Das Haus am Moor

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Das Haus am Moor
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DAS HAUS AM MOOR

Kinderkrimi

von

Michael Hatry

INHALT

1. Das Haus

2. Der Keller

3. Bei Tante Friederike

4. Der Fortsetzungsroman

5. E-Mail für mich

6. Ein Zwischenfall im Moor

7. Die Ausstellung

8. Das Medaillon

9. Im Nebel

10. Die Hütte

11. Der Rückweg

12. Die Tagebücher

13. Zoé

14. Stochern im Nebel

15. Noch mal Tante Friederike

16. Lukas 12,2

17. Schluss

1. Das Haus

Vier Tage sind eine kurze Zeit, aber in vier Tagen kann eine Menge passieren, so viel, dass man danach nicht mehr ganz derselbe ist und die kleine Welt, in der man lebt, auch nicht. Wenn mir das einer im letzten Herbst erzählt hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber so war es.

Ich hatte dieses Buch gelesen: Der Tote im Moor. Von Peer Anders. Den alle so cool fanden. Das Buch war schon zwei Jahre alt, aber was soll’s, und in der Stadtbücherei waren alle andern Bücher von ihm ausgeliehen.

Der Schinken handelte von einem dreizehnjährigen Mädchen namens Franziska, die vor Fernweh fast platzt. Ein pensionierter, geheimnisumwitterter Kapitän lädt diese Franziska in sein Haus ein. Er zeigt ihr seine Sammlung Buddelschiffe, eins heißt Bunte Kuh, sie träumt sich hinein in die Flasche, und das Moor, an dem das Haus steht, verwandelt sich ins Meer, was ja auch naheliegend ist, und ab geht die Post, per Zeitreise ins 18. Jahrhundert, in eine kleine französische Hafenstadt.

Ich hatte schon bessere Bücher gelesen. Das Interessanteste an dem ganzen Buch war eine Notiz, die jemand mit Bleistift an den Rand geschrieben hatte. Auf S. 17: Das Haus gibt es wirklich! Und Anders wohnt sogar drin! Zugspitzstraße 7. Eine Kinderschrift.

Mir war sofort klar, dass ich mir das Haus anschauen würde. Ich bin nämlich ziemlich neugierig. Ich meine, ich kriege gern Sachen raus.

Die Zugspitzstraße liegt ganz am Ende unserer kleinen Stadt, da, wo es zum Moor runtergeht. Ich kannte sie nur vom Anfang her, sie zweigt rechts von der Straße ab, die zum Moor hinunter führt, eine Sackgasse.

Also radelte ich dahin. Allein. Mario, mein bester Freund, seit ich vor etwas mehr als zwei Jahren ins Städtchen kam, fiel aus. Ich hatte ihm von der Randnotiz in dem Buch erzählt, aber er war am Montag am Blinddarm operiert worden. Vor allem für ihn schreibe ich diese Geschichte auf.

Es war der 5. November, ein Mittwoch, grau und windig, am Nachmittag, und ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich einließ.

Kurz vor der Zugspitzstraße kam mir Felix Leitner entgegen. Ein ziemlicher Sprücheklopfer aus meiner Klasse, wenn’s nach mir geht. Sein Großvater ist Vorsitzender des Schützenvereins und sein Vater Stadtrat in unserem Städtchen. Als Leitner mich sah, klingelte er wie verrückt und rief mir zu: „Was machst du denn hier?“

Ich rief zurück: „Ich fahr ins Moor, du Depp!“

Und radelte an ihm vorbei, rechts in die Zugspitzstraße.

Wusste er auch von dem Haus?

Wohl kaum, dachte ich. Ich konnte ihn mir nicht mit einem Buch in der Hand vorstellen (Schulbücher ausgenommen), schon eher mit einer Knarre. Einmal hatte er eine Pistole mit in die Klasse gebracht. Aus der Sammlung seines Großvaters oder Vaters, ich weiß es nicht mehr. Er hatte richtig leuchtende Augen, als er das Teil vorführte. Es sah aber tatsächlich alt und echt aus und natürlich schaute auch ich ihm zu, als er uns zeigte, wie es funktionierte.

Sonst fiel mir zu Felix Leitner nur ein, dass wir entfernt miteinander verwandt waren. Er hatte sich vor mir aufgebaut, damals vor zwei Jahren, als wir in dieselbe Klasse kamen, die 5., und mir das gesagt. Sehr entfernt, hatte mein Großvater geknurrt. Sein Großvater war ein Neffe meiner Ururgroßmutter oder so.

Viel lieber wäre ich mit Mario verwandt gewesen, aber leider konnte ich, was meine so genannten Vorfahren verbockt hatten, nicht rückgängig machen.

Dann war ich da.

Die Nummer 7 war das dritte Haus auf der Hangseite.

Eins von diesen alten Häusern mit Erker. Es hatte zwei Stockwerke und eine Mansarde. Einen großen Vorgarten, nicht übertrieben gepflegt. Es sah aus, wie das Haus aus dem Buch. Jedenfalls von vorn.

Die gusseiserne Gartenpforte war geschlossen. Links und rechts Hecken. Es gab eine Klingel, aber kein Namensschild. Eine glatte Einladung, zur Haustür zu gehen. Sie hatte ein kleines Vordach, drei Stufen führten hinauf.

Ich drückte die Klinke. Aber die Pforte ging nicht auf. Sollte ich klingeln?

Der Wind pfiff ums Haus, die Vorgartentanne bog sich und schnappte zurück. Ein Fensterladen klapperte. Irgendwo schlug eine Tür. Ein paar Mal hintereinander. Sie musste auf der Rückseite des Hauses sein.

Das Haus war an den Hang gebaut, hatte Peer Anders geschrieben, so dass es auf der Rückseite wieder ebenerdig war und ein Stockwerk mehr hatte, wenn es auch ein Souterrain oder Kellergeschoss war. Das war von der Straße aus nicht zu erkennen, aber es sah ganz danach aus. Denn um das Haus herum führte ein Pfad zu beiden Seiten nach hinten, der sachte abfiel.

Ich hatte keinen Bock, zu klingeln. Peer Anders um ein Autogramm zu bitten, falls er tatsächlich hier wohnte und zu Hause sein sollte, kam mir albern vor.

Ich beschloss, mir das Haus von hinten anzuschauen. Der Pfad kam nicht in Frage, ich hätte über die Pforte klettern müssen. Also radelte ich zurück und dann die Straße rechts ins Moor hinunter. Unten bog ich ab, bis ich wieder auf der Höhe des Hauses war. Es war gut zu sehen. Entlang des ganzen ersten Stockes zog sich ein Balkon mit geschnitztem Holzgeländer. Wie im Buch. Darunter die klappernde Tür. Links ein Schuppen.

Unterhalb des Haus zog sich Rasen über den Hang hin, vom Moor durch eine ziemlich hohe Hecke getrennt. Rechterhand war etwas wie eine Garagenklappe, in den Hang eingelassen, ohne Zufahrt. Geschlossen. Das musste ich mir genauer ansehen.

Ich legte das Rad hin und sperrte es ab. Ging den Hang hinauf und kam zu einer kleinen mit Kies bedeckten Plattform. Ab hier gab es auf der rechten Seite einen Pfad zum Haus hinauf, wohl den, den ich oben schon gesehen hatte. Er bestand aus Holzbohlenstufen, die in die Erde verlegt waren. Büsche zu beiden Seiten. Links daneben, ungefähr zwei Meter über der Plattform diese Klappe. Eisen offenbar. Sehr seltsam. Autos, die da herausfuhren, würden ohne Weiteres ins Moor segeln.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte, und drehte mich um und schaute hinunter ins Moor mit seinen Feuchtwiesen und Bauminseln und auf die hohen Berge mit den Schneekuppen dahinter.

Nicht weit von einem mit Schilf umstandenen Tümpel waren Leute. Ein wahres Ameisengewusel. Und jede Menge Autos. Auch große Lastwagen mit Beschriftungen. Genaueres konnte ich nicht erkennen.

Aber das Moor schaute toll aus, gerade jetzt, wo ein paar Schatten drüber wegjagten, weil wild dahinjagende Wolken die tief stehende Sonne mal da mal dort verdeckten und die Sonne in den Wasserläufen und Tümpeln rotgolden aufblitzte.

Ich war natürlich schon ein paar Mal da unten gewesen. Unser Moor ist ein Naturschutzgebiet mit vielen seltenen Pflanzen und Blumen und allen möglichen seltenen Tieren, vor allem Vögeln, zum Beispiel Braunkehlchen, Klappergrasmücke, Feldschwirl, Neuntöter, Flussregenpfeifer und Schilfrohrsänger, die alle möglichen Vogelforscher und Vogelfreaks in Horden anziehen, weshalb sich die Vögel noch seltener machen.

„Hi, Lukas!“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Eine Mädchenstimme.

Ich drehte mich um.

Und sah Zoé, seit September neu in meiner Klasse. Superklug und neunmalschlau. Bernsteinfarbene Knopfaugen und Borstenhaare. Zoé Hilfiger. Ihr Vater war Schweizer, das wusste ich.

Und außerdem wusste ich, dass sie mich nicht leiden konnte.

Sie trug Jeans und einen schwarzen, wattierten Mantel und war ziemlich außer Atem.

„So heiße ich“, sagte ich etwas widerwillig. „Lukas Lorenzen.“

War sie zufällig hier? Wie Felix Leitner? Vielleicht machten wir ja einen Klassenausflug und ich wusste nichts davon. Oder hatte sie die Notiz in dem Buch auch gelesen? Nur musste sie das Buch vor mir ausgeliehen haben, und wieso kam sie dann jetzt erst hierher? Und zufällig zur selben Zeit wie ich?

„Was machst du hier?“, erkundigte sie sich.

Mir ging im Bruchteil einer Sekunde alles Mögliche durch den Kopf. Von der reinen Wahrheit bis zu ungefähr einem Dutzend mehr oder weniger schmutziger Lügen. Sollte ich Zoé die Wahrheit sagen oder auch nur die halbe? Sie würde sich garantiert über mich lustig machen und es außerdem noch weiter erzählen. Lukas wollte sich ein Autogramm von Peer Anders holen! Von Peer Anders! Diesem ...

„Was machst du denn hier?“, fragte ich also schnell, um von mir abzulenken.

„Sie drehen einen Film da unten“, sagte sie unschuldig. „Der Tote im Moor. Ich hab bei den Dreharbeiten zugeschaut.“

„Ach so“, sagte ich. „Der Film.“

Ich hatte keine Ahnung, ich war sogar ziemlich überrascht, dass sie das Buch jetzt auch noch verfilmten, aber ich dachte nicht daran, mir eine Blöße zu geben.

„Ich hab das Buch gelesen“, sagte ich. „Es ist nicht besonders.“

Sie grinste unverschämt.

„Ach ja?“, fragte sie.

Und dann konnte ich doch nicht mehr an mich halten und lieferte mich Zoé aus.

„Hast du die Bemerkung in das Buch geschrieben, auf Seite 17?“, fragte ich. „Ich hab’s aus der Stadtbücherei.“

 

Sie grinste wieder unverschämt.

„Auf Seite 17“, sagte sie. „Wie interessant!“

Sie hatte ein ziemlich hübsches Gesicht, mit einer hübschen Nase mitten drin und dazu diese bernsteinfarbenen Knopfaugen, und wenn sie lächelte, war sie sogar noch hübscher, aber ich hatte nicht vor, auf sie reinzufallen.

„Dass das Haus im Buch das Haus da oben ist“, sagte sie. „Und dass Peer Anders drin wohnt.“

„Ich schreib keine Bemerkungen in Bücher“, sagte sie.

Ich schwieg. Manchmal muss man die Leute schmoren lassen.

Und ich sah, dass Zoé dieses Schweigen nicht mochte.

„Und deswegen bist du hier?“, fragte sie ungläubig. „Wegen dieser Bemerkung?“

„Das war Zufall“, log ich. „Ich wusste schon lange von dem Film. Meine Großmutter leitet unser Heimatmuseum und sie haben sich dort nach allem Möglichen erkundigt!“

Aus irgendeinem Grund sah Zoé plötzlich nachdenklich aus.

„Du hast nicht zufällig ...“, fragte sie zögernd.

„Was?“, fragte ich.

„Hast du vielleicht Lust, dir das Haus anzugucken?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Von innen, mein ich? Die Hintertür ist offen.“

Ich sah sie an. Wohnt sie auch hier?, dachte ich. Falls Anders hier überhaupt wohnt. Aber wieso ist es dann wichtig, dass die Hintertür offen ist?

„Sie klappert im Wind“, sagte ich. „Das kann jeder sagen.“

„Mein Vater wohnt manchmal hier“, ergänzte sie. „Ich kenn mich hier aus.“

„Ist dein Vater ein Freund von Peer Anders?“

Sie sah mich an, als gehöre ich in eine andere Galaxie.

„Du wohnst bei deinen Großeltern?“, fragte sie zurück.

„Ja“, sagte ich automatisch. „Meine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als ich drei war. Und meine richtige Großmutter auch.“

Ich habe manchmal diese unerklärlichen Anfälle von Ehrlichkeit.

„Oh“, sagte sie leise. „Entschuldige.“

Ich zuckte die Achseln und sah zu Boden und beobachtete meine Füße. Einer kickte grade ein paar kleine Kiesel weg. Fast hätte ich gefragt, wo ihre Mutter wohnte oder sie selber, manchmal oder überhaupt. Aber so viel Interesse wollte ich nicht heucheln. Oder: soviel Neugier nicht zeigen.

Der Wind pfiff und heulte und schob die Wolken zu einer Wand zusammen, die immer schwärzer wurde. Irgendwo schrie eine Möwe gegen das Getöse an. Die gibt es jetzt auch bei uns.

„Also?“, fragte Zoé.

„Was also?“

„Kommst du mit?“

„Vielen Dank“, sagte ich standhaft. „Ich gehe nicht in fremde Häuser.“

„Ich schon“, sagte sie und rannte die Stufen zum Haus hinauf.

„Schönen Abend noch!“, rief ich ihr hinterher.

Es war dunkler, als es hätte sein sollen, und es hatte zu regnen begonnen, einzelne schwere Tropfen, und ich zog mir die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und schaute wieder hinunter ins Moor.

Dreharbeiten also.

Wahrscheinlich, dachte ich, hatte Peer Anders auch eines Tages ins Moor gestarrt und dabei die Idee zu seinem Buch gehabt. Er hatte die Augen geschlossen, der Wind hatte geheult wie heute, als käme er von See, und hatte ihm das Mädchen Franziska zugeweht und zwei Seeleute, einen Steuermann und einen Maat, die er Lumberjack und MacNugget genannt und auf Schatzsuche geschickt hatte.

Besonders geheimnisvoll ist unser Moor ja eigentlich nicht. Peer Anders hatte es umgedichtet, bei ihm war es ein echt schauriger Ort. Irrlichter lockten die Schatzsucher in Sümpfe, über denen Nebelschwaden dampften, die bestialisch rochen und auf nichts anderes warteten, als alles zu verschlingen, was sich zu ihnen verirrte.

Wenn Anders tatsächlich in dem Haus wohnte, war dies das Moor, in dem sich die Schatzsuche abspielte, und es hatte wahrscheinlich nahe gelegen, dass sie den Film gerade hier drehten. Das Ameisengewusel da unten war stärker geworden, alle schienen durcheinander zu laufen und ihre Geräte und sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen.

Wahrscheinlich war es inzwischen auch zu dunkel zum Drehen.

Das war’s dann, dachte ich.

Aber gerade, als ich gehen wollte, gab es über mir ein lautes, quietschendes Geräusch. Ich fuhr herum und sah, wie die Klappe hoch schwang. Eine Strickleiter fiel herunter und baumelte mir verlockend vor der Nase.

Eine Strickleiter! Das war das Letzte, was ich erwartet hatte.

Zu Strickleitern hatte ich ein ganz besonderes Verhältnis. Wie zu allem, das mit Seefahrt zu tun hatte. Mein Ururgroßvater war Kapitän gewesen, zwei Gemälde von ihm, ein größeres und ein kleineres, mit Segelschiffen darauf, einem Schoner mit dem Namen Alexander von Humboldt und einer Dreimastbark mit Namen Lucas Cranach, hingen bei mir im Zimmer. Mehrere Jahre schon war ich mit ihnen auf große Fahrt gegangen. Oder mit der stolzen Fregatte im Buddelschiff, der Hispaniola hieß, wie das Schiff in der Schatzinsel von Robert Louis Stevenson.

Es konnte also keiner von mir verlangen, dass ich jetzt einfach abhaute. Stattdessen kletterte ich die Strickleiter hoch und dachte an meinen Ururgroßvater, den Kapitän.

2. Der Keller

Die Strickleiter war über ein niedriges Mäuerchen geworfen und befestigt, auf dem die Klappe auflag, wenn sie zu war, und dahinter war so was wie ein Vorraum und hinter dem Vorraum ein kurzer Gang und dahinter eine Art Keller, in den Hang hinein gebaut wie eine Höhle. Eine Deckenleuchte gab ein etwas graues Licht. Gekalkte Wände. Moorleichenlicht.

Dieser Keller kam allerdings im Buch nicht vor.

Zoé saß an einem kleinen, runden Tisch und las in einem Buch. Sie rührte sich nicht und sah auch nicht auf, als ich kam. Fast wie eine Puppe in einem Bühnenbild.

Ihr Mantel hing an einem Haken, der an einem zweistöckigen, dunkelorange gebeizten Bett mit Leiter angebracht war. Die Betten waren gemacht wie zum sofortigen Gebrauch. Am Fußende ordentlich gefaltete schwere braune Wolldecken. Ein Schrank stand ganz hinten, der Tisch mit drei Stühlen ungefähr in der Mitte. Dann war da noch ein Spülbecken. Daneben ein Hängeregal mit Küchenzubehör und ein Schränkchen mit einem roten Kreuz drauf. Dann eine Kommode, auf dem irgendein Kasten und ein seltsam altmodisches Radio standen. Auf dem Tisch ein altmodisches Telefon. Im Moorleichenlicht die reine Filmkulisse.

Ich hatte keine Idee, was das sein sollte. Vielleicht eine Jugendherberge. Vielleicht ein Gästezimmer. Vielleicht vermietete Peer Anders es teuer. Oder aber er schrieb hier. Vielleicht brauchte er diese besondere Atmosphäre – so wie Friedrich Schiller vor sich hin faulende Äpfel zum Schreiben gebraucht hatte.

Das Seltsamste war, dass eine Wand völlig verspiegelt war. Und dass eine Holzstange wie ein Geländer in etwa ein Meter Höhe am Spiegel entlang lief. Dazu fiel mir gar nichts ein. Außer, dass Peer Anders immer mal beim Schreiben hoch schaute, um im Spiegel seinen Charakterkopf mit der Denkerstirn zu bewundern.

Zoé klappte das Buch zu, legte es auf den Tisch, warf mir einen Blick zu, der mit einem Lächeln garniert war, und stand auf. Dann ging sie zum Küchenregal neben dem Spülbecken und beäugte die Küchensachen. Und ich ging zum Tisch und sah mir das Buch an. Es war ein dickes schwarzes kleinformatiges: Die Heilige Schrift stand in Goldbuchstaben auf dem Einband. Eine Bibel also. Mit Leseband.

„Krass“, sagte ich.

Es rutschte mir so raus. Und ich fragte mich, ob sie wirklich in der Bibel gelesen oder nur so getan hatte und wenn ja, warum.

Zoé schwieg.

Ich ging zum Tisch und hob den Hörer vom Telefon. Nichts. Dafür Knistern und Rauschen aus Zoés Richtung. Im Spiegel sah ich, dass Zoé sich am Radio versuchte.

„Krass!“, sagte sie.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie eine Show abzog, und das ärgerte mich.

„Was ist das eigentlich hier?“, fragte ich.

„Was meinst du?“

„Das alles.“

„Ein Luftschutzkeller.“

„Ein was?“

Sie zog die Augenbrauen hoch und seufzte. Setzen, sechs!, sollte das bedeuten. Blöde Kuh. Luftschutzkeller! War man hier vor frischer Luft geschützt? Und wenn ja, warum? Und was war mit der Sauerstoffzufuhr? Oder sollte er einen bei einem Supergau schützen, einem Atomunfall? Aber warum war dann alles so altmodisch hier?

Ich verschluckte weitere Fragen nach dem Luftschutzkeller, obwohl oder weil Zoé mich erwartungsvoll ansah.

Stattdessen fragte ich: „Dein Vater wohnt manchmal hier?“

„Nicht im Luftschutzkeller! Oben! Er ist Professor in Basel.“

Ich ließ nicht locker: „Und mit Peer Anders befreundet?“

„So kann man das nicht sagen.“

„Wie denn?“

„Anders.“

Sie grinste. Bingo!

Sie nahm eine Schallplatte aus einer Stellage und studierte das Etikett. Sie schien schwerer und dicker als alle alten Schallplatten, die ich je gesehen hatte. Und sie hatte eine andere Größe. Es musste sich um einen vorsintflutlichen Plattenspieler handeln, mechanisch, nicht elektrisch, mit einem Tonarm mit einer weit herausragenden dicken Nadel.

Ich ging demonstrativ zurück zu der Klappe.

Jetzt goss es in Strömen. Und richtig dunkel war es inzwischen. Das Moor wie hinter einem Vorhang.

Was bildete sich Zoé eigentlich ein? Zog ihre Show ab, kein Mensch wusste warum, aber ich würde sie bestimmt nicht danach fragen!

Sie stand plötzlich dicht hinter mir und ich drehte mich um. Wir funkelten uns an. Irgendetwas war ganz verkehrt.

Zoé schniefte und sagte: „Es regnet rein.“

„Na und?“, schnappte ich. „Ich hab das Ding nicht aufgemacht.“

Ich ließ sie stehen, hörte, wie sie die Klappe schloss, ging zur Tür ganz hinten, links an der Seite und bewegte sie hin und her.

„Eisen“, sagte ich. „Interessant.“

„Was Männer so interessant finden.“

Ich warf ihr einen Blick zu, der sie in Asche verwandeln sollte. Aber sie war anscheinend immun.

Hinter der Eisentür ging eine Holztreppe bis zu einer Luke, die offen stand.

Ich hatte genug von Zoé und stieg die Treppe hinauf und durch die Luke in einen Raum, der Fenster zum Garten hin hatte. Die Klappertür war jetzt geschlossen.

Der Raum war voller Gartengeräte und –möbel. Ein Schrank, eine Truhe, Kisten. Die Tür zu einem Gang stand offen.

Zoé kam mir nach, ging an mir vorbei in den Gang und schaltete das Licht an.

„Kommst du?“, fragte sie. „Ich will dir was zeigen.“

Sie war wie eine Klette. Und ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Außer, sie benutzte mich als Versuchskaninchen.

Aber ich kam. Weil es draußen regnete und ich nicht in den Regen wollte. Jedenfalls erzählte ich mir, dass es deswegen war.

Wir kamen an einer Waschküche vorbei. Auf Leinen hing bunt durcheinander die letzte Ladung der Waschmaschine. Ein dritter Raum war Wein- und Vorratskeller. Das war der endgültige Beweis: Das Haus, in dem ich war, war wirklich das Haus, das Peer Anders für seinen Roman benutzt hatte.

Im Weinkeller hatten sich die Schatzsucher, die über den Balkon in das Haus eingestiegen waren, erst mal ordentlich bedient und schließlich verbarrikadiert, ehe sie sich mit erhobenen Flaschen und abgebrochenen Flaschenhälsen gegen die andere Bande den Weg ins Freie erkämpft hatten. Es musste sehr eng zugegangen sein. Aber vielleicht hatte Anders auch ein bisschen geschummelt.

Ich stellte mir Anders plötzlich als alten Mann vor. Älter als mein Großvater, viel älter. Mein Großvater war 62, aber nicht wirklich alt. Peer Anders war wirklich alt. Er sabberte. Und hielt sich mit Krimis und Schauergeschichten mühsam über Wasser. Oder nein, er hatte ja dieses Haus, er hatte sich reich geschrieben. Zur Strafe sabberte er. Sogar, wenn er sich im Spiegel bewunderte, sabberte er.

Im Buch war kein Foto von ihm. Er wusste wahrscheinlich, warum. Und deshalb war sein Buch auch so altmodisch gewesen, spannend geschrieben, aber irgendwie altmodisch.

Das Haus ist zwar echt, dachte ich. Aber die Geschichte wird er ja wohl selbst erfunden haben.

War es das, was Zoé mir zeigen wollte? Nachdem ich ihr erzählt hatte, ich sei wegen des Hauses hier? Aber warum all dies Getue?

Sie war schon auf dem Weg nach oben.

Und auf einmal reichte es mir.

Die verarscht mich hier nach Strich und Faden!, dachte ich. Das war eine Falle! Die Strickleiter, der Keller!

Schnapp!, sagte die Katze und leckte sich die Schnurrbarthaare.

Alter Spruch von meinem Großvater.

 

Ich schrie: „Es reicht mir!“

Und kehrte um, durch den Gang und den ersten Raum und raus. Und die Tür schmiss ich ins Schloss.

Es schüttete immer noch. Ich zögerte, noch war ich vom Balkon über mir geschützt.

Ich hörte Zoé im Haus hinter mir. Dann riss sie die Tür auf und steckte den Kopf ins Freie.

„Scheiß drauf!“, schrie ich sie an.

Und zog mir die Kapuze übern Kopf und lief am Haus entlang und den Pfad runter zu meinem Fahrrad.

Unten sah ich auf meine Armbanduhr. Es war viertel nach fünf. Normalerweise wäre ich jetzt zu Mario gefahren oder hätte ihn angerufen, aber das ging nicht, er wollte keinen Besuch. Meine Großeltern waren nicht zu Hause, das wusste ich. Sie waren in München in einem Konzert und würden erst am späten Abend zurückkommen.

Also entschied ich mich, Tante Friederike zu besuchen.

Und strampelte los, Wut im Bauch.

Ich strampelte sie mir weg, den letzten Teil des Wegs, den Hang hinauf zu der Seniorenresidenz mit Blick auf die Berge, in den Pedalen stehend.

Atemlos und ziemlich durchnässt rannte ich durch die große Halle und die Treppe hinauf in den zweiten Stock.

Vor Tante Friederikes Tür blieb ich stehen, um mich etwas runterzuregeln.

Dann klingelte ich.

3. Bei Tante Friederike

Tante Friederike war Tänzerin gewesen und hatte eine Ballettschule betrieben. Außerdem hatte sie Geld. Niemand wusste, wieviel.

Sie war die Tante meines Großvaters. Obwohl sie also meine Urgroßtante war, nannte ich sie Tante, eine richtige Tante hatte ich nicht. Sie war über neunzig und ich besuchte sie ziemlich regelmäßig.

„Was für eine Überraschung!“, sagte sie, als sie mir die Tür geöffnet hatte.

„Hallo!“, sagte ich.

„Du bist ja pitschnass! Zieh deinen Anorak bitte draußen aus!“

Ich gehorchte und stand mit meiner Jacke, die Tante Friederike Anorak nannte, in der Hand auf der Fußmatte.

„Ausschütteln!“

Ich schüttelte.

„Na gut“, sagte Tante Friederike zweifelnd. „Häng ihn auf!“

Ich hängte ihn an die Garderobe in der kleinen Diele.

Sie ging mir voraus, ich machte die Tür zu und folgte ihr ins Zimmer.

Tante Friederike hatte Möbel und Lampen aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Überall standen Porzellanfiguren, vor allem Tänzerinnen.

Sie legte sich, schlank und in einem weiten Schlabbergewand, das weiße Haar violett getönt und kurz geschnitten, wieder auf ihren Diwan (wie sie ihr kleines Sofa nannte). Auf dem Tischchen, einem so genannten Nierentisch, vor ihr standen eine Teekanne und eine leere Tasse. Ihre buschige ägyptische Katze lag blasiert zu ihren Füßen. Sie hieß Nebukadnezar.

„Was führt dich zu mir?“, fragte sie. „Sehnsucht nach deiner alten Tante, hoffe ich.“

„Ich ...“, sagte ich.

„Steh nicht rum wie bestellt und nicht abgeholt. Setz dich, verschnauf und nimm dir von den Shortbreads.“

Ich setzte mich in einen von zwei Sesseln, kraulte den Kater und nahm eins von den Shortbread fingers, die sie sich aus Schottland kommen ließ, obwohl es sie auch im Kaufhaus gab. Sie pflegte sie in ihren Tee zu stippen, obwohl sie ziemlich weich waren. Aber der Tee war anscheinend alle und mit Stippen war es nichts.

„Also, mein Junge?!“, fragte sie. „Du bist zwar der einzige, der mich besuchen kommt, aber nie ohne vorher anzurufen. Es geht also vermutlich um Leben und Tod.“

„Nicht wirklich ...“, murmelte ich und verstummte. Nahm einen neuen Anlauf: „Weißt du, was ein Luftschutzkeller ist?“

Sie sah mich kopfschüttelnd an und gab ein kleines trockenes Lachen von sich.

„Natürlich!“, sagte sie dann. „Deine Ururgroßeltern sind in einem umgekommen.“

Das war das letzte, worauf ich gefasst war.

„In einem Luftschutzkeller??“

„Das Haus fiel über ihnen zusammen und die Decke brach ein. Mich haben sie in so was nie rein gekriegt, höchstens in den, den meine Mutter in diesem friedlichen Städtchen hat bauen lassen.“

„Und in dem sind meine ... meine Ur ... urgroßeltern umgekommen?“

„Gott bewahre! Sie waren in Hamburg zu einer Goldenen Hochzeit und sind in einen falschen Luftschutzkeller gegangen. Vor Stücker fünfundsechzig Jahren. Wieso interessiert dich das?“

„Ich war vorhin in einem Luftschutzkeller“, sagte ich. „In der Zugspitzstraße.“

„Ich werd verrückt!“, sagte Tante Friederike. „Was war das für ein Haus?“

„Naja“, sagte ich. „So ein zweistöckiges ... mit ... Erker ... Mansarde ... und einem Balkon ... direkt überm Moor.“

Tante Friederike nickte.

„Holst du mir mal ... ich weiß nicht, ab 1938 wahrscheinlich ...?“

Ich nickte und ging zum Regal, in dem die Fotoalben von Tante Friederike standen, genauer gesagt, die von ihrer Mutter, denn ihre eigenen Fotos bewahrte sie in mehreren Kartons auf, auch die aus ihrer Zeit als Tänzerin. Die Alben waren penibel beschriftet und Tante Friederike hatte einmal bemerkt, nichts hätte ihre Mutter lieber getan als zu beschriften, ob es nun Fotoalben, Tagebücher oder Marmeladegläser gewesen seien.

Ich hatte die Alben schon als kleines Kind immer wieder durchgeblättert und mir ein paar Kenntnisse über Mode und Frisuren seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erworben, auch über fremde Länder, denn die ersten beiden Alben enthielten Fotos von den Seereisen, die Tante Friederikes Mutter mit ihrem Mann, dem Kapitän, gemacht hatte.

Ich zog die zwei Alben von 1938 bis 1941 heraus, ging zurück und gab Tante Friederike, die sich inzwischen aufrecht hingesetzt hatte, das mit dem aufgeklebten Etikett „1938/39“.

Dann sah ich ihr zu, wie sie ihre Brille aufsetzte, mit ihren knochigen, altersfleckigen Händen das Album aufklappte, blätterte und dann auf eins der kleinen Schwarzweißbilder mit den gezackten weißen Rändern, die in aufgeklebten Ecken steckten, zeigte. Nebukadnezar spazierte auf dem Tisch herum und schnupperte an dem Foto, als könnte er mit der Nase sehen.

Es zeigte ein paar Menschen, die sich vor ein Haus gestellt hatten um sich fotografieren zu lassen. Daneben stand handschriftlich: Unser neues Haus.

Es war das Haus in der Zugspitzstraße, kein Zweifel. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen, ich hatte das Foto schließlich nicht zum ersten Mal gesehen?

„Wahnsinn!“, sagte ich.

„Sag bitte nicht immer Wahnsinn, wenn es sich um keinen Wahnsinn handelt, nicht einmal annähernd!“, sagte Tante Friederike streng. „Das ist ein ganz normales Haus und ein ganz normales Foto.“

„Wer sind die Leute?“

„Meine Eltern. Und das Ehepaar Brenner, von denen sie das Haus gekauft haben. Juden übrigens. Sehr nette Leute, hat meine Mutter immer gesagt, ich hab sie leider nie kennengelernt.“

Ich blätterte weiter. Das Haus war von allen Seiten fotografiert worden. Und dann gab es noch ein Foto, das dieselben Leute in einem Zimmer mit alten Möbeln zeigte, auf Sofa und Sesseln. Die Beschriftung lautete: Nach der Vertragsunterzeichnung.

„Wer hat das Foto gemacht?“

„Der Leitner Erwin. Er wohnte in der Nachbarvilla.“

Wer?

„Mein Cousin. Das weißt du doch!“

Ich nickte. Und dachte an Felix Leitner.

„Das ist er“, sagte Tante Friederike und deutete auf ein Bild, das sie im Alter von ungefähr zwanzig Jahren mit einem drahtigen jungen Mann zeigte, der einen Kopf kleiner war als sie.

Auf einem andern Bild waren die beiden auf und in einem Motorrad mit Beiwagen zu sehen. Tante Friederike trug einen Hut vom Durchmesser der Motorradräder und Leitner einen Helm aus Leder.

„Damit haben wir Ausflüge gemacht. Verrückt, wenn ich’s mir überlege.“

„Jetzt hast du auf deine Art Wahnsinn gesagt!“, sagte ich.

Sie lachte und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

Ich blätterte weiter und fand das Bild mit der Baustelle. Der Luftschutzkeller wird gebaut stand daneben. Das nächste Bild hieß: Unser neuer Luftschutzkeller.

Sie hatten ihn von der Außenklappe her fotografiert. Alles war so, wie ich es in Erinnerung hatte. Nur der Spiegel fehlte.

„Der Spiegel fehlt“, sagte ich. „Und die komische Stange.“

„Das ist eine Ballettstange!“, sagte Tante Friederike. „Ich hab mir den Raum nachträglich als Trainingsraum eingerichtet, nach dem Tod meiner Eltern, als die Theater dicht gemacht wurden, im Herbst 1944. Ich musste doch üben, üben, üben!“

Spiegel. Spiegelfabrik, dachte ich. In dem Heft, aus dem Zoé vorgelesen hatte, war eine Spiegelfabrik vorgekommen. Aber ich kam nicht dazu zu fragen.

„Und jetzt erzähl endlich!“, befahl Tante Friederike.

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