Das Werk der Artamonows

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»Warum betest du so viel? Du kannst dir doch nicht alles erbitten, – es reicht sonst für die andern nicht … «

Wenn sie des Nachts durch das Weinen eines Kindes geweckt wurde, fütterte und beruhigte sie es und ging ans Fenster, um lange in den Garten und auf den Himmel zu blicken und wortlos über sich, über die Mutter, den Schwiegervater und ihren Mann nachzudenken – über alles, was ihr der unmerklich verstrichene, schwere Tag gebracht hatte. Es war seltsam, daß man die gewohnten Stimmen, die lustigen oder traurigen Lieder der Arbeiterinnen, das mannigfaltige Hämmern und Lärmen des Werkes, sein bienenartiges Summen nicht vernahm; dieses ununterbrochene, eilige Dröhnen erfüllte den ganzen Tag, sein Widerhall schwebte durch die Zimmer, raschelte im Laub der Bäume, strich über die Fensterscheiben; das Geräusch der Arbeit zwang zu lauschen und störte beim Denken.

In der nächtlichen Stille, im schläfrigen Schweigen alles Lebendigen fielen ihr die grausigen Erzählungen Nikitas von den von Tartaren gefangengenommenen Frauen oder die Legenden von den heiligen Einsiedlerinnen und Märtyrerinnen ein, es erstanden in ihr auch die Märchen von einem glücklichen, fröhlichen Leben, am häufigsten tauchten aber erlittene Kränkungen in ihrer Erinnerung auf.

Ihr Schwiegervater sah über sie hinweg wie über einen leeren Raum, und das war noch am besten; häufig, wenn er ihr im Flur oder im Zimmer unter vier Augen begegnete, betastete er sie aber mit scharfem Blick schamlos von der Brust bis zu den Knien und schnaubte feindselig.

Ihr Mann war unfreundlich und kalt; sie fühlte, daß er sie manchmal so anblickte, als hinderte sie ihn daran, etwas anderes, hinter ihrem Rücken Verborgenes zu sehen. Oft legte er sich, ausgekleidet wie er war, nicht hin, sondern saß lange auf dem Bettrand, stützte sich mit der einen Hand auf das Federbett und zupfte mit der andern an seinem Ohr oder rieb sich den Bart auf der Wange, als hätte er Zahnschmerzen. Sein häßliches Gesicht zog sich bald kläglich, bald zornig zusammen; in solchen Augenblicken wagte Natalia nicht, sich niederzulegen. Er sprach wenig und nur von häuslichen Angelegenheiten und kam immer seltener auf das Leben der Bauern und Gutsbesitzer zurück, das Natalia unverständlich war. Im Winter fuhr er mit ihr an den Feiertagen, zu Weihnachten und in der Butterwoche durch die Stadt spazieren. Man spannte einen ungeheuren Rappen vor den Schlitten. Der Hengst hatte messinggelbe, von Blutäderchen durchzogene Augen, er schüttelte zornig den Kopf und wieherte laut. Natalia fürchtete sich vor diesem Pferd, und Tichon Wialow steigerte noch ihre Angst durch die Worte:

»Das ist ein Edelmannspferd; es ist über die fremde Herrschaft erbost.«

Die Mutter kam häufig. Natalia beneidete sie um ihr freies Leben und den festlichen Glanz ihrer Augen. Dieser Neid wurde noch schärfer und kränkender, wenn sie merkte, wie jugendlich der Schwiegervater mit der Mutter scherzte, wie selbstzufrieden er sich den Bart glättete und sich seiner Geliebten freute, wie sie wie eine Pfauhenne einherschritt, sich in den Hüften wiegte und schamlos vor ihm mit ihrer Schönheit prahlte. Die Stadt wußte längst von ihrem Verhältnis mit dem Gevatter, verurteilte sie streng deshalb und wandte sich von ihr ab. Angesehene Leute verboten ihren Töchtern, Natalias Freundinnen, sie, die Tochter einer lasterhaften Frau, die Schwiegertochter eines fremden, zweifelhaften Bauern und die Gattin eines vor Stolz aufgeblasenen, mürrischen Mannes zu besuchen. Die kleinen Freuden des Mädchenlebens erschienen jetzt Natalia groß und prächtig.

Es kränkte sie zu sehen, wie die vorher so freimütige Mutter jetzt mit den Menschen schlau und falsch war; sie schien sich vor Pjotr zu fürchten und sprach mit ihm, um es zu verbergen, in schmeichelnden, von seiner Tüchtigkeit entzückten Worten; sie fürchtete wohl auch Alexejs spöttische Augen, scherzte freundlich, tuschelte mit ihm und machte ihm oft Geschenke; zum Geburtstag schenkte sie ihm eine Porzellanuhr mit Figürchen von Schafen und mit einer blumengeschmückten Frau; dieser schöne, kunstvoll ausgeführte Gegenstand brachte alle zum Staunen.

»Die Uhr ist mal als Pfand bei mir geblieben; ich gab nur drei Rubel dafür, sie ist alt und geht nicht«, erklärte die Mutter. »Wenn Aljoscha heiratet, mag er damit sein Haus schmücken.«

»Das könnte ich ja auch tun«, dachte Natalia.

Die Mutter erkundigte sich genau nach dem Haushalt und belehrte sie langweilig:

»Gib an Wochentagen keine Servietten zu Tisch, diese Langbärte machen sie ja gleich schmutzig.«

Sie betrachtete Nikita, der ihr früher gefallen hatte, mit aufeinandergepreßten Lippen und sprach mit ihm wie mit einem Angestellten, den man verdächtigt, etwas Unehrliches begangen zu haben, und sie warnte die Tochter:

»Gib acht, sei zu ihm nicht zu freundlich, – alle Buckligen sind hinterlistig.«

Schon mehr als einmal wollte Natalia sich bei der Mutter über ihren Mann beschweren, weil er ihr nicht traute und den Buckligen beauftragt hätte, sie zu überwachen; aber irgend etwas hinderte sie stets, davon zu sprechen.

Am schlimmsten war es aber, wenn die Mutter in der Sorge, Natalia könnte keinen Knaben gebären, sie über ihren nächtlichen Verkehr mit ihrem Mann befragte. Sie tat das in schamlos offener Weise, während ihre feuchten Augen lächelnd blinzelten, die gesenkte Stimme schnurrte und die Neugierde sie heftig erregte. Und Natalia war immer froh, wenn die Frage des Schwiegervaters ertönte:

»Gevatterin, – soll ich das Pferd anspannen?«

»Ich möchte lieber zu Fuß gehen.«

»Gut, ich werd' dich begleiten.«

Pjotr sagte nachdenklich:

»Die Schwiegermutter ist ein kluger Kopf. Wie geschickt sie den Vater behandelt! Vor ihr ist er sanfter zu uns. Sie sollte ihr Haus verkaufen und zu uns ziehen.«

»Das ist nicht nötig«, will Natalia sagen, wagt es aber nicht und trägt es der Mutter noch mehr nach, daß man sie gern hat, und daß sie glücklich ist.

Wenn sie mit einer Näharbeit in den Händen am Gartenfenster oder im Garten sitzt, hört sie Bruchstücke der Unterhaltung zwischen Tichon und Nikita. Sie arbeiten hinter den Beerensträuchern beim Badehaus, und durch das leise Geräusch des Werkes dringen die ruhigen Worte des Hausknechtes:

»Die Langeweile stammt von den Menschen, – wenn sie eine lange Weile beisammen sind, entsteht die Langeweile.«

»Wie richtig!« denkt Natalia, aber Nikitas angenehme Stimme wirft ein:

»Du gehst zu weit. Und Tanz und Spiel? Ohne Menschen gibt es keine Fröhlichkeit.«

»Auch das ist richtig«, stimmt sie erstaunt zu.

Sie sieht, daß alle um sie herum in ihren Reden sicher sind, jeder weiß irgend etwas genau, und zwar sieht sie, wie einfache, bestimmte, fest aneinander gefügte Worte jedem Menschen ein Stück irgendeiner unverrückbaren Wahrheit sichern; die Menschen unterscheiden sich von einander durch ihre Worte und schmücken sich damit, sie klappern und spielen mit Worten wie mit goldenen und silbernen Uhrketten. Sie aber besitzt keine solchen Worte, sie hat nichts, worin sie ihre Gedanken kleiden könnte, die sie trübe und ungreifbar wie Herbstnebel belästigen, die sie nur stumpfsinnig machen, – und sie denkt immer häufiger ärgerlich und traurig:

»Ich bin dumm! Ich weiß nichts und versteh' nichts … «

»Der Bär kennt sich aus, er weiß, wo es Honig gibt«, murmelt Tichon im Himbeergesträuch.

»Ja, das ist wahr«, denkt Natalia und erinnert sich zusammenzuckend, wie Alexej ihren Liebling getötet hat:

Der Bär lief, bis er dreizehn Monate alt wurde, frei im Hof herum; er war zahm und zutraulich wie ein Hund, kam in die Küche, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und bettelte, leise brummend, mit den komischen Augen blinzelnd, um Brot. Er war in allem drollig und gutmütig und schätzte Güte. Alle hatten ihn gern, Nikita pflegte ihn, kämmte ihm die Büschel seines dichten, verfilzten Pelzes durch und führte ihn zum Fluß baden; der Bär gewann ihn so lieb, daß er, wenn Nikita fort war, mit hochgehobener Schnauze besorgt die Luft beschnupperte, fauchend über den Hof lief, in das Kontor, wo sein Pfleger wohnte, eindrang und häufig die Fensterscheiben eindrückte und dabei die Rahmen zerbrach. Natalia machte es Freude, ihn mit Weizenbrot und Sirup zu füttern, er konnte die Brotstücke selbst in die Sirupschüssel tauchen; freudig brüllend und sich auf den zottigen Füßen wiegend, schob er das Brot in den rosigen, von Zähnen starrenden Rachen und sog an seiner klebrigen, süßen Pfote; seine gutmütigen Äuglein leuchteten beglückt, und er stieß den Kopf, gegen Natalias Knie und lud sie ein, mit ihm zu spielen. Man könnte sich mit diesem lieben Tier unterhalten, es verstand schon so vielerlei.

Eines Tages gab ihm aber Alexej Schnaps zu trinken. Der betrunkene Bär tanzte, kugelte sich herum, stieg auf das Badehausdach, riß den Schornstein auseinander und begann die Ziegelsteine hinunterzurollen; es versammelte sich ein Haufen von Arbeitern, die ihm lachend zuschauten. Seitdem gab ihm Alexej zur Belustigung der Leute fast jeden Feiertag zu trinken, und das Tier gewöhnte sich das Saufen so an, daß es allen Arbeitern nachjagte, die nach Schnaps rochen und Alexej nicht über den Hof gehen ließ, ohne auf ihn loszustürzen. Man legte ihn an die Kette, er zertrümmerte jedoch seine Hütte und lief mit der Kette am Halse und einem Balken an ihrem Ende über den Hof, fuchtelte mit den Tatzen herum und schüttelte den Kopf. Man wollte ihn einfangen, er zerkratzte aber Tichon das Bein, warf den jungen Arbeiter Morosow zu Boden und verletzte Nikita, indem er ihn mit der Tatze am Schenkel packte. Alexej kam mit einem Hirschfänger dazu und rammte ihn dem Bären im vollen Lauf in den Bauch. Natalia sah aus dem Fenster, wie der Bär auf die Hinterbeine sank und mit den Pfoten winkte, als bitte er die wütend um ihn herum schreienden Menschen, um Verzeihung. Jemand schob Alexej diensteifrig eine scharfe Zimmermannsaxt in die Hände, der Schwager mit dem Spitzbart sprang hoch und schlug damit erst auf die eine, dann auf die andere Tatze los, – der Bär brüllte auf, ließ sich auf die zerhackten Füße sinken, nach rechts und nach links strömte das Blut und bildete auf der festgestampften Erde tiefrote Lachen. Das Tier gab jämmerlich brüllend den Kopf einem neuen Hieb preis, und Alexej versenkte die Axt in das Genick des Bären wie in ein Holzscheit; der Bär streckte seine Schnauze in sein Blut und die Axt saß so tief in den Knochen, daß Alexej, sich mit dem Fuß gegen den zottigen Körper stemmend, sie nur mit Mühe aus dem Schädel herausziehen konnte. Natalia war traurig um den Bären, noch trauriger aber war sie, als sie erfuhr, daß der furchtlose, geschickte immer lustige, mutwillige Schwager sich mit irgendeinem nichtigen Mädel abgab, während er sie selbst gar nicht sah.

 

Alle belobten ihn für seine Geschicklichkeit und seinen Mut, der Schwiegervater klopfte ihn aber auf die Schulter und rief:

»Und du sagst, du bist krank? Ach, du … «

Nikita lief weg, und Natalia weinte so, daß ihr Mann sie erstaunt und ärgerlich fragte:

»Aber, wenn man vor dir einen Menschen tötet, – was willst du dann tun?«

Und er schrie sie an wie ein kleines Mädchen:

»Hör' auf, dummes Weib!«

Es schien ihr, daß er sie schlagen wollte, und sie erinnerte sich mit verhaltenen Tränen an die erste Nacht mit ihm, – wieviel Innigkeit und Schüchternheit hatte er damals gezeigt! Es fiel ihr ein, daß er sie noch nie geprügelt hatte, wie es alle Männer sonst mit ihren Frauen tun, und sie sagte mit unterdrücktem Schluchzen:

»Verzeih, das Tier tut mir so leid.«

»Du solltest lieber mich und nicht den Bären bedauern«, erwiderte er halblaut und schon freundlicher.

Als sie sich zum erstenmal bei der Mutter über die Strenge ihres Mannes beklagte, sägte die ihr mit Nachdruck:

»Der Mann, ist die Biene, wir sind für ihn Blumen, er sammelt bei uns Honig, – das muß man verstehen und muß dulden lernen, Liebling. Die Männer herrschen über alles, sie haben mehr Sorgen, als wir, sie bauen zum Beispiel Kirchen und Fabriken. Sieh doch nur, was der Schwiegervater alles auf dem Ödland aufgebaut hat … «

Ilja Artamonow eilte immer toller, sein Werk zu fördern und zu festigen, als ahnte er, daß die ihm gestellte Frist knapp sei. Im Mai, kurz vor dem Nikolaustag, kam der Dampfkessel für das zweite Werkgebäude an; er kam in einem Kahn, der an dem sandigen Ufer der Oka dort landete, wo das Sumpfwasser der grünen Watarakscha in sie mündete. Es stand eine schwere Arbeit bevor: der Kessel mußte etwa fünfzehnhundert Schritt weit über sandigen Boden geschleppt werden. Am Nikolaustage gab Artamonow den Arbeitern ein reichliches Feiertagsessen mit Schnaps und Bier; die Tische waren auf dem Hof gedeckt, die Frauen hatten sie mit Fichten und Birkenzweigen und mit Sträußen der ersten Frühlingsblumen geschmückt und hatten sich selbst bunt, wie Blumen, herausgeputzt. Der Hausherr saß mit seiner Familie und einigen Gästen mitten unter den alten Webern bei Tisch, wechselte mit den kecken, zungengewandten Spulerinnen gepfefferte Scherze, trank viel, pulverte die Leute kunstvoll zum Frohsinn auf und rief angeregt, sich mit der Hand durch den ergrauten Bart fahrend:

»Ach, Kinder, ist denn nicht das das wahre Leben?«

Man bewunderte ihn und seine Art; er fühlte es und berauschte sich noch mehr an der Freude, so zu sein, wie er war. Er strahlte und funkelte wie dieser sonnige Frühlingstag, wie die ganze festlich mit dem jungen Grün der Gräser und Blätter bekleidete Erde, die gehüllt war in den Duft der Birken und der jungen Fichten, mit ihren zum blauen Himmel emporstrebenden goldenen Kerzen. In diesem Jahr war ein zeitiger, heißer Frühling, schon blühten Faulbaum und Flieder. Alles war festlich, alles jubelte, selbst in den Menschen schien an diesem Tage ihr Bestes aufzublühen.

Der uralte Weber Boris Morosow, ein kleiner, einfältiger Greis, mit einem winzigen, im ergrauten, grünlich gewordenen Bart verborgenen Wachsgesicht, weiß und gründlich gewaschen wie ein Toter, erhob sich, stützte sich auf die Schulter seines ältesten Sohnes, eines sechzigjährigen Mannes und schrie wild, mit der knochigen, fleischlosen Hand fuchtelnd:

»Seht, ich bin neunzig Jahre alt, über neunzig, merkt es euch! War Soldat, habe Pugatschow geschlagen, habe im Pestjahr in Moskau selbst mitgemeutert, jawohl! Habe gegen Bonaparte gekämpft! … «

»Und wen hast du geküßt?« schrie ihm Artamonow ins Ohr. Der Weber war fast taub.

»Zwei Frauen, außer den anderen. Da schau: sieben Söhne, zwei Töchter, neunzehn Enkel, fünf Urenkel, das alles habe ich euch zusammengewebt! Da sind sie, alle leben bei dir, hier sitzen sie … «

»Gib noch was her!« schrie Ilja.

»Es kommt noch. Ich habe drei Zaren und eine Zarin überlebt, hört ihr? Ich habe bei so vielen Herren gedient, alle sind tot, und ich lebe! Habe werstweise Leinwand gewebt. Du bist ein echter Mensch, Ilja Wasiljew, du wirst lange leben. Du bist der Herr, du liebst das Werk und das Werk liebt dich. Du tust den Menschen nicht unrecht. Du bist ein Ast von unserem Baum, lege los! Das Glück ist dir ein Eheweib und nicht nur eine Geliebte, die ein Weilchen spielt und dann verschwindet! Leg' dich mit aller Kraft ins Zeug. Bleibe gesund, Bruder, jawohl! Bleibe gesund, sage ich … «

Artamonow nahm ihn in die Arme, hob ihn hoch, küßte ihn und rief gerührt aus:

»Ich danke dir, mein Kind! Ich mache dich zum Verwalter … «

Die Leute brüllten und lachten laut, während der alte, betrunkene Weber, den er in die Höhe gehoben hatte, in der Luft mit seinen Skeletthänden herumschlug, kicherte und kreischte:

»Bei ihm ist alles auf seine eigene Art, alles anders … «

Uljana Bajmakowa wischte sich, ohne jede Scham, Tränen der Rührung von den Wangen.

»Was das für eine Freude ist«, sagte ihre Tochter. Sie antwortete, sich schneuzend:

»Er ist nun mal so, – er ist vom Herrgott zur Freude erschaffen … «

»Lernt, wie man mit den Leuten umgehen muß, ihr Burschen«, rief Artamonow seinen Kindern zu. »Schau her, Pjotr!«

Nach dem Essen räumten die Frauen die Tische weg und stimmten ihre Lieder an; die Bauern maßen ihre Kräfte, vergnügten sich mit Stockziehen und rangen. Artamonow war überall zur rechten Zeit, er tanzte und rang; man schmauste bis zum Tagesanbruch, und mit dem ersten Sonnenstrahl zogen etwa siebzig Arbeiter, mit ihrem Herrn an der Spitze, eine lärmende Schar, wie zu einem Raubzug zur Oka. Sie waren betrunken, sangen Lieder, pfiffen und trugen dicke Walzen, Eichenstangen und Stricke auf den Schultern. Hinter ihnen watschelte der alte Weber durch den Sand und murmelte Nikita zu:

»Er erreicht alles, was er will! Der? Ich wei–eiß es … «

Das rote Ungeheuer, das an einen Stier ohne Kopf erinnerte, wurde glücklich vom Kahn auf das Ufer gebracht. Man umwickelte es mit Stricken und schleppte es, ächzend und brüllend, in gutem Einvernehmen auf Walzen über die auf den Sand gelegten Bretter; der Kessel bewegte sich wackelnd vorwärts, und es kam Nikita so vor, als tue sein runder, dummer Rachen sich erstaunt vor der fröhlichen Kraft der Menschen auf. Auch der betrunkene Vater half den Kessel ziehen und schrie voll Anstrengung:

»Langsam, he, langsam!«

Und er klopfte mit der Handfläche auf die rote Seite des eisernen Ungeheuers und redete ihm gut zu:

»Komm, lieber Kessel, komm!«

Es waren kaum noch fünfhundert Schritt bis zur Fabrik, als der Kessel besonders heftig zu wackeln begann, langsam von der vorderen Walze herabrollte und seine stumpfe Schnauze in den Sand steckte. Nikita sah, wie sein runder Rachen die Füße des Vaters mit grauem Staub anfauchte. Die Menschen umringten zornig den schweren Körper und versuchten eine Walze unterzuschieben, sie waren schon außer Atem, der Kessel klebte aber eigensinnig im Sande und schien sich, ohne ihren Bemühungen nachzugeben, immer tiefer hineinzugraben. Artamonow half, mit der Hebestange in den Händen, inmitten der Arbeiter, und rief ihnen zu:

»Jungs, packt alle auf einmal an! O–uch … «

Der Kessel bewegte sich wie unwillig und senkte sich wieder schwer. Da sah Nikita den Vater in einer ihm fremden Gangart aus der Arbeitermenge herauskommen, auch sein Gesicht war fremd; er ging, eine Hand unter den Bart schiebend und sich an der Kehle festhaltend, und mit der andern, wie ein Blinder, in der Luft herumtastend. Der alte Weber sprang ihm nach und schrie:

»Erde! Iß Erde … «

Nikita lief zum Vater. Der spuckte ihm mit lautem Aufstoßen Blut vor die Füße und sagte dumpf:

»Blut.«

Sein Gesicht wurde grau, die Augen blinzelten erschrocken, die Kiefern zitterten, und sein ganzer großer Körper zog sich angstvoll zusammen.

»Hast du dich verletzt?« fragte Nikita, ihn bei der Hand packend. Der Vater wankte zu ihm hin, stieß ihn und antwortete halblaut:

»Vielleicht. Es ist eine Ader geplatzt … «

»Iß Erde, sage ich … «

»Laß das, geh!«

Und als Artamonow wieder reichlich Blut ausspuckte, murmelte er verdutzt:

»Wie das rinnt! Wo ist Uljana?«

Der Bucklige wollte nach Hause laufen, doch der Vater hielt ihn an der Schulter fest und scharrte, den Kopf senkend, mit den Füßen im Sand, als lauschte er dem beim zornigen Geschrei der Arbeiter kaum vernehmbaren Knirschen und Rascheln.

»Was ist das?« fragte er und ging vorsichtig auf das Haus zu, als überschreite er auf einer Stange einen, tiefen Fluß. Die Bajmakowa verabschiedete sich gerade am Hausaufgang von der Tochter, Nikita bemerkte, als sie den Vater anblickte, daß ihr schönes Gesicht sich seltsam wie ein Rad erst nach rechts und dann nach links verzog und welk wurde.

»Gebt Eis her!« schrie sie, als der Vater sich mit ungeschickt gebogenen Beinen auf eine Stufe sinken ließ und unter Aufstoßen immer häufiger Blut spuckte. Wie im Traum vernahm Nikita Tichons Stimme:

»Eis ist Wasser; durch Wasser kann man kein Blut ersetzen … «

»Er muß Erde kauen … «

»Tichon, laufe, was du kannst, zum Popen … «

»Hebt ihn auf, tragt ihn«, kommandierte Alexej. Nikita faßte den Vater am Ellenbogen, aber jemand trat ihm so heftig auf die Zehen, daß er für einen Augenblick wie blind war; gleich darauf sahen seine Augen aber noch schärfer und prägten sich mit krankhafter Gier alles ein, was die Leute in der Enge des Zimmers beim Vater und auf dem Hofe taten. Über den Hof jagte Tichon auf dem großen Rappen, den er nicht zu bändigen vermochte, das Pferd wollte nicht aus dem Tor gehen, sprang, den bösen Kopf hebend, im Kreise herum und trieb die Menschen auseinander, es scheute wohl vor der Sonne, die auf dem Himmel eine blendende Feuersbrunst entflammt hatte; – endlich war es draußen und galoppierte, vor der roten Masse des Kessels stürzte es aber zur Seite, warf Tichon ab und kehrte schnaubend und mit wehendem Schwanz auf den Hof zurück.

Jemand schrie:

»Jungs, lauft … «

Auf dem Fensterbrett sitzt Alexej und dreht sich den dunklen Spitzbart, sein unangenehmes, nicht bäuerisches Gesicht ist abgemagert und wie mit Staub bedeckt, er blickt, über die Köpfe der Menschen hinweg, starr auf das Bett. Dort liegt der Vater und spricht mit fremder Stimme:

»Ich habe mich also geirrt. Es ist Gottes Wille. Kinder – ich befehle: Uljana ist für euch an Stelle der Mutter, hört ihr? Hilf ihnen um Christi willen, Ulja! Ach! Schickt die Fremden aus der Stube … «

»Schweige still«, stöhnte die Bajmakowa gedehnt und kläglich und steckte ihm Eisstückchen in den Mund. »Es gibt hier keine Fremden.«

Der Vater schluckt Eis und sagt unschlüssig seufzend:

»Ihr seid nicht Richter über meine Sünde, sie aber ist unschuldig. Natalia, ich war mit dir streng. Nun, das tut nichts. Ich brauche eben Jungen. Petrucha, Aljoscha, seid einig! Seid freundlicher zu den Leuten. Es ist gutes Volk. Ausgesuchte Menschen. Aljoscha, heirate diese, deine … es macht nichts!«

»Väterchen, verlaß uns nicht«, bittet Pjotr, niederkniend. Alexej stößt ihn aber in den Rücken und flüstert:

»Was fällt dir ein? Ich glaube es nicht … «

Natalia zerkleinert mit einem Küchenmesser Eis in einer Messingschüssel. Die krachenden Schläge werden vom Klingen des Metalls und von Natalias Schluchzen begleitet. Nikita sieht ihre Tränen auf das Eis fallen. Ein gelber Sonnenstrahl ist ins Zimmer gedrungen, wird vom Spiegel zurückgeworfen und zittert als formloser Fleck an der Wand, in dem Bestreben, die Gestalten der roten Chinesen mit den langen Schnurrbärten von der wie der Nachthimmel blauen Tapete wegzuwischen.

 

Nikita steht am Fußende des Bettes und wartet, daß der Vater sich seiner erinnere. Die Bajmakowa kämmt Iljas dichtes, krauses Haar, oder sie wischt ihm mit einer Serviette bald das unablässig aus dem Mundwinkel herabsickernde Blut, bald die Schweißtropfen von der Stirn und den Schläfen ab; sie flüstert ihm etwas in die getrübten Augen, sie flüstert es heiß wie ein Gebet; er aber legt die eine Hand auf ihre Schulter, die andere auf das Knie und formt mit der schweren Zunge die letzten Worte:

»Ich weiß. Christus erlöse dich! Beerdigt mich auf unserem eigenen Kirchhof, nicht in der Stadt. Ich will nicht dorthin, zu ihnen … «

Und er flüsterte mit großer, flammender Trauer:

»Ach, ich habe mich geirrt, mein Gott … Ich habe mich geirrt … «

Es kam der große, untersetzte Geistliche, mit einem Christusbart und mit traurigen Augen:

»Warte, Vater«, sagte Artamonow und wandte sich wieder an die Kinder:

»Kinder, teilt das Gut nicht! Seid einig! Das Werk verträgt keine Feindschaft. Pjotr, du bist der Älteste, du trägst die Verantwortung für alles, hörst du? Geht hinaus … «

»Nikita … « erinnerte die Bajmakowa.

»Habt Nikita lieb! Wo ist er? Geht! Später … Auch Natalia … «

Er starb am Nachmittag an Verblutung, als die Sonne noch freundlich strahlend im Zenit stand. Er lag mit erhobenem Kopf und besorgt gerunzeltem, wächsernem Gesicht da, und die nicht fest geschlossenen Augen schienen sinnend auf die breiten, demütig auf der Brust gefalteten Hände zu schauen.

Es kam Nikita vor, als ob alle im Hause durch diesen Tod weniger gekränkt und erschreckt als überrascht waren. Dieses stumpfe Staunen fühlte er in allen, bis auf die Bajmakowa; die saß schweigend, ohne Tränen, beim Verschiedenen, als wäre sie erfroren und für alles taub; sie hielt die Hände auf den Knien und blickte unablässig in das steinerne, vom Schnee des Bartes umrahmte Antlitz.

Pjotr erschien jetzt größer und sprach in überflüssiger, unpassender Weise viel zu laut, wenn er das Zimmer betrat, in dem der Vater lag und in dem Nikita abwechselnd mit einer dicken Nonne Klagegesänge aus dem Psalmenbuch vorlas. Pjotr warf einen fragenden Blick auf das Gesicht des Vaters, bekreuzte sich, ging nach zwei, drei Minuten vorsichtig wieder hinaus, und bald darauf tauchte seine stämmige Gestalt im Garten und im Hof auf, wo er etwas zu suchen schien.

Alexej war eifrig mit den Vorbereitungen zum Leichenbegängnis beschäftigt, ritt im Galopp in die Stadt, lief, wenn er heimkam, in die Stube und befragte Uljana nach den Vorschriften für Beerdigung und Leichenfeier. »Warte noch,« sagte sie, und Alexej verschwand verschwitzt und müde. Dann kam Natalia und bot der Mutter schüchtern und mitleidig Tee und Essen an. Sie hörte ihr aufmerksam zu und sagte:

»Warte noch.«

Nikita hatte bei Lebzeiten des Vaters nicht gewußt, ob er ihn liebte, er hatte ihn nur gefürchtet, obwohl diese Furcht ihn nie daran hinderte, die leidenschaftliche Tätigkeit dieses Menschen zu bewundern, der zu ihm unfreundlich war und der kaum zu merken schien, ob der bucklige Sohn noch lebte.

Jetzt glaubte Nikita aber, daß er als einziger den Vater auf die richtige Weise innig geliebt hatte; er war von tiefer Trauer erfüllt, als wäre ihm durch den plötzlichen Tod dieses starken Menschen eine grausame und rohe Kränkung angetan worden; diese Trauer und die Kränkung benahmen ihm fast den Atem. Er saß in der Ecke auf einem Koffer, wartete, bis die Reihe, aus dem Psalter zu lesen, an ihn kam, wiederholte im Geiste die bekannten Worte der Psalmen und blickte um sich. Das Zimmer war von warmem Dunkel erfüllt, in dem die Wachskerzen wie gelbliche, lebendige Blumen zitterten. An den Wänden reihten sich die Chinesen mit den langen Schnurrbärten kunstvoll aneinander und trugen auf Schulterstangen Teekisten, auf jedem Tapetenstreifen befanden sich achtzehn Chinesen, je zwei in einer Reihe, die Reihen stiegen abwechselnd zur Zimmerdecke hinauf und wieder herab. Auf die Wand fiel öliger Mondschein, in dem die Chinesen unternehmender erschienen und rascher hinauf- und herabstiegen.

Plötzlich vernahm Nikita durch das eintönige Hinströmen der Psalmenworte hindurch die halblaute, hartnäckige Frage:

»Ist er denn wirklich gestorben? Herrgott?«

Das war Uljana, und ihre Stimme klang so erschütternd kummervoll, daß die Nonne im Lesen innehielt und schuldbewußt antwortete:

»Er ist gestorben, Mütterchen, er ist nach Gottes Willen gestorben … «

Das war nicht zu ertragen. Nikita erhob sich und verließ geräuschvoll das Zimmer; er war über die Nonne aufgebracht und nahm dieses häßliche und beschwerende Gefühl mit.

Am Tor saß Tichon auf einer Bank; er brach mit den Fingern von einem großen Holzstück kleine Späne ab, steckte sie in den Sand und trieb sie durch Fußstöße immer tiefer hinein, bis sie unsichtbar wurden. Nikita setzte sich neben ihn und sah schweigend seiner Arbeit zu; sie erinnerte ihn an den unheimlichen Stadtnarren Antonuschka: dieser zottige Bursche, dessen eines Bein im Knie ausgerenkt war, und der ein dunkles Gesicht und die runden Augen eines Uhus hatte, zeichnete mit dem Stock Kreise in den Sand, um deren Mittelpunkt er aus Spänen und Gerten Käfige verfertigte; sowie er aber etwas fertiggebaut hatte, zertrat er es mit dem Fuß und scharrte Sand und Staub darüber, wobei er näselnd sang:

»Chiristus ist erstanden, ist erstanden!

Der Reisewagen hat ein Rad verloren.

Butyrma, eia popeia, bustarma,

Eia, eia popeia, Chiristus.«

»Ja, das ist so eine Sache, nicht?« sagte Tichon, schlug sich auf den Hals und tötete eine Mücke; darauf wischte er sich die Hand am Knie ab, sah auf den an einem Weidenzweig über dem Fluß hängengebliebenen Mond und ließ dann seine Augen auf dem massigen Körper des Kessels ruhen.

»In diesem Jahr kommen die Mücken früh zur Welt«, fuhr er ruhig fort. »Ja, die Mücke lebt, aber … «

Der Bucklige ließ ihn aus irgendeiner Angst heraus nicht zu Ende sprechen und erinnerte ihn ärgerlich:

»Du hast ja die Mücke getötet!«

Und er verließ eilig den Hausknecht. Da er aber nicht wußte, wohin er sollte, erschien er nach einigen Minuten wieder im Zimmer des Vaters, löste die Nonne ab und begann zu lesen. Seine Trauer ergoß sich in die Worte der Psalmen, er hörte Natalia nicht hereinkommen, und plötzlich ertönte hinter seinem Rücken ihre leise Stimme. Er fühlte stets, wenn sie in seiner Nähe war, er könnte etwas Ungewöhnliches und vielleicht Furchtbares sagen oder tun, und er fürchtete selbst in dieser Stunde, es könnte ihm gegen seinen Willen etwas entschlüpfen. Mit geneigtem Kopf und erhobenem Buckel senkte er die versagende Stimme, und jetzt strömten zugleich mit den Versen des neunten Psalterabschnitts die von zwei schluchzenden Stimmen gesprochenen Worte hin:

»Ich habe ihm das Kreuz vom Körper abgenommen, ich werde es tragen.«

»Liebe Mutter, auch ich bin ja einsam!«

Nikita erhob wieder die Stimme, um dieses hintropfende Geflüster zu übertönen und es nicht zu hören; er lauschte aber trotzdem.

»Der Herr hat die Sünde nicht dulden wollen … «

»Ich bin allein im fremden Nest … «

»Wohin wandle ich vor deinem Antlitz und wohin fliehe ich vor deinem Zorn?« sang Nikita gewissenhaft den Aufschrei der Furcht und der Verzweiflung, während sein Gedächtnis ihm einen traurigen Spruch zuflüsterte:

»Ohne Liebe leidest du sehr, doch mit Liebe um so mehr.« Und er fühlte verlegen, daß Natalias Kummer für ihn ein Hoffnungsstrahl des Glückes war.

Des Morgens kamen in einer Droschke Barski und der Bürgermeister Jakow Shitejkin, ein Mensch mit leeren Augen, der den Spitznamen »der nicht Gargebackene« trug; er war rundlich und schien tatsächlich aus rohem Teig verfertigt zu sein. Sie traten vor den Verstorbenen, verneigten sich vor ihm, und jeder von ihnen blickte ängstlich und mißtrauisch in das dunkle Antlitz. Auch sie waren durch Artamonows Tod sichtlich erschüttert. Darauf sprach Shitejkin mit scharfer, beißender Stimme zu Pjotr:

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