Die Seele im Unterzucker

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Ich traf einige Kinder wieder, welche ich aus meinem ersten Kindergartenjahr an diesem Ort bereits kannte. Mit einigen wenigen hatte ich auch zwischenzeitlich Kontakt gehalten bzw. unsere Mütter. Zum damaligen Zeitpunkt, Anfang 1999, gab es noch keine sozialen Messenger wie wir sie heute kennen. Für Menschen, welche damals schon ganz gut in puncto Computer unterwegs waren, gab es zwar Möglichkeiten sich auszutauschen, aber lange noch nicht für Kinder. Noch nicht einmal wirkliche Handys, welche den heutigen Anforderungen nur ansatzweise entsprachen. Kein Vergleich zur heutigen Kindheit. Man verabredete sich noch telefonisch. Als Kinder bezeichneten wir es als „etwas ausmachen“ für den Nachmittag. So verbrachte ich noch ein zusätzliches Jahr im Kindergarten, im Alter zwischen 5 und 6 Jahren.

Ich war sehr gerne dort. Die Tatsache, dass meine Mutter mitunter als meine Erzieherin fungierte, schränkte unser Verhältnis in keinster Weise ein. Auch den anderen Kindern gegenüber wurde ich nicht bevorzugt. Mit den anderen Erzieherinnen verstand ich mich ebenfalls gut.

Sehr gerne denke ich noch heute an die naiven, unbeschwerten Zeiten zurück. An die vielen Stunden auf dem Spielplatz, die St. Martin-Umzüge, die Nikolaus-Besuche, die lustigen Stuhlkreise, Mal- und Bastelarbeiten, einige Aufführungen vor den Eltern und die Besuche in der Turnhalle. Die lustigen Kasperletheater, welche meine Mutter zusammen mit einer Kollegin regelmäßig vor uns Kindern aufführte, habe ich noch heute in sehr guter Erinnerung. Als wir im letzten Jahr den Regenbogenfisch aufführten, war die gesamte Familie anwesend und applaudierte laut, als ich als glitzernder Fisch verkleidet in ein Mikrofon sang.

In diesem Zeitraum kam ich außerdem zum ersten Mal mit dem Thema Tierquälerei in Verbindung, welches mich schon im zarten Alter von 6 Jahren ziemlich mitnahm. Wir saßen zuhause in unserer kleinen Wohnung und im Hintergrund liefen Musikclips, welche meine Mutter damals auf Videokassette aufgezeichnet hatte. Meine Mutter mochte Michael Jackson und plötzlich kam der Videoclip von „Earth Song“. Was mir sofort ins Auge stach, waren die toten, schwer geschändeten Elefanten. Als ich den Delfin sah, welcher mit aller Kraft versuchte, dem Netz zu entfliehen, wurden meine Augen glasig. Als wenige Sekunden später irgendein Drecksack auf eine unschuldige Robbe einschlug, heulte ich aus tiefster Seele. Ich fragte meine Mutter, warum in diesem Video Tiere zu sehen wären, welchen so sehr wehgetan wird und was diese Schlimmes getan hätten um das zu verdienen. Meine Mutter erklärte mir im altersgerechten Schema, dass es viele Menschen gibt, welche Tiere aus Profitgier fangen und töten, um mit ihnen Geld zu verdienen. Dass Robben beispielsweise getötet werden, um aus ihren Pelzen Kleidung zu machen. Ich konnte es nicht fassen. Wie widerlich konnten Menschen nur sein? Das Thema verschwand nie wieder aus meinem Hinterkopf.

Mein Vater ließ sich für sämtliche Wochenenden, welche ich fortan bei ihm verbrachte, nach wie vor immer etwas Großartiges einfallen, um mir eine schöne Zeit zu ermöglichen. Besuche in Freizeitparks und sonstige Ausflugsziele für Familien waren einige schöne Aspekte. Auch Unternehmungen mit dem Stammtisch standen weiterhin auf unserem Programm. Im Herbst gingen wir regelmäßig im Wald Pilze suchen, welche später zuhause zu einem sensationellen Gericht verarbeitet wurden. Mein Vater war stets ein leidenschaftlicher Koch, welcher die köstlichsten Gerichte zauberte.

Das Vergnügen des Pilzesammelns teilte ich ebenfalls mit meinen Großeltern, welche mir noch zusätzliches Wissen über essbare und giftige Pilze entgegenbrachten. In Bezug auf Tiere und Pflanzen kannten sich meine Großeltern ohnehin sehr gut aus. Diese Fähigkeiten nutzten sie außerdem für ihren großen Garten, in welchen sie tagtäglich viele Stunden Arbeit investierten. Gelegentlich half auch ich in Kindertagen dort in Form von Laub rechen oder Unkraut zupfen. Natürlich noch keine Schwerstarbeit, aber immerhin ein „Tröpfchen auf dem heißen Stein“, wie es mein Opa im Spaße einmal bezeichnete. Gelegentlich sollte ich auch meine Oma zur Kontrolle in den Finger stechen und ihren Blutzuckerspiegel bestimmen. Ihre Mutter, meine Uroma, war im hohen Alter an Diabetes Typ 2 erkrankt und es interessierte sie, ob sie unter Umständen auch betroffen bzw. gefährdet war. Ihre Werte waren jedoch stets im Normalbereich.

Im Kindergarten gefiel es mir nach wie vor und die Tatsache, dass wir bald erneut umziehen würden, ärgerte mich ein bisschen. Gelegentlich fragte ich meine Mutter, wann wir denn endlich wieder zu Papi zurückkehren würden. Womöglich hielt ich die ganze Sache noch immer für eine Art verlängertes Abenteuer.

In den großen Sommerferien im Jahre 1999 war meiner Mutter die Schwangerschaft bereits deutlich anzusehen. Das war kurz vor dem Zeitpunkt, zu welchem sie in den 3-jährigen Mutterschutz gehen würde. In jener Zeit sollte auch der Umzug zu Onkel Beck erfolgen, welcher inzwischen eine neue Wohnung für uns alle gefunden hatte. Seine alte Wohnung, in welcher meine Mutter und ich am Wochenende oft zu Besuch waren, stellte definitiv nicht genug Platz für 4 Personen zur Verfügung.

Schließlich begannen die Sommerferien und meine Mutter und ich verabschiedeten uns vom Kindergarten. Für sie hieß es nun Mutterschutz, für mich bald die Schulbank drücken. Aber erst nach den Sommerferien.

Urlaub in Frankreich und ein gravierender Unterzucker

Bevor die Schule für mich in meiner neuen Heimat beginnen sollte, hatte mein Vater noch eine ganz besondere Überraschung für mich geplant: Ein 2-wöchiger Urlaub in Frankreich bei seiner Brieffreundin Seline, welche er seit seiner Jugend aus regelmäßigem Briefwechsel kannte und auch schon des Öfteren besucht hatte. Sie waren niemals ein Paar, sondern stets nur gute Freunde gewesen, die in Briefen und auch telefonisch regelmäßig Kontakt hielten. Trotz der hohen Telefongebühren ins Ausland seinerzeit.

Meine Mutter und Onkel Beck brachten mich zu meinem Vater. Im Hofe stich mir sofort ein großes Wohnmobil ins Auge, welches mein Vater für den bevorstehenden Urlaub gemietet hatte. Ich war beeindruckt. Niemals hätte ich es als Kind für möglich gehalten, dass man in einem größeren Fahrzeug derartig „wohnen“ konnte. Ich kannte zwar den Wohnwagen meiner Oma mütterlicherseits, die Innenausstattung erinnerte mich sehr daran. Allerdings war ich noch niemals mitgefahren, geschweige denn über mehrere Tage drinnen verblieben. Am Wohnwagenplatz meiner Omi wurde meist nur gegrillt, gebadet und entspannt.

Nachdem ich den Innenraum neugierig begutachtet hatte und mein Gepäck in den geräumigen Innenschränken verstaut war, verabschiedeten wir uns von meiner hochschwangeren Mutter und Onkel Beck. Es konnte auch schon direkt losgehen, alles andere hatte mein Vater schon bestens organisiert. Ein wenig komisch war mir trotz allem zumute. Noch nie war ich 2 Wochen lang von meiner Mutter getrennt gewesen. Wehmütig blickte ich ihr vom Wohnmobil heraus hinterher. Noch immer sehe ich meine Mutter mit Babybauch in ihrem roten Kleid mit weißen Punkten zum Abschied winken. Es war ein sonniger Tag, der perfekte Start für einen Urlaub!

Es war sehr aufregend für mich, in einem Wohnmobil mitzufahren. Das größte Auto, in welchem ich bis dato mitfuhr, war unser alter Geschäftskombi, mit welchem mein Vater immer in den Außendienst zu Geschäftskunden fuhr. Dort baute er Satellitenschüsseln auf dem Dach auf, installierte Receiver und erklärte den Kunden den sicheren Umgang. Ich spielte derweil mit den Kindern der Bauern im Heustock und streichelte die süßen Katzenbabys.

Nachdem ich anfänglich brav vorne gesessen hatte, kletterte ich nach einiger Zeit übermütig während der Fahrt hinauf in die Betten, welche sich oberhalb der Fahrerkabine befanden, und spielte mit meinem Gameboy mein geliebtes Tetris, welches mir Onkel Beck für die Ferien anvertraut hatte. Nach wenigen Stunden verließen wir Deutschland und überquerten die französische Grenze. Die erste Nacht verbrachten wir im Wohnmobil, da die gesamte Fahrtstrecke an einem Tag nicht zu schaffen war. Zum Glück hatte mein Vater genug Proviant mitgebracht, er wusste natürlich genau, was mir schmeckte. Es gab belegte Brote, welche wir im Sonnenuntergang auf einem Autobahnrastplatz hungrig zu uns nahmen. Nachdem wir uns an einer öffentlichen Toilette die Zähne geputzt hatten, gingen wir schlafen.

Am nächsten Tag kamen wir nach langer Fahrt gegen Nachmittag endlich an. Ich war gespannt auf jene Seline und ihre Familie, welche ich durch vielerlei Erzählungen meines Vaters bereits ein wenig zu kennen glaubte. Auf einem Parkplatz war ein Treffpunkt ausgemacht, da mein Vater mit der neuen Adresse ihres Hauses noch nicht vertraut war. Bei seinem letzten Besuch in Frankreich vor vielen Jahren lebte sie noch anderswo. Und alsbald hatten wir sie auch schon erblickt. Freudig kam sie auf uns zu und begrüßte uns ganz nach französischer Art. Für jeden gab’s ein Bussi links und ein Bussi rechts auf die Backe. Ich war etwas perplex, diese Art der Begrüßung war mir fremd. Aber ich fand sie sehr sympathisch und lieb, auch wenn ich fast kein Wort von dem, was sie sagte, verstehen konnte. Mein Vater, welcher die französische Sprache sehr gut beherrschte, hatte mir immer mal wieder einige Wortfetzen und kurze Sätze beigebracht. Aber sprechen und verstehen, davon war ich Welten entfernt.

So fuhren wir zu ihr nach Hause und begrüßten auch den Rest ihrer Familie. Ihren Mann Pierré und ihren Sohn Lucas, welcher ein paar Jahre älter war als ich. Nicht zuletzt ihre beiden Hunde und Katzenbaby Figaro, mit welchem mich schon bald eine innige Freundschaft verband. Mit Lucas konnte ich mich sprachlich zwar nicht sonderlich gut verständigen, allerdings teilten wir eine Leidenschaft für Konsolen und spielten in den nächsten Tagen immer mal wieder zusammen Tekken, Mario Kart und Banjo Kazooie.

 

Noch einige Tage verbrachten wir im Hause von Seline und ihrer Familie. Inmitten der vielen lieben Tiere fühlte ich mich äußerst wohl. Mein Vater und ich teilten uns das Gästezimmer. Jeden Morgen weckte mich Figaro, welcher so lange mit seinen Milchzähnchen auf meinem Finger herum knabberte, bis ich endlich wach wurde. Täglich gab es frisches Baguette, eben ganz typisch französisch, und einen leckeren Streichkäse.

Seline arbeitete als Arzthelferin in einem Krankenhaus. Das hatte den Vorteil, dass sie sich auch recht gut mit Diabetes und der medizinischen Handhabung auskannte. Ihr wurde auch die „große Ehre“ zuteil, mir ab und an die Spritze zu geben. Dieses Recht hatten ansonsten nur meine Eltern. Seline hatte ich schon bald derart ins Herz geschlossen, dass ich ihr in dieser Hinsicht voll und ganz vertraute.

Nachdem wir einige schöne Tage bei Seline und Co. verbracht hatten, fuhren wir mit unserem Wohnmobil weiter quer durch Frankreich bis hin zum Atlantik in der Nähe von Bordeaux. Wenn wir schon einmal hier waren, sollte ich doch auch gleich noch das Meer kennenlernen dürfen. Dort quartierten wir uns mit unserem Wohnmobil auf einem Campingplatz ein, nur wenige Meter vom Meer entfernt. Es war fußläufig zu erreichen, nachdem eine sehr hohe Düne bezwungen wurde.

Als wir den warmen Berg Sand erklommen hatten, sah ich den weiten Atlantik direkt vor uns liegen. Und gerade ich, als gnadenlose Wasserratte, konnte es natürlich nicht erwarten, mich schnellstmöglich in die Fluten zu stürzen.

2 Tage später dann die große Überraschung: Seline und ihre Familie standen plötzlich vor der Tür! Sie wollten ebenfalls einige Tage bei uns am Meer verbringen Wir erlebten ein paar tolle gemeinsame Tage auf dem Campingplatz, an welche ich mich teilweise noch immer erinnere.

An unserem letzten Tag auf dem Campingplatz stand ein toller Ausflug an den Strand auf dem Programm. Anschließend wollten wir noch am selben Abend zurück zu Seline nach Hause fahren, um die übrigen Urlaubstage bei ihr zu verbringen. Wir fuhren mit dem Wohnmobil an eine Stelle, wo das Meer deutlich höhere Wellen schlug und somit das Plantschen für uns Kinder noch eine Spur abenteuerlicher sein sollte.

Nachdem wir einige Zeit tobend im Meer verbracht hatten, kehrten wir zurück zum Wohnmobil und bereiteten uns auf das Mittagessen vor. Seline machte sich auf den Weg zu einem Schnellimbiss, um Pommes für uns alle zu organisieren. Anschließend wollten wir losfahren. Mein Vater setzte mir meine regelmäßige Spritze vor der Mahlzeit.

Doch leider ging es mit dem geplanten Mittagessen nicht so schnell wie erwartet. Seline musste sehr lange anstehen und mein Insulin wirkte in Kombination mit der vorangegangenen Bewegung im Meer doppelt so stark. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Alles, was ich berichte, weiß ich aus den Erzählungen meines Vaters.

Als Seline mit dem Mittagessen endlich eintraf, war ich bereits vollständig weggetreten. Mein Vater hatte es bereits mit Traubenzucker und Apfelsaft versucht, was bisher bei jeder größeren Unterzuckerung im Dusel auch funktioniert hatte. Doch diesmal nahm ich nichts mehr auf, öffnete noch nicht mal mehr im dösigen „Halbschlaf“ den Mund und ließ mich nicht wie sonst immer füttern. Zum Glück hatte mein Vater die sogenannte „Notspritze“ im Gepäck, welche im Falle einer totalen Unterzuckerung mit völligem Bewusstseinsverlust einem Diabetiker injiziert werden sollte. Jene enthält Glukose, welches bei direkter Injektion in die Blutbahn den Zuckerspiegel wieder schnell nach oben treibt. Da mein Vater, ganz krank vor Sorge, dazu nicht mehr in der Lage war und bereits zitterte, übernahm Seline die Aufgabe, mir die Spritze zu geben. Als geschulte Arzthelferin für sie keinerlei Problem.

Doch selbst nach dieser Spritze wurde ich nicht wieder wach. Die Unterzuckerung war bereits zu weit fortgeschritten, möglicherweise wurde auch einfach zu viel Insulin verabreicht. Keine Ahnung, an diesem Tage war es wohl einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. Schließlich wurde ein Krankenwagen alarmiert, welcher mich ins nahegelegene Krankenhaus in Bordeaux brachte. Da es sehr schnell gehen musste, wies man meinen Vater an, mit dem Wohnmobil hinter dem Krankenwagen herzufahren. In der regen Hektik blieb keine Zeit, eine genaue Anschrift zu hinterlegen. Auch Navis gab es damals noch nicht. Seline und ihre Familie fuhren mit ihrem Auto nach Hause, wie ursprünglich geplant. Mein Vater verfolgte den Krankenwagen, in welchem ich mich befand, verlor ihn jedoch irgendwann im turbulenten Stadtverkehr aus den Augen. Verzweifelt und hilflos fragte er sich durch, bis sich schließlich ein hilfsbereiter, ortskundiger Mann bereiterklärte, ihm den Weg zu zeigen.

Inzwischen war ich bereits schon im Krankenhaus eingetroffen, wo mir eine Infusion mit Glukose gesetzt wurde. Als ich erwachte, war mein Vater bereits bei mir und berichtete, was geschehen war. Ich konnte mich an rein gar nichts mehr erinnern. Weder an die Unterzuckerung direkt noch an die Fahrt im Krankenwagen quer durch Bordeaux. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren die vergnügten Stunden in den Wellen. Die Tatsache, dass ich eine schwere Unterzuckerung erlitten hatte, schockte mich weniger als jene, dass meine geliebte Seline bereits ohne uns nach Hause gefahren war.

2 Tage sollte ich zur Beobachtung im Krankenhaus verbleiben, bis sich mein Zuckerspiegel wieder vollständig normalisiert hatte. Denn nun musste präzise darauf geachtet werden, dass durch die Injektion der Glukosespritze mein Pegel nicht „Ping Pong“ spielte. Dies ist in etwa so zu verstehen: Steigt der Blutzuckerspiegel zu weit und unkontrolliert nach oben, so muss mit mehr Insulin korrigiert werden als normal. Fällt er dagegen zu weit in den Keller und muss mit übermäßig viel Zucker wieder nach oben gepusht werden, so kann dies unter Umständen zur Folge haben, dass auch die nächsten Tage deutlich mehr oder weniger Insulin benötigt werden kann. Je nach Körper, Stoffwechsel, Situation, körperlicher Verfassung, gegessener Kohlenhydrate etc. muss hier nach einem schweren Hypo individuell gehandelt und aufgepasst werden. Nicht zu vergessen: In den Stunden der Bewusstlosigkeit ist der Körper einer erheblichen Stresssituation, Adrenalin und Entzugserscheinungen ausgesetzt. Nerven und Zellen werden geschädigt und sterben im schlimmsten Falle ab. Das beeinflusst die Werte ebenfalls. Darum ist es auch so wichtig, in einer Lage wie dieser schnellstmöglich zu handeln, so wie es mein Vater und Seline damals taten.

Nachdem so weit alles wieder in Ordnung war, wurde ich am zweiten Tage wieder entlassen. Mit meinem Lieblings-Teletubbie im Arm verließ ich freudestrahlend das Krankenhaus und konnte die Ankunft bei Seline und Co. kaum noch abwarten.

Gemeinsam verbrachten wir noch ein paar letzte schöne Urlaubstage, bevor es dann wieder nach Hause ging. Nach beidseitigem Abschiedsschmerz versprach mir mein Vater, dass wir ganz bestimmt mal wieder nach Frankreich fahren würden.

Ferner freute ich mich auf zuhause, meine baldige Einschulung und ganz besonders auf die lang ersehnte Ankunft meines Bruders!

Familienzuwachs

Zurück zuhause gab es eine weitere Veränderung. Meine Mutter und Onkel Beck hatten in meiner Abwesenheit bereits die neue Wohnung eingerichtet, welche wir nun gemeinsam bezogen. Sie lag sehr zentral in einem Reihenhaus, hatte vier große Zimmer und sogar einen kleinen Balkon. Alles in allem gefiel sie mir recht gut. Ich hatte ein eigenes Zimmer, welches ganz ähnlich wie mein altes eingerichtet wurde. Auch das Zimmer für meinen Bruder war bereits fertiggestellt, in wenigen Tagen sollte es so weit sein.

Doch noch vor seiner Ankunft wurde ich in der neuen Stadt in den Bergen eingeschult. Mit Schultüte in der Hand ging ich gemeinsam mit meinen Eltern in die neue Grundschule, welche von meinem neuen Zuhause einige Busstationen entfernt lag. Ein weiterer Schritt in die Selbstständigkeit für mich. Dort wurden alle neuen Schüler willkommen geheißen, den verschiedenen Klassen der 1. Jahrgangsstufe zugeteilt und die künftigen Klassenlehrer vorgestellt. Mein Lehrer war sehr freundlich und kompetent. Allerdings noch ein wenig vom alten Schlag. So mussten wir uns beispielsweise noch gelegentlich in die Ecke stellen, wenn wir frech oder unaufmerksam waren. Da ich schon vor Schulbeginn ein bisschen lesen konnte, erlernte ich auch recht schnell das Schreiben. Mein Vater erzählte mir einige Zeit später, dass er am Tage meiner Einschulung nur mit Mühe und Not die Fassung behalten konnte. Als er mich bei seiner Ankunft im Hof mit der Schultüte in der Hand stehen sah, hätte er am liebsten geweint. Ich vollkommen allein in einer fremden Stadt unter lauter fremden Menschen. Das machte ihm zu schaffen.

Weil wir in einem Reihenhaus wohnten und auch dementsprechend von einer großen Nachbarschaft umgeben waren, dauerte es nicht lange, bis ich die ersten Freundschaften geschlossen hatte. Ich spielte mitunter mit dem netten Jungen, welcher im Erdgeschoss wohnte, und mit einem netten Mädchen aus dem Nebengebäude, welches auch in meiner Klasse bald meine beste Freundin wurde. Wir alle mochten Disney Filme und spielten mit den Sammelfiguren von McDonalds. Hinter unserem Haus befand sich ein großer Spielplatz, welcher ebenfalls einen beliebten Treffpunkt darstellte. Im Winter fuhren wir auf einem aufgeschütteten Schneehaufen mit unseren Plastikschlitten abwärts. Das machte großen Spaß.

Schließlich war es so weit. Die Geburt meines Bruders stand unmittelbar bevor und ich wurde zu meinem Vater gebracht. Ich protestierte, da ich bei der Geburt so gerne mit dabei gewesen wäre. Doch das war alles andere als angebracht.

Mein Vater hatte zum damaligen Zeitpunkt gerade Besuch von einer alten Freundin, mit welcher er früher bereits einmal zusammen war. Inzwischen führten sie eine erneute Art der Beziehung. Ob es sich dabei nur um eine Ablenkung von meiner Mutter handelte, kann ich nicht beurteilen. Ihr Name war Heidi, sie war sehr nett und offen. Gemeinsam spielten wir mit meinen Spielfiguren amüsante Geschichten, um mir die lange Wartezeit auf meinen Bruder zu verkürzen. Heidi und mein Vater waren noch einige Zeit in gewisser Weise zusammen. Allerdings nicht für lange. Später einmal machte er deutlich, dass jene Heidi, mit welcher er über einen längeren Zeitraum vor meiner Mutter in einer Beziehung war, im Grunde seine ganz große Liebe gewesen war. Ob das tatsächlich stimmte, oder ob das seine persönliche Art der Verdrängung darstellte, wusste wohl nur er allein.

Schließlich erhielten wir Meldung, dass die Geburt erfolgreich verlaufen und mein Bruder heil und wohlbehalten das Licht der Welt erblickt hatte. Im Vergleich zu mir erfolgte die Geburt auf natürlichem Wege. Ich dagegen war ein Kaiserschnitt, weil ich mich im Bauch gedreht hatte. Womit er mir gegenüber ebenfalls im Vorteil war: sein Zungenbändchen war wie meines ebenfalls verkürzt. Jedoch wurde es bei ihm rechtzeitig entdeckt und direkt nach seiner Geburt durchtrennt, so dass es keine große Sache darstellte. Bei mir blieb dies als Baby dagegen unbemerkt.

Zum ersten Mal konnte ich die Rückreise vom Wochenende bei meinem Vater kaum erwarten. Während ich ansonsten beinahe bei jeder Rückfahrt jammerte und bettelte, noch etwas länger bei meinem Vater bleiben zu dürfen, war ich dieses Mal so aufgeregt und voller Vorfreude auf meinen kleinen Bruder. Die Nacht zuvor hatte ich bereits von ihm geträumt.

Der Abschied von meinem Vater verlief kurz und knackig. Euphorisch stürmte ich die Stufen hinauf und fragte voller Eifer: „Wo ist mein Bruder, wo ist mein Bruder?“

Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich leise in sein Kinderzimmer. Und dort lag er. Mein kleiner Bruder Finn. Tief schlafend in seinem Kinderbettchen. Mit hochrotem Köpfchen, nicht viel größer als eine Puppe. Er sah so winzig und zerbrechlich aus. Irgendwie ein komisches Gefühl, auf einmal ein Brüderchen zu haben. Aber meine Freude war grenzenlos und ich war voller Stolz. Ich konnte es nicht erwarten, bis er endlich aufwachte und ich ihn zum ersten Mal in den Arm nehmen durfte.

Wenig später war dies dann auch der Fall. Als er wach wurde, nahm ihn meine Mutter ganz vorsichtig aus dem Bettchen heraus und setzte ihn mir auf den Schoß. Wie amüsant er sich leicht hin und her bewegte. Die Augen noch halb geschlossen.

Die nächsten Tage erlebte ich so viel Neues. Ich durfte beim Wickeln und Baden zusehen und ihm zwischendurch auch mal das Fläschchen geben. Er war schon ein putziger kleiner Pfannkuchen. In meinem Zimmer war er von nun an auch gerngesehener Gast. Mithilfe von Kuscheltieren, Filmen und Nintendo-Spielen schaffte ich es immer wieder ihn zum Lachen zu bringen. Sah ich fern, so lag er oft lange auf meinem Bauch und schaute mit. Kopf an Kopf, ein Bild für Götter.

 

Es dauerte nicht lange, da stand auch schon der erste Besuch von unserer gemeinsamen Omi aus Thüringen an. Natürlich war auch ihre Freude über einen weiteren Enkel sehr groß und wir verbrachten eine schöne Zeit miteinander. Neben den Aktivitäten mit meinem Bruder, übte meine Omi mit mir für die neue Schule. Nachdem ich gelernt hatte, ganz passabel in Schreibschrift zu schreiben, übten wir das Schreiben von ganzen Sätzen neben meinen herkömmlichen Hausaufgaben.

Es gab Zeiten, da war ich beinah schon etwas eifersüchtig auf meinen neuen kleinen Bruder. Er bekam so viel Zuwendung und Aufmerksamkeit von allen Seiten, stand eigentlich meist im Mittelpunkt. Außerdem war er das gemeinsame Kind von meiner Mutter und Onkel Beck, also musste ihn meine Mutter doch automatisch lieber haben als mich, oder? Es ist wohl weitestgehend normal, dass ein Baby deutlich mehr Beachtung erhält als die schon etwas größeren Kinder. Ich denke trotz allem, dass meine Mutter meine damalige Situation überinterpretierte, indem sie mich als den „verwöhnten Prinzen“ (was ich eindeutig war, keine Frage) bezeichnete, der plötzlich durch den jüngeren Bruder vom Thron gestoßen wurde. Heute denke ich jedoch, dass diese Konstellation in sehr vielen Familien besteht und es eines der natürlichsten Dinge im Leben ist, dass Babys nun einmal mehr Aufmerksamkeit bekommen als die älteren Kinder, welche schon ganz gut auf eigene Faust zurechtkommen.

Zudem kam mittlerweile auch vermehrt Onkel Becks Mutter, Ulla, auf Besuch, um Finn, ihren ersten Enkel, zu besuchen, welchen sie mächtig ins Herz geschlossen hatte. Ich mochte sie nicht besonders, empfand sie sogar gelegentlich als störend und eine Spur ZU emotional. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich mich einmal unbewusst mit ihr anlegte, obwohl dies gar nicht meine Absicht war. Sie kuschelte mit Finn und nannte ihn liebevoll „ihren“ kleinen Schatz. Ich nörgelte sie an, dass es nicht IHR kleiner Schatz wäre, sondern er nur meiner Mutter, Onkel Beck und mir gehörte. Das verletzte sie zutiefst. Sie begann zu heulen und verdeutlichte meiner Mutter lautstark, wie frech und ungezogen ich doch wäre. Heulend verließ sie unsere Wohnung und ich bekam einen Rüffel. Dabei hatte ich es doch gar nicht so böse gemeint.

Natürlich war es meinerseits nicht die feine englische Art im Nachhinein betrachtet. Schließlich war sie trotzdem seine Oma, was es zu respektieren galt. Möglicherweise akzeptierte ich sie nicht, weil sie nicht MEINE Oma war. Unsere gemeinsame Oma aus Thüringen, war da schon eine andere Hausnummer, welche uns ja auch verband. Auf der anderen Seite war aber auch ihr Verhalten alles andere als erwachsen. Eine reife Frau ihres Alters hätte über jener kindlichen Aussage einfach drüberstehen müssen und nicht eine derartige Szene an den Tag legen dürfen.

In der darauffolgenden Nacht kam es zu einem Eklat zwischen meiner Mutter und Onkel Beck. Ich wurde von einem lautstarken Wortgefecht geweckt, Onkel Beck war leicht angetrunken und warf meiner Mutter lautstark vor, was ich doch für ein böses, verwöhntes Kind sei und wie ich es hätte wagen können, seine Mutter derartig zu verletzen. Türen flogen, ich hörte Schreie.

Dies war nicht das erste Mal, dass ich nachts von derartigen Szenarien aus dem Schlaf gerissen wurde …