet in ein Schlagloch und schlug so hart auf, dass Hell durchgerüttelt wurde. Er fluchte und sammelte sein Handy vom Fußboden auf.

Das Navi führte ihn weiter an den Rand einer Wiese. Im Lichtkegel tauchte ein Polizist auf. Er winkte. Hell stellte den Wagen am Straßenrand ab und schon war der Streifenpolizist neben ihm.

„Haben Sie mich benachrichtigt?“

Hell riss das Gespräch direkt an sich.

„Ja, Sie werden sehen, warum. Wir müssen ein wenig in den angrenzenden Wald hinein gehen.“

Sie gingen los. Der Streifenpolizist führte eine Taschenlampe bei sich. Das Licht leuchtete den Weg jedoch nur ungenügend aus.

„Wer hat den Toten gefunden?“

„Ein Jäger, der zu seinem Hochsitz gehen wollte. Er hatte kein Telefon dabei, daher dauerte es lange, bis er von daheim anrufen konnte.“

„Das war wann?“ Hell stapfte neben dem Uniformierten her. Sie gingen einen Waldweg entlang. Er lag hellgrau vor ihnen und wurde in einiger Entfernung vom Dunkel verschlungen. Hell sog den würzigen Duft des Waldes ein. Er mochte den Wald. Aber viel lieber, wenn er etwas sah.

„Der erste Anruf kam gegen halb vier Uhr.“

„Der erste Anruf? Gab es noch einen?“ Hell blieb kurz stehen. Der Polizist ging weiter. Hell wollte den spärlichen Lichtkegel nicht verpassen und folgte dem Uniformierten.

Trotzdem stolperte er fast über einen Ast, der auf dem Boden in der Dämmerung nicht zu sehen war. Er fluchte leise. „Ja, es gab noch einen zweiten Anruf. Von jemand anderem.“

„Habt ihr das aufgezeichnet?“

„Ja, natürlich.“

„Ist eigentlich die Spurensicherung schon informiert?“

„Nein, wir wollten ihre Meinung abwarten.“

„Sind wir gleich da?“

Hell war schon wieder ins Straucheln geraten. Ohne seine Brille hatte er nachts große Probleme. Es war eine Neumondnacht. Die dunkle Masse des Waldes hob sich bedrohlich gegen den dunkelgrauen Himmel ab. Dann tauchten sie in das Dunkel ein. Hell hatte sofort noch mehr Mühe, sich zu orientieren.

„Ja, noch die kleine Anhöhe hinauf. Dort oben liegt der Tote.“

Hell kletterte hinter dem Polizisten die Anhöhe hinauf. Es war dunkel. Auch auf der Anhöhe wurde die Sicht nicht besser. Sie gingen weiter, Äste des Unterholzes schlugen gegen Hells Schulter. Der Polizist hielt die nächsten Äste fest, bis Hell vorbeigegangen war. Er tauchte mehr oder weniger elegant darunter hinweg. Der Polizist deutete mit der Taschenlampe in eine Richtung.

Sie gingen um eine Baumgruppe herum und Hell bemerkte im Lichtkegel die Beine des Toten. Er sah dunkle Sportschuhe und eine schwarze Jeanshose. Trotz der Dunkelheit und seiner Sehschwäche glaubte Hell, Schmutz auf der Jeans zu sehen. Das Rascheln des Laubes unter seinen Füßen störte die Stille. Er blickte sich um, etwas entfernt stand noch ein Polizeibeamter. Er grüßte den Mann, dann wandte er den Blick der Leiche zu. Der ihn begleitende Polizist beleuchtete mit der Taschenlampe den Toten. Im Lichtkegel sah Hell, dass ein Pfeil in der Brust des Opfers steckte. Ziemlich genau in der Herzgegend. Der Mann lehnte mit dem Rücken an einer Eiche. Sein Kopf war nach rechts geneigt. Er hatte dunkles, krauses Haar. Kurzgeschnitten. Hell nahm dem Kollegen die Lampe ab und leuchtete den Toten ab. Er hatte richtig gesehen. Der Mann trug tatsächlich Hosen, die mit Erde verdreckt zu sein schienen. Sein schwarzes T-Shirt war ebenfalls verschmutzt. Das Blut darauf war bereits leicht angetrocknet. Er leuchtete die Hände des Mannes ab.

„Wo kommt er her?“

Hell tastete die Hosentaschen des Opfers ab. Nichts. Die Taschen waren leer.

Der Polizist antwortete nicht, sondern schien merkwürdig abwesend zu sein.

Hell richtete sich wieder auf und dachte an die Schwierigkeiten, die ein solcher Tatort den Kollegen bereiten würde.

„Wir müssen die Spurensicherung informieren und ich will einen Gerichtsmediziner hier haben. Ist das der einzige Weg, der hierher führt?«

Der Polizist nickte. „Deshalb haben wir Sie informiert. Ich benachrichtige die Spusi“, sagte der Polizist und wandte sich ab.

»Wer läuft nachts dunkel angezogen durch den Wald und fängt sich einen Pfeil?“, murmelte Hell vor sich hin.

Mit einem Mal klingelte sein Handy. Es war Wendt, der ihm Bescheid gab, das er an Hells Auto wartete. Hell teilte ihm mit, er solle dort auf ihn warten. Der Weg sei unübersichtlich und Wendt würde ihn nicht alleine finden.

Hell tastete sich langsam zum Auto zurück. Gottseidank wich langsam die Dunkelheit. Wendt lehnte an seinem Mazda MX5. Er kam auf Hell zu, als er ihn sah.

„Wir haben einen Toten mit einem Pfeil in der Brust. Die Spusi ist informiert. Wir sollten auf sie hier warten, damit wir nicht noch mehr Spuren verwischen.“

Wendt war es von seinem Chef gewöhnt, dass der sofort ohne Umschweife zu Sache kam. Aber heute schien er noch schroffer und reservierter. Kein ‚Gutenmorgen‘.

„Ok“, sagte Wendt, „Was gibt es sonst noch?“

„Die Kleidung des Toten ist sehr verschmutzt. Warum auch immer.“

„Ist das hier ein Jagdunfall unter illegalen Jägern? Oder Gotcha auf die harte Tour.“

Hell schaute seinen Kollegen an. Diese Idee hatte er auch gehabt. Es gab sicher Verrückte, die mit ihren Waffen durch den Wald irrten und Rambo spielten. Wendt dachte wie er. Kein Wunder, er hatte es ihm ja beigebracht. Der Ort der Verdammnis wusste, warum Hell heute so dünnhäutig war. Schließlich hatte sich mit der Beförderung ja nichts geändert.

„Wer weiß, warten wir auf die Spusi.“ Wendt gab sich damit nicht zufrieden.

„Haben wir einen Namen?“

„Nein, ich habe die Taschen abgefühlt, aber nichts gefunden.“ Hell zog ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche. Gierig sog er den Qualm des ersten Zuges ein. Sein Blick streifte den Wald und glitt über das angrenzende Feld.

Hell hatte es im Gespür, dieser Fall würde eine Herausforderung sein. Wer außer einem Jäger hätte den Toten sonst noch auffinden können?

Niemand.

Das Ganze hatte immer etwas Unwiderrufliches, hier lag ein toter Mensch und ihre Aufgabe war es, dieser Endgültigkeit ihren Schleier zu entreißen. Jeder Schauplatz eines Mordes hatte diesen Zwiespalt. Die Klarheit des Todes und die scheinbare Undurchdringlichkeit des Geheimnisses, was ihn umgab. Warum passierte es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Was hat er getan, dass er jetzt hier seine Endlichkeit erkennen durfte?

Und immer war es ein Mechanismus, der sich wie eine träge Raupe in Bewegung setzte. Man gewann erste Erkenntnisse, daraus folgten erste Thesen zum Tathergang. Unter Umständen fand man einen Verdächtigen.

Das Team musste sich wieder als Team beweisen, Ergebnisse sammeln, Beweise zusammentragen. Gottseidank war hier auf dem Land ein Mord eine Ausnahme. Die Beschaulichkeit des Landlebens im sonst so friedlichen Siegtal wurde empfindlich gestört.

Dieser Fall würde das Team vor eine neue Aufgabe stellen. Da war sich Hell sicher. Bei einem Mordfall wurden ganz andere Energien frei als bei einem normalen Verbrechen, die Anspannung, die man dabei spürte, war körperlich.

„Wir sollten der Spusi sagen, dass sie auch das Feld dort absuchen soll. Vielleicht kam der Tote von dort.“ Hell trat auf die Kippe, die er auf den Boden geschnippt hatte.

Wendt verkniff es sich, heute einen Kommentar zum Rauchen seines Chefs abzugeben. Heute war es sicher keine gute Idee. Das Verhalten verwirrte ihn heute nicht mehr als sonst, wenn sein Chef seine Launen nach außen trug. Er schätzte ihn als Kriminalisten und er hatte viel von dem Mann gelernt. Das rechnete er ihm hoch an. Er wollte seinen Frieden haben. Zumal er ja seit gestern die Karriereleiter hinaufgefallen war. Wendt nickte bloß.

*

Die Gerichtsmedizinerin Stephanie Beisiegel war in ihre Arbeit vertieft. In der einen Hand hielt sie eine kleine Maglite, in der anderen ein Diktiergerät. Sie schaute sich die Schuhsohlen an, hob das Bein des Toten an, sprach leise etwas in das Gerät in ihrer linken Hand. Geschickt hielt sie dabei die kleine Taschenlampe zwischen Daumen und Zeigefinger, hob das andere Bein mit dem kleinen Finger an, den sie in das Hosenbein steckte. Ihre Assistentin wollte gerade die Papiertüten zukleben, in die zum Schutz die Hände des Toten gesteckt worden waren.

„Warten Sie bitte.“

Sie nahm eine Hand, leuchtete sie ab, sprach etwas in das Diktiergerät. Sie sah unter den Fingernägeln nach. Dann nickte sie ihrer Kollegin zu, die anschließend die Tüten zuklebte.

Sie stand auf, schaltete ihr Gerät aus, nachdem sie noch einen kurzen Satz hineingesprochen hatte.

Hell stand direkt vor ihr. Trotz des Dämmerlichts konnte sie seinen fragenden Blick nicht nur erahnen.

„Nun, die Todesursache scheint klar. Die Totenstarre ist noch nicht eingetreten, er ist noch nicht viel länger als drei Stunden tot. Höchstens vier. Wir haben unter den Nägeln Erde gefunden und vermutlich finden wir noch viel mehr. Genaues kann ich sagen, wenn ich den Mann untersucht habe. Auf der Kleidung befindet sich überall Schmutz und Erde. Er hat Kratzspuren auf den Gelenken und aufgerissene Handflächen. Wenn ich mutmaßen soll, würde ich sagen, er wurde gejagt und hat sich auch verteidigt. Aber Detailliertes sage ich erst später.“

Stephanie Beisiegel war groß, hatte blondes Haar, volle Lippen. Und sie galt als eine Institution. Viele Kollegen zählten auf ihre Meinung. Hell nickte.

„Je früher desto besser.“

„Klar, wie immer.“

„Können Sie etwas über den Pfeil sagen?“, fragte Wendt, der bislang schweigend zugeschaut hatte.

„Dazu kann ich etwas sagen. Soll ich es tun?“

Sie blickte Wendt herausfordernd an. Der grinste nur und nickte zustimmend.

„Er sieht aus wie ein Pfeil, wie ihn Jäger auf einer Armbrust verwenden. Aus Aluminium. Er steckt tief drin, also wurde er aus nicht allzu großer Entfernung abgeschossen.« Sie leuchtete mit ihrer Maglite den Toten ab. Dann fügte sie noch hinzu: »Diese Pfeile können aus bis zu 50 Metern abgefeuert werden.“

Hell blickte sich um. Die Bäume standen hier sehr dicht. „Wenn ich mir das so ansehe, denke ich, der Pfeil hat ihn nicht hier getroffen. Ich vermute eher, er wurde woanders getroffen und ist noch bis hierher gekommen.“

 

„Möglich“, antwortete sie auf die Analyse Hells, „Mit so einem Ding in der Brust läuft man nicht mehr sehr weit.“

„Das wird die Spusi uns sagen können, wenn sie hier fertig sind.“

Wendt schaute die ganze Zeit eher gelangweilt in der Gegend herum.

„Können Sie was zum Eintrittswinkel sagen?“ Hell hatte sich neben die Leiche gebeugt.

„Nein, solange wie ich nicht weiß, wo er getroffen wurde, kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen. Er sieht so aus, als hätte der Mann gestanden, als der Pfeil ihn traf.“

„Ein Unfall?“, hakte Hell nach.

„Ich arbeite dran.“

Die Einsilbigkeit, mit der die Gerichtsmedizinerin ihre Antwort gab, machte Hell klar, dass sie genug Fragen gestellt hatten.

Er fasste Wendt am Arm und zog ihn mit sich. »Lassen wir Frau Doktor Beisiegel arbeiten.«

Die Gerichtsmedizinerin verabschiedete sich von den Beamten und sprach noch einige Anmerkungen auf das Band.

Hell ordnete für den frühen Morgen eine Dienstbesprechung an. Auch die beiden anderen Teammitglieder sollten sich im Präsidium einfinden.

*

Das Büro, in dem die Dienstbesprechung stattfand, war klein. Höchstens vier mal sieben Meter. Die Diensträume im Präsidium an der Bornheimer Straße in Bonn hatten die besten Zeiten hinter sich. An einer der Längsseiten befanden sich Fenster. Eines davon hatte Wendt geöffnet, da es in dem Raum stickig und zu warm war. Auf Anordnung Hells er hatte das Briefing für die Kollegen übernommen.

Hell wollte sich bewusst im Hintergrund halten.

Auf der Pinnwand an der Kopfseite hatte Wendt die ersten Tatortfotos angeheftet. Ein großes Foto des Toten mit dem zur Seite geneigten Kopf hing ganz oben. Darunter Bilder, die den kompletten Fundort der Leiche abbildeten.

Die Tische in dem Besprechungsraum standen in U-Form. Wendt hatte einen Platz an der Seite ausgewählt.

Er sortierte die wenigen Informationen, die sich bisher zusammenstellen ließen. Die Kollegen Klauk und Meinhold waren bislang noch nicht eingetroffen. Also rief er die Frau an, mit der er die letzte Nacht bis zum Anruf Hells verbracht hatte. Er brach das Gespräch sofort ab, als er Hell im Türrahmen stehen sah.

»Ich melde mich später, o. k.?«

Sein Chef machte einen ratlosen Eindruck. Was Wendt gut erkannte, denn Hell fühlte, dass sie erst den Rand eines großen Ganzen tangiert hatten.

„Irgendwie ist das alles merkwürdig, oder?“, richtete er den Fokus direkt auf den Fall

„Merkwürdig? Was denken Sie, ist daran merkwürdig?“

Hell warf seine Mappe auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Wendt fallen.

„Ich habe so einen leisen Verdacht, dass wir erst die Spitze des Eisberges vor uns sehen.“

Wendt stand auf und schloss das Fenster, da er Mühe hatte Hells Antwort zu verstehen. Auf der Straße fuhr eine Kehrmaschine entlang.

„Wendt hat hellseherische Fähigkeiten“, witzelte Hell und musste über sein Wortspiel schmunzeln.

Es klopfte am Türrahmen. Sebastian Klauk trat ein und nahm mit einem gutgelaunten Gesicht Platz.

„Guten Morgen allerseits“, sagte er. Der schlaksige, junge Mann war der jüngste im Team von Kommissar Hell. Er hätte ihn als einen durchschnittlichen Kriminalisten bezeichnet, der mehr Zeit auf seinen Sport verwendete, als sich um seine Karriere zu kümmern. Hell mochte eigentlich diese lockere Einstellung, wünschte sich aber manchmal, er hätte doch ein wenig mehr Ehrgeiz.

„Das sind Fotos vom Tatort?“, fragte Klauk und betrachtete intensiv die Fotos, „Ich habe Christina eben auf dem Flur getroffen. Sie war auf dem Weg zur Spusi. Wir sollen schon einmal anfangen, hat sie gesagt.“

Wie auf Stichwort öffnete sich die Tür erneut. Christina Meinhold stieß sie mit einer energischen Bewegung auf, und blieb direkt im Türrahmen stehen.

„Wir haben einen Namen“, rief sie aufgeregt in die Runde, „Der Tote heißt Robert Lohse. Er ist aktenkundig wegen schwerer Körperverletzung. Das verraten uns die Fingerabdrücke. Er wohnt hier in Bonn. Und jetzt kommt’s: Die Kollegen von der Bereitschaft erhielten vorhin einen Anruf eines Nachbarn. Dort sei eingebrochen worden.“

Meinhold schien beim Sprechen nicht zu atmen. Sie brauchte keinem der Anwesenden die Worte genauer zu erklären. Hell reagierte sofort.

„Christina, Sie und Wendt fahren hin und sprechen mit dem Nachbarn. Quetscht ihn aus, was dieser Lohse für ein Typ war und wann er ihn das letzte Mal gesehen hat. Und so weiter. Wir verschieben das Briefing und treffen uns gegen Mittag hier wieder. Ich erkundige mich in der Gerichtsmedizin.“

Meinhold gab Wendt ein Zeichen und sofort setzten sich die beiden in Bewegung.

Es war neun Uhr. Hell holte sich einen Kaffee und setzte sich in sein Büro. Er schrieb die bisher gesammelten Fakten auf einen Zettel. Anschließend ging er zu Fuß herüber zur Gerichtsmedizin. Die frische Luft tat ihm gut. Mit dem Auto hätte er um die Uhrzeit in der Bonner Rushhour zu viel Zeit verloren. Er hoffte, beim Briefing neue Erkenntnisse von Doktor Beisiegel präsentieren zu können.

*

Als Wendt und Meinhold in der Straße eintrafen, in der Robert Lohse wohnte, war von der Bereitschaftspolizei noch niemand zu sehen. Wendt parkte den Mazda direkt vor Lohses Haus.

„Der Nachbar heißt Kirchner. Er wohnt Parterre. Lohse wohnt über ihm, sagt er.“ Sie griff nach ihrer Waffe. Eine Angewohnheit. Wendt grinste.

„Keine Angst, er liegt tot und kalt im Leichenschauhaus.“

„Haha“, antwortete sie und schüttelte ihr braunes Haar zurecht.

Wendt klingelte. Sofort wurde die Türe aufgerissen. „Polizei?“, fragte ein dünner Mann mit wirrem Haarschopf.

„Wendt, meine Kollegin Meinhold. Sie hatten uns benachrichtigt, Herr Kirchner?“

Der Mann erweckte einen verstörten Eindruck.

„Jaja, habe ich. Es ist einer oben. Ich höre das, weil ich direkt darunter wohne“, flüsterte Kirchner, als wäre er ein Verschwörer und kam den beiden Beamten dabei sehr nah. Er roch nach altem Rauch und Alkohol.

Die beiden Polizisten schauten sich an. „Kalt und tot im Leichenschauhaus, schon klar“, frotzelte Meinhold ihren Kollegen.

Wendt hatte jetzt als Erster seine Waffe in der Hand. Meinhold registrierte das mit einem Schmunzeln.

Sie gingen langsam die Treppe hinauf. Wendt ging vor. Die Türe zu Lohses Wohnung war nur angelehnt. Beide lauschten. Nichts war zu hören. Wendt hielt die Waffe im Anschlag, schob die Tür auf und ging in die Wohnung hinein.

Es roch nach abgestandener Luft. Und nach etwas anderem, Süßlichem. Er tastete sich an der Wand entlang. Meinhold blieb kurz stehen, er drehte sich um, nickte. Schon war sie bei ihm.

Rechts und links vom Flur gingen Zimmer ab. Meinhold öffnete das Linke, Wendt machte zwei Schritte hinein mit der Waffe in der Hand.

Niemand. Er kam wieder hinaus, stellte sich vor das Zimmer gegenüber. Er öffnete sie, Meinhold flog hinein.

Das Bad. Niemand.

Es gab noch ein Zimmer. Geradeaus. Wendt umklammerte seine Waffe mit beiden Händen. Er fühlte seinen Pulsschlag im Hals.

Meinhold deutete mit einer kurzen Kopfbewegung auf die Türe. Sie war verglast. Aber man konnte nichts sehen, weil etwas von der anderen Seite über dem Glas hing. Eine Decke oder was auch immer. Rot schien es durch das Glas. Wendt legte die Hand auf die Klinke, stieß die Türe auf.

Meinhold stürmte mit der Waffe im Anschlag hinein. „Sicher“, schrie sie ihm entgegen. Niemand befand sich in der Wohnung.

„Was hat der unten denn gehört?“ Wendt steckte den Dienstrevolver zurück in das Holster.

Er schüttelte den Kopf. Adrenalin wieder runterfahren, sagte er zu sich.

„Keine Ahnung, was er gehört hat. Aber eins weiß ich, irgendetwas stinkt hier gewaltig.“

Meinhold schaute sich um. Es gab deutliche Anhaltspunkte dafür, dass jemand dieses Zimmer durchsucht hatte. Sofern Lohse kein Messie war, der es vorzog, seine Sachen auf dem Boden zu verstreuen. Über allem lag dieser Gestank.

„Hmh habe ich auch schon bemerkt.“

Wendt hielt schon das Handy in der Hand und rief die Spurensicherung an.

„Denkst du auch, dass hier jemand nach etwas gesucht hat?“

Ihr Blick fiel auf ein kleines Buch, was auf dem zerwühlten Bett lag. Das Licht fiel nur fahl durch die halb geschlossenen, dicken Vorhänge. Meinhold zog sich ein paar weiße Einmal-Handschuhe an. Dann nahm sie das Buch in die Hand. Es war gebunden, hatte einen abgegriffenen, broschierten Einband.

Sie öffnete das Buch, blätterte darin, schwieg. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie es weiter an Wendt. Der schaute seine Kollegin an, begriff, dass sie etwas Außergewöhnliches gesehen haben musste.

Er nahm das Buch, nachdem er sich auch Nitril-Handschuhe angezogen hatte, blätterte ein paar Seiten darin. Dann schlug er es zu, versenkte es in einem Beweismittelbeutel.