Das Ding im Atlas

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Das Ding im Atlas
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Micha Rau

Das Ding im Atlas

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwörtchen

Tag 966

Tag 1

Tag 1122

Tag 300

Tag 332

Tag 444

Tag 445

Tag 452

Tag 1334

Tag 1615

Tag 1616

Tag 1704

Tag 1903 bis Tag 1917

Tag 2130

Tag 2555

Nachwörtchen

Impressum neobooks

Vorwörtchen

Zu Risiken und Nebenwirkungen dieses Buches fragt bitte eure Kumpels oder die Polizei. Jegliche Nachahmung geschilderter Vorkommnisse geschieht auf eigene Gefahr und sollte tunlichst vermieden werden. Ich hab euch gewarnt. Kommt mir hinterher nicht und jammert.

Das Geschreibse hier widme ich meinen Freunden Danny, Mathe, Elle und Jörg, die bis heute mit mir zusammen Mist bauen. Hey, Alter, Deine Nudel is ja wieder heile! Hast mit dem Pürierstab tatsächlich 3 Kinder gemacht! Oder weiß ich da von wem was nich?

Tag 966

Der Tag fing schon blöd an. Mein Vater war stinkwütend, weil sie schon wieder eine Konferenz abhalten wollten, um mich von der Schule zu schmeißen, im Bus war es zu dunkel, um die blöden Lateinvokabeln zu lernen, und dann bekam Mackuth auch noch seinen Montagskoller. Ich hätte wissen müssen, dass sich an dem Tag noch jemand böse verletzen würde. Aber ich konnte beim besten Willen nicht voraussehen, dass es ausgerechnet Dannys Pimmel treffen sollte. Die Sache hatte allerdings auch einen Vorteil: Danny musste zwar eine Woche lang mit einer blauschwarz angelaufenen Nudel herumlaufen, aber Mackuth vergaß vor lauter Lachen, die Konferenz einzuberufen …

Ja, ja, ich komm schon zur Sache. Also, an diesem Tag lief anfangs alles wie gewöhnlich. Die Weltkarte hing an ihrem Kartenständer, Schulz saß am Pult und dozierte aus seinem Buch, und wir glotzten in die Gegend. Um die Qualen des Dauernd-auf-die-Uhr-Sehens etwas zu lindern, packten wir unsere Armbanduhren in Erdkunde immer unter die Tische. Dann wuchs die Spannung, bis es klingelte, ins Unermessliche. Aber wehe, man guckte zwischendurch mal!

Zum Unterrichtszubehör gehörte ein riesiger Atlas, der ungefähr zwei Kilo wog, und den man aus diesem Grund getrost unter dem Tisch liegen lassen konnte, denn den klaute sowieso niemand. Im Unterricht jedoch hatte jeder von uns sein Exemplar vor sich liegen, und ab und zu war es sogar ganz interessant, sich hineinzuvertiefen, sich ferne Länder vorzustellen und in der Fantasie die aufregendsten Abenteuer zu erleben.

Aber der gewaltige Schinken konnte noch mehr. Auf die Oberschenkel gelegt und an den Tisch gelehnt, gab er eine hervorragende Deckung für allerlei Spielchen ab. Schiffe versenken, Siebzehn und Vier, Poker … gut, Pokern war schwierig, denn zu dritt in einer Reihe … da heißt es: Adlerauge sei wachsam!

Mathe nervte schon wieder.

„Machen wir ´n Spielchen?“

„Bin pleite“, grummelte Jörg. „Lass uns Montag in Afrika spielen.“ Afrika war nämlich nächste Woche dran. Aber Mathe gab nicht auf.

„Nich´ um Geld, nur so.“

„Ist ja noch schlimmer“, meinte Danny. „Dann lieber Zwirnbillard.“

Zwirnbillard geht nicht immer. Man braucht spezielle Zutaten. Zuerst ein Stück Faden, den man zu einem Kreis formt und ihn auf den Tisch legt. Nun popelt man und dreht kleine Bällchen. Diese müssen dann per Kugelschreiberspitze ins Zentrum geschossen werden. Geht allerdings nur mit Krustenpopeln. Krustenpopel hatten wir an dem Tag leider nicht.

Elle hatte noch gar nichts gesagt. Ich beugte mich vor und sah ihn an. Er schien etwas weggetreten, denn er starrte mit glasigen Augen auf den Nachbartisch. Genauer gesagt, ein paar Zentimeter darüber. Cora hatte es ihm angetan, und ich muss sagen, man konnte durchaus nervös werden bei dem T-Shirt, das sie da anhatte. Wobei es sicherlich nicht nur um das Textil als solches ging, wie man sich denken kann. Schließlich befanden wir uns in dem Alter erhöhten Hormondurcheinanders.

Elle war fix und fertig.

Wir anderen stießen uns an.

„Wie wär´s mit ´ner Mutprobe?“ Danny grinste provozierend. „Glotzen kann jeder!“

Elle wachte auf. „Was ´n los?“

„Machste mit? Damit ein bisschen Spannung in die Sache kommt! Wer traut sich, sein Ding rauszuholen und in den Atlas zu packen?“

Alle prusteten los. Schulz vorne las unbeirrt weiter. Mir kamen Bedenken. Gut, man könnte auch sagen, ich hatte Schiss.

„Hör´ auf, wenn das einer merkt, fliegen wir! Außerdem kann Cora rüberschauen, die sieht dich!“

„Quatsch keine Opern, das Buch ist groß genug, da passen zehn von deinen rein! Und außerdem … raus, rein. Nicht lange. Du traust dich bloß nicht!“

„Mann, du Blödmann, natürlich trau ich mich! Aber nur, wenn alle mitmachen. Alle gleichzeitig!“

„Logo. Alle gleichzeitig. Ich zähle bis zehn. Alle klar zum Manöver?“

Keiner wollte kneifen. War eigentlich auch kein Risiko dabei. Wie gesagt: Schulz faselte, die Atlanten waren groß, der Mut auch, was sollte schon passieren?

Bei zehn zögerte keiner von uns. Hose auf, Schniedelwutz raus und auf Südafrika platziert.

Danny triumphierte. „Volle zehn Sekunden!“, raunte er.

Drei davon vergingen, doch dann schlug das Schicksal mit grausamer Härte zu. Alle achteten auf den ollen Schulz, nur ich behielt die Mädchen im Auge, schließlich wollte ich keinen Zwei-Fronten-Krieg riskieren. Und da geschah es: Cora sah gelangweilt rüber zu Danny, und der Idiot hatte sich nur Deckung in Richtung Lehrertisch verschafft. Coras Augen schwollen an, und ich ahnte das Unheil kommen.

Vorsorglich packte ich schon mal zusammen. Danny merkte, was ich vorhatte und motzte mich an.

„Du Lusche! Wir halten länger aus! Du …“

Das war´s. Coras Auftritt. Ich dachte, sie würde ihre Nachbarinnen heimlich informieren, aber nein …

Daaaa …! Danny hat sein Ding draußen!“

Laut und deutlich. Besser: Sie kreischte. Alle fuhren zusammen und drehten sich um. Sogar Schulz. Und auch der liebe Danny fuhr zusammen. Zu seinem Pech in etwas unglücklicher Weise. Als er merkte, worauf Cora da starrte, klappte er in panischem Schreck den Atlas zu. Leider vergaß er, vorher das Lesezeichen herauszunehmen und klemmte sich das Ding zwischen Afrika und Südamerika ein.

„Aaauuuuuuhhhh!“

Schulz sprang auf. „Dannenberg!“, brüllte er. „Vorkommen! Zeigen Sie auf der Karte, wovon ich gerade gesprochen habe! Ein bisschen plötzlich!“

Danny jammerte. Ich fühlte mit ihm. Wir anderen Vier hatten natürlich längst alles wieder geordnet.

„Uhhhaarrgg!“ Danny litt sichtlich schwer. Ich meldete mich.

„Er kann nicht. Er hat … er hat sich eingeklemmt.“

Die Klasse grölte.

„Nun“, meinte Schulz, „er scheint mir keineswegs verklemmt zu sein. Stehen Sie sofort auf und bringen Sie den Zeigestock mit!“

Ich konnte nicht mehr, ich musste auch lachen. Ich fing an, hielt mir den Bauch und konnte nicht mehr aufhören. Bis ich Danny ansah.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht nestelte er an seiner Hose herum, mit der einen Hand hielt er den Atlas über die prekäre Stelle, mit der anderen versuchte er, die Sache zu einem unauffälligen Ende zu bringen. Dann stand er langsam auf, und unter dem vernichtenden Gekicher der Klasse warf er mir einen Blick zu, der mich auf der Stelle hätte töten müssen. Das Lachen erstarb mir auf den Lippen.

Aber er stand die Sache durch. Geschlagen, aber nicht gebrochen. Mit gebeugtem Rücken, eine Hand auf den Unterleib gepresst, legte er den übelsten Weg seiner bisherigen Laufbahn zurück, erreichte die Karte, zog den Zeigestock hervor (den echten!), richtete sich auf und knallte die Spitze auf Sibirien.

Es wurde ruhig in der Klasse. Schulz nickte langsam mit dem Kopf und hob anerkennend die Brauen.

„Exzellent, Herr Dannenberg. Genau da gehören Sie hin!“

Tag 1

Ich blende jetzt mal kurz zurück, damit ihr wisst, mit wem ihr es überhaupt zu tun habt. Und worum’s geht. Ich bin Mike. Mike back on stage. Das ist meinem Freund Danny eingefallen, als ich unseren Englischlehrer Fiete ausgebremst hatte. Fiete flippte immer aus, wenn man nicht bei der Sache war. Da wir nie bei der Sache waren, flippte er eigentlich immer aus. Jedenfalls … Fiete fragte Danny die Vokabeln ab, Danny meinte, kann ich nich, darauf Fiete: Mit deinem Intelligenzquotienten hast du hier nichts zu suchen! Ich fand das nicht so richtig gut, also meldete ich mich und äußerte mich etwa so:

 

„Das finden Sie wohl sehr witzig?!“

Daraufhin gewann die Farbe Rot in seiner Birne die Oberhand, und ich handelte mir einen Brüllanfall der Stärke 12 ein. Als Fiete einmal Luft holen musste, raunte mir Danny von hinten zu: „Hey, danke! Mike back on stage!“

Na ja, auf die Bühne zurück musste ich oft, schließlich fiel ich ebenso oft von ihr runter. Aber egal, so ist das Leben nun mal.

Es gab nur eins, was mich in der Schule magisch angezogen hat, und das war die letzte Bank. Okay, liebe ältere Mitbürger, Sie haben schon Recht, auf die letzte Bank gehören nur die miesesten Typen. Und an meinem Streben in diese Richtung erkennen Sie, dass ich genau zu denen gehörte. Wahre Intelligenz hält sich eben vornehm zurück.

Jedenfalls zog es mich am ersten Schultag im Humboldt-Gymnasium (wer ist dieser Humboldt eigentlich?) unwiderstehlich in die hintere rechte Ecke. Mein schon genannter bester Freund Danny war diesen magischen Kräften natürlich auch nicht gewachsen, und so fanden wir uns da wieder, wo die Schule so gerade noch zu ertragen war: Auf der letzten Bank.

Ich sah mich um. Die Klasse gefiel mir. Ungefähr so wie die Zimmer in Bonnies Ranch, unserer berühmten Irrenanstalt, oder die Apartments im Knast in der Seidelstraße.

Das Ganze sah aus wie ein hohler, grauer Würfel, farblich fein abgestimmt mit einem grünen Fleck an der Wand, auch als Tafel bekannt. Dazu fünfzehn braune Folterbänke. Je eine für zwei der dreißig Gefangenen, die hier zu sieben Jahren lebenslänglich verurteilt waren.

An einem dieser Tische saß ich nun und überlegte mir, wie ich die verdammten 2555(!) Tage überleben sollte, als Danny mich anstieß.

„Hey, sieh mal!“

„Was is’n?“

„Hier scheinen schon mehr Leute verreckt zu sein.“

Unser Tisch hatte wohl schon so manches Jahr geduldig ertragen müssen, denn eine kleine Heerschar von Schülern hatte sich auf ihm verewigt. Ehrfürchtig las ich:

Englisch ruhe in Frieden, Amen

Humboldt inhumanum est

Tom liebt Martina

Immerhin schien es auch wahrhaft tiefe Liebe in dieser Anstalt zu geben. Danny zückte seinen Kugelschreiber und ritzte dazu:

Danny und Micha, am Beginn einer langen Irrfahrt

Ich hatte auch eine Idee und schrieb:

Latein ist Kotze mit Stückchen

Das Gemurmel in der Klasse schwoll langsam an. Wie das in dem Alter so ist, man hält sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. Zehn Minuten zuvor noch war jeder vom anderen erbarmungslos angeglotzt und abgeschätzt worden. Doch das alles schien nun schon wieder Ewigkeiten her.

Als er dann hereinkam und die Tür recht heftig hinter sich zumachte, war, glaube ich, jedem von uns klar, dass aus diesen dreißig zufällig zusammengewürfelten kleinen Teufeln eine eingeschworene Bande werden würde.

Herr Mackuth legte seine schweinslederne Aktenmappe auf den Lehrertisch und musterte uns. Wie es mir schien, vergingen mindestens zehn unbehagliche Minuten, in denen er jeden einzelnen von uns derart intensiv anschaute, dass wir alle erstmal wieder ein paar Zentimeter kleiner wurden.

„Guten Morgen.“

Nach der vorangegangenen Stille zuckte ich richtig zusammen. Der hatte genau die richtige Stimme, jedenfalls vom Standpunkt des Lehrers aus. Nicht zu leise, nicht zu laut. Ein wenig schneidend, Aufmerksamkeit heischend. Mir war sie schon nach diesen beiden Wörtern nicht sympathisch, schien sie doch geradezu perfekt zu seinem Äußeren zu passen. Er besaß die klassische Lehrergestalt: Besenstielverstärkter Rücken mit einem Kreuz aus Eisen. Auch wenn er auf einem Stuhl saß, hatte man den Eindruck, dass er einen um mindestens zwei Meter überragte. Er besaß schütteres, schwarzes Haar, das er außerhalb der Schule stets mit einer Art Melone verdeckte. Niemals ging er draußen ohne Mantel, Schal und Hut. Ein bisschen antiquiert, dessen war er sich wohl bewusst. Aber er stand über den Dingen.

Seine Augen sahen mich genau in dem Moment an, als ich seine dämliche Krawatte bemerkte. Diese Augen passten nicht in das Bild, das ich mir voreilig gemacht hatte. Sie waren von hellblauer, klarer Farbe. Sie machten ihn menschlich. Ein Unding!

Ein ganz leichtes, unmerkliches Grinsen zog sich um seine Mundwinkel, und als ich merkte, dass es mir galt, war es schon zu spät. Ich bekam einen Kopf wie eine reife spanische Tomate. Südspanien, wohlgemerkt.

Er überging es, und ich verankerte in meinem Kopf, dass irgendwo in diesem Lehrer noch ein Schüler stecken musste, der die andere Seite kannte. Aber ich sollte diesen Gedanken über viele Jahre hinweg nahezu begraben, denn genau der Punkt, dass er uns nämlich verdammt gut kannte, machte ihn unschlagbar.

Es wurde ernst.

„Nun, ich denke, es wird euch genauso interessieren wie mich, mit wem wir es zu tun haben. Ich schlage vor, wir machen uns Namensschilder und stellen sie vor uns auf den Tisch. Das macht es für den Anfang leichter, den anderen anzusprechen.“

Gesagt, getan. Er baute auf seinem Tisch ein überdimensionales Namensschild auf: Teja Mackuth. Weder seinen Vor- noch seinen Nachnamen habe ich später in meinem Leben jemals wieder gehört.

Man konnte es eigentlich kaum glauben, wenn man sich die Leute so ansah, aber schreiben konnten sie tatsächlich alle schon. Und es sollten gerade einmal zwei, drei Minuten vergehen, schon waren dreißig käsige Schülergesichter mit Namen versehen.

Merkwürdig, wie doch ein Name bisweilen ein Leben lang die Eigenschaften der ihm zugehörigen Person widerzuspiegeln scheint. Ich persönlich bekomme Ausschlag bei Sophie, denn die Sophie, die mir gegenüber saß, hat mich nie abschreiben lassen. So was prägt fürs Leben.

Aber kommen wir zu den Namensschildern und den dahinter sitzenden Gestalten. Jedenfalls zu denen, die ich noch vor mir sehe.

Beginnen wir mit den Mädchen, so wie es sich gehört. Nicht, dass ich damals schon nach den Damen geschielt hätte … hmm, jedenfalls an diesem ersten Tag noch nicht. Das kam erst einige Zeit später. Aber das gehört hier nicht her.

Jedenfalls, ich las die Namen und schaute mir die Mädchen an. Runa und Selina. Ein seltsames Gespann. Runa passte nicht gerade als Model in die Teenie-Seiten vom Quelle-Katalog, aber sie sollte sich als die bei weitem intelligenteste herausstellen. Und nicht nur das, sie besaß ein großes Herz. Selina war ein unscheinbares Mädchen, sie fiel weder nach der guten noch der schlechten Seite auf. Sie und Runa waren unzertrennlich.

Die beiden Maries waren etwas frühreife Dinger, die unseren jungen Referendar Schulz so manches Mal mit ihren breiten Gürteln, die sie als Miniröcke bezeichneten, vom Thema abbrachten. Aber ansonsten waren sie in Ordnung.

Cora und Angelique. Tja, die Angelique. Die hatte sich den Biologieunterricht so zu Herzen genommen, dass sie in der zehnten Klasse als Mutter abging. Das Leben ist eben die beste Schule.

Und die Cora … ja, Cora war so etwas wie der heiße Feger der Klasse. Als sie Kevin Gläßel den ersten Kuss gab, wären wir anderen Jungs beinahe geschlossen vom Dach gesprungen. Aber sie hat’s wieder gut gemacht. Später kam jeder mal dran.

Die vorhin schon beschriebene Sophie und Lena. Zwei wie Tag und Nacht. Sophie war die Prima der Klasse, das muss man ihr lassen. Aber als Kumpel kann man sie nicht bezeichnen, denn sie ließ mich nie abschreiben. Außerdem spielte sie Blockflöte, und ich glaube, auch Klavier. Aber daran will ich mich nicht erinnern, brrrr ...! Doch sie sah super aus. Die unnahbare Schöne.

Die Lena war das genaue Gegenteil. Ein Mädchen zum Pferdestehlen und zudem eine recht erfahrene Frau. Sie hatte schon eine oder zwei Ehrenrunden gedreht …

Karina und Jana. Jana war meine erste große Liebe. Davon erzähl ich aber nichts. Das wäre mir doch eher unangenehm. Vielleicht später, solltet ihr keine Ruhe geben. Aber nur vielleicht …

Und die Karina. Jaaahh … die Karina war zwar recht klein, doch das glich sie durch ihre enorme Anziehungskraft aus. Sie hatte nämlich einen gewaltigen Busen. Aber das interessiert hier natürlich niemanden.

Kommen wir zu den Kerlen. Danny war und ist mein bester Freund. Wer einen besten Freund hat, dem brauche ich nicht zu erzählen, was das bedeutet. Zu unserer unzertrennlichen Clique gehörten noch Jörg, ein lieber Kerl mit guten Manieren, der schon damals mit Paragrafen um sich warf (er ist tatsächlich Anwalt geworden), Mathe, der alle Mädchen und Frauen Deutschlands mit Vor- und Nachnamen sowie die dazugehörigen Augen-, Haarfarben und Oberweiten kannte, und unser Freund Elle, der mit wallender Haarmähne und Hosenträgern bis heute intelligent und wild zugleich ist.

Außerhalb dieser Clique erinnere ich mich an zwei Kevins. Einen dummen dicken und einen kleinen schlauen (der mit dem ersten Kuss!).

Wieland war, wie der Schüler so sagt, ein Streber, aber auch ein Pfundskerl.

Dann sehe ich Tom und Hendrik vor mir. Tommy hatte eine Frisur wie der Struwwelpeter (echt!). Das war ein verschmitzter Kerl, da passten Aussehen und Charakter wirklich zusammen. Und Hendrik hätte sein Bruder sein können, nicht gerade äußerlich, aber der hatte auch ein paar der schärfsten Sprüche drauf …

Ein weiterer Tom und André gehörten damals auch zu meinen guten Freunden. Über ihre schulischen Leistungen sprechen wir lieber nicht, aber das soll ja hier auch nicht Thema sein, sonst … hmm … müsste ich ja auch über meine reden. Und das muss ja nun wirklich nicht sein.

Phillipp war ein unscheinbarer Mensch. Wegen seines Aussehens und seiner dicken Brille wurde er oft gehänselt. Aber ich weiß nicht, warum niemand mit ihm auskam, ich hab mich öfter mit ihm getroffen.

Joe und Alexander sind die letzten, die ich deutlich vor mir sehe. Joe war ein super Sportler und ein kleiner Frauenheld. Ich muss zugeben, er sah auch fast so gut aus wie ich. Und Alexander war ein wohlgenährtes, lustiges Kerlchen. Der hatte immer zwei rote Bäckchen wie der kleine Junge von der Zwiebackreklame.

So, jetzt reicht’s. Ich fand die Beschreibungen von Leuten und Landschaften (uäärrggsssnoch schlimmer!) schon immer ätzend. Erzähl ich euch lieber von dem Blödsinn, den wir so draufhatten und den die Lehrer und Eltern immer so toll fanden, dass sie uns ständig auf andere Schulen verteilen wollten. Ach, eins noch: Macht’s bitte nicht nach. Ich hab schon genug Ärger an der Backe.

Was wollt ihr hören? Noch mehr was mit Sex? Okay, könnt ihr haben. Muss ich nur ´n paar Tage vorspringen …

Tag 1122

Herr Michaelis unterrichtete Naturwissenschaften. Dazu gehörte Biologie und – wie er sich ausdrückte – angewandte Physik. Zum Zweck der praktischen Umsetzung der Errechnung von Strömungswinkeln mussten wir ein Modellflugzeug aus Balsaholz bauen. Mein Vater besitzt zwei linke Hände, und die hat er an mich weitergegeben, so dass ich nun insgesamt vier davon habe. Kurz: Das Modellflugzeug hauchte sein kurzes Leben auf seinem Jungfernflug aus. Ohne jeden terroristischen Hintergrund löste sich der Stolz von 32 Arbeitsstunden in der Luft in seine Einzelteile auf und zerbröselte auf einer unbekannten Wiese. Wenden wir uns lieber der Lehre des Lebens, also der Biologie, zu. Denn davon verstehe ich was.

Thema: Die Sexualität des Menschen.

Also, auch Herr Michaelis war ein Mensch. Vielleicht ist er es heute noch. Mensch und Biologielehrer. Studien am eigenen Objekt hätten sich unbedingt angeboten, denn der Typ sah aus wie eine zu groß geratene Kartoffel. Er besaß die imposante Größe von einem Meter sechzig. Wegen dieses Umstandes ließ er Stühle grundsätzlich unbeachtet. Sein Bauch glich einem Fass. Den Hals schien der liebe Gott vergessen zu haben, dafür war sein Kopf eine wahre Fundgrube für Portraitmaler. Tiefe Furchen gruben sich von seinen Augen bis hinunter zur Nase, deren Anatomie ein eigenes Fachbuch wert gewesen wäre. Dieser Nase verdankte er seinen Spitznamen Knolle. Das war bei weitem nicht sein einziger. Wenn euch Wurstfinger oder Amöbenkalle lieber sind, bitte sehr, bedient euch.

 

Okay, seien wir nicht so gemein. Mochten auch seine äußerlichen Absonderlichkeiten nicht ganz abzustreiten sein, seine Augen blickten wahrhaft gütig aus dem zerfurchten Gesicht hervor (mein Gott, was sag ich da?). Es geschah nur selten, dass der kleine Berg, der aussah wie ein Kampfpanzer, explodierte. Dann aber wurde er zum Vulkan, und wir hatten tatsächlich etwas Respekt vor ihm. Aber wie gesagt, dass geschah nur selten.

Ja, okay, zurück zum Thema: Die Sexualität des Menschen.

Ihr wisst sicher, was Sexualität ist. Ich ähhh … muss das nicht erklären. Danke. Ich weiß allerdings nicht, ob Herr Michaelis wusste, was Sexualität ist, denn das Thema stand zwar für dieses zweite Halbjahr im Lehrplan, aber die Wochen und Monate vergingen, ohne dass Knolle damit anfing. Zugegeben, er hatte uns Literatur empfohlen, z.B. Aufbau und Funktion der Geschlechtsorgane, aber ein vernünftiger Porno war nicht dabei. Das Schuljahr neigte sich dem Ende zu, und wir waren dem mit Spannung erwarteten Thema um keinen Schritt näher gekommen. Wir kannten jede Muskel- und Nervenfunktion, jeden Knochen und die Sektionen des Gehirns, aber Knolle drückte sich tatsächlich bis in die letzten Wochen vor dem alles entscheidenden Thema. Auch mehrmalige deutliche Aufforderungen durch uns bis hin zur Meuterei ignorierte er einfach. Tja, nun könnte man sagen, der wusste echt nichts vom Rummachen, weil … wer würde schon mit dem …? Aber Quatsch, der hatte nur Schiss vor unseren Fragen und seinen Antworten.

Natürlich dachten wir uns, dass er sich dachte, dass wir uns denken konnten, dass er eigentlich nur dumm dabei aussehen konnte. Kurz: Wir waren sicher, dass wir im praktischen Bereich dieses Themas weiter waren als er. Aber es wäre zu lustig gewesen, wenn er es in der Theorie mit uns aufgenommen hätte. Wir wollten uns eben amüsieren. Ja, ja, auf seine Kosten, okay.

Aber er tat uns den Gefallen nicht.

Um das, was dann folgen sollte, und ich sag euch, das war der Hammer!, realisieren zu können, musste die ganze Klasse Bescheid wissen. Und mitmachen. Und Geld sammeln. Sonst hätte Knolle nicht etwas fürs Leben lernen können. Aber halt, eins nach dem anderen.

Der kleine Dicke brauchte einen deutlichen Hinweis. Und wie der auszusehen hatte, darauf brachte uns ausgerechnet Cora.

„Wie wär´s, wenn wir ihm mal ´ne Sammlung der Seite 3 von der Bild-Zeitung mitbringen? Die mit den nackten Mädels! Vielleicht merkt er dann, wo´s langgeht?“

Die Idee war nicht schlecht, aber Jörg, ausgerechnet unser solider Jörg, ließ sich davon zu einem weitaus besseren Ding inspirieren.

„Mensch, Leute, mir fällt da was ein … was haltet ihr´n davon …?“

Das Weitere ging im Flüsterton vonstatten, nur dann und wann von einer gewaltigen Lachsalve unterbrochen. Und das will ich jetzt mal nicht wiedergeben. Lasst euch überraschen.

*

Am darauf folgenden Samstag war Manöverbesprechung.

Wir hatten die Klasse über unser Vorhaben informiert. Mit einigen Leuten hatte es tatsächlich Schwierigkeiten gegeben, und bei dieser … hmm … etwas delikaten Thematik war das auch durchaus verständlich. Aber eine gute Idee setzt sich immer durch.

Als das geklärt war, wurde eine Sammlung durchgeführt. Billig war der Spaß nicht. Manche konnten gar nichts geben, ganz einfach, weil eben nicht jeder wohlhabende Eltern hat, aber andere opferten das gesamte Taschengeld. Wir waren sicher, auf einen guten Schnitt gekommen zu sein.

Danny, Jörg und ich übernahmen die Einsatzleitung. Dann wurde zusammengezählt. Aber vor allem musste telefoniert werden.

„Wie viel haben wir?“

Danny platzierte das letzte Geldstück auf eines der zahlreichen, kunstvoll aufgebauten Münztürmchen und pfiff anerkennend.

„Hundertfünfundfünfzig, fünfundsechzig!“

Ich war skeptisch.

„Das reicht nicht. So was bekommst du nicht unter dreihundert.“

„Keine Angst.“ Jörg machte auf Fachmann. „Für dreihundert kriegste zwei für mindestens drei Stunden.“

„Woher weißt´n das?“

„Na, das weiß man eben.“

„Wer ruft an?“

Betretenes Schweigen. Jeder sah lässig woanders hin.

„Gut“, meinte ich. „Wenn wir jetzt kneifen, dann können wir nie wieder in die Schule zurück. Wir müssen da durch. Also?“

„Mach du doch!“

„Ähh … losen wir!“

Die fairste Lösung. Also drei kleine Zettel gefaltet, auf einem stand du, rein in ein Cola-Glas und gut geschüttelt. Eigentlich wollten wir dann noch losen, wer anfängt …

Jörg hatte den Hauptgewinn. Entsprechend glücklich sah er aus.

Unser Treffen fand bei mir zu Hause statt, aus dem einfachen Grund, weil hier niemand störte. Wir zwangen also Jörg liebevoll, sein Handy hervorzuholen und blickten ihn erwartungsvoll an.

Mitleidslos beobachteten wir, wie er mit schweißigen Fingern die Nummer wählte und mit einem titanischen Kloß im Hals kämpfte.

Dann war es soweit.

Besetzt!“

Jörg war für zwei Sekunden der glücklichste Mensch auf der Welt.

„Los, versuch´s noch mal!“

Glück verfliegt so schnell.

Jörg wählte und wählte, und irgendwann war es wirklich so weit.

Es tutet!“

„Mensch, sprich tiefer!“

Dann hob jemand ab, und Jörg fing an zu sprechen. Und der machte das so eiskalt, dass es seit damals niemals wieder etwas geben sollte, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Der dachte sogar glatt an die rechtlichen Aspekte der Sache! Vor allem, wie man solche verhindern könnte. Ich hätte wissen müssen, dass der Anwalt wird.

Dann schien das Gespräch beendet zu sein, denn Jörg sagte nur noch: „Danke und bis zum nächsten Freitag“ und beendete das Gespräch.

Wir sahen uns mindestens eine Minute lang grinsend an. Dann meinte Jörg völlig ernst:

„Die Sache steigt. Hundertfünfzig. Der Rest sind Spesen.“

Ich blickte zur Decke.

„Alea iacta est. Der Würfel ist gefallen. So sei es. Amen.“

*

Der Tag X.

Wir hatten alle verdammtes Magensausen. Diesmal wusste ja ausnahmslos jeder Bescheid. Und jeder von uns hatte außer einem Satz Nerven schließlich noch eine Menge Geld investiert.

Aber wie das Leben so ist, die Meute bezahlt und gafft, aber einer muss den Helden spielen. Jemand musste die betreffende Person abfangen und die Abschlussver-handlungen führen. Der Andrang war natürlich unbeschreiblich, kurz: Niemand traute sich.

Nun ratet mal, wer dann schließlich draußen vor der Schule stand und mit hochrotem Kopf wartete, während seine klammen Finger die drei Scheine umkrampften?

Getroffen!

Also, da stand ich nun und machte mir vor Angst beinahe in die Hosen. Ich stand stundenlang da, und langsam wurde mir besser.

Sie kam nicht.

Ich sah auf die Uhr. Es waren genau drei Minuten vergangen. War wohl doch noch nicht so lange. Ich wartete weiter.

Die Uhrzeit werde ich nie vergessen: 11:48 Uhr. Bio lief schon acht Minuten.

Die Verabredung war aus strategischen Gründen auf fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn gelegt worden. Gott sei Dank, wer wusste schon, wie die Alte aussah? Außerdem … so richtig Lust auf Zeugen hatte ich wirklich nicht.

Ich ging wieder rein, murmelte irgendeine Entschuldigung und setzte mich unendlich erleichtert auf meinen Platz. Genau das dachte ich jedenfalls, aber eben in dem Moment, als mein rechtes Bein in Richtung Klasse zuckte, kam der Wagen um die Ecke.

Eigentlich hatte ich einen Ferrari oder etwas in der Art erwartet, aber alles, was da anhielt, war ein alter Golf, der noch ein Weilchen nachhustete, nachdem der Motor schon abgestellt war.

Aber was dann aus dieser Karre stieg, das war … also, ich muss schon sagen …

Nun wartet´s doch noch ein bisschen ab, beschreiben tu ich sie gleich noch!

Sie kam über die Straße auf mich zu, und ich kippte nach hinten um. Wäre ich jedenfalls, hätte der für unsere Schule zuständige Architekt seinerzeit den Zaun vergessen. So kam sie also, baute sich direkt vor mir auf und fragte mich nach der Schule. Ließ sich nicht mehr umgehen, ich musste mich offenbaren.

Das Gespräch gebe ich jetzt mal nicht naturgetreu wieder, das ist mir dann doch zu peinlich. Vielleicht könnt ihr es euch so ungefähr vorstellen. Sie sagte so etwas wie: „Waas? Du Milchgesicht … du hast mich bestellt?“

Den Rest schenke ich mir. Jedenfalls ging das noch eine Weile so weiter, aber dann stand sie kopfschüttelnd vor mir und grinste.

„Na ja, was soll´s. Du bezahlst mich dafür, und ihr habt euren Spaß. Ich glaub, dass könnte sogar richtig lustig werden. Warum also nicht?“

Außerdem, wie sagt der Lateiner: Pecunia non olet. Geld stinkt nicht. Das spielte sicher auch eine Rolle, denn 150 Piepen sind 150 Piepen.

Machen wir´s kurz, aber schmerzhaft. Sie war da, sie würde es machen, und ich wiederum musste machen, dass ich reinkam.

Ich bedeutete unserem Gast, mir zu folgen. Schließlich stand ich vor der Klassentür, sie zehn Meter dahinter, und ich konnte das Gefühl nicht unterdrücken, mal eben den Roadrunner zu spielen, sprich: abzuhauen.

Aber zwei Dinge standen dagegen: Sie hätte das Geld und ich die Klasse am Hals gehabt.

Ich klopfte an und trat ein.

„Kannst du mir verraten, wo du jetzt herkommst?“

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