Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik

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Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik
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heptagon Verlag

Berlin 2012

ISBN: 978-3-934616-60-8

www.heptagon.de

Der Text ist ursprünglich erschienen auf der CD-ROM: »Max Weber: Das Werk, herausgegeben von Thomas Müller. Berlin 2000.« Die zu Grunde liegende Textausgabe ist erschienen als: »Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. München 1921.« Stellen, die im Original in Anführungszeichen stehen, sind in dieser E-Book-Ausgabe kursiv gesetzt. Die Fußnoten Webers wurden übernommen.

1.

Alle harmonisch rationalisierte Musik geht von der Oktave (Schwingungszahlverhältnis 1:2) aus und teilt diese in die beiden Intervalle der Quint (2:3) und Quart (3:4), also durch zwei Brüche von dem Schema n/(n+1): sog. überteilige Brüche, welche auch allen unseren musikalischen Intervallen unterhalb der Quint zugrunde liegen. Wenn man nun aber von einem Anfangston aus in Zirkeln auf- oder absteigt, zuerst in Oktaven, dann in Quinten, Quarten oder irgendwelchen anderen überteilig bestimmten Relationen, so können Potenzen dieser Brüche niemals auf einen und denselben Ton zusammentreffen, soweit man die Prozedur auch fortsetzen möge. Die zwölfte reine Quint gleich (2/3)12 z.B. ist um das pythagoreische Komma größer als die siebte Oktave gleich (1/2)7. Diese unabänderliche Sachlage und der fernere Umstand, daß die Oktave durch überteilige Brüche nur in zwei ungleich große Intervalle zerlegbar ist, sind die Grundtatsachen aller Musikrationalisierung. Wir erinnern uns zunächst, wie sich die moderne Musik, von ihnen aus gesehen, ausnimmt.

Unsere akkordharmonische Musik rationalisiert das Tonmaterial durch arithmetische bzw. harmonische Teilung der Oktave in Quint und Quart, sodann, unter Beiseitelassung der Quart, der Quint in große und kleine Terz (4/5 X 5/6 = 2/3), der großen Terz in großen und kleinen Ganzton (8/9 X 9/10 = 4/5), der kleinen Terz in großen Ganzton und großen Halbton (8/9 X 15/16 = 5/6), des kleinen Ganztones in großen und kleinen Halbton (15/16 X 24/25 = 9/10). Alle diese Intervalle sind mit Brüchen aus den Zahlen 2, 3, 5 gebildet. Von einem Ton als Grundton ausgehend, baut nun die Akkordharmonik auf ihm selbst, seiner oberen und unteren Quint, je eine durch ihre beiden Terzen arithmetisch geteilte Quinte, einen normalen Dreiklang, auf, und hat dann durch Einordnung der diese Dreiklänge bildenden Töne (bzw. deren Oktaven) in eine Oktave das gesamte Material der natürlichen diatonischen Tonleiter von dem betreffenden Grundton aus, und zwar, je nachdem die große Terz nach unten oder oben gelegt wird, eine Dur- oder Molltonfolge. Zwischen den beiden diatonischen Halbtonschritten der Oktave liegen das eine Mal zwei, das andere Mal drei Ganztonschritte, und in beiden Fällen sind der zweite ein kleiner, die anderen große Ganztonschritte. Fährt man fort, durch Bildung von Terzen und Quinten von jedem Ton der Tonleiter aus nach oben und unten innerhalb der Oktave neue Töne zu gewinnen, so entstehen zwischen den diatonischen Intervallen je zwei chromatische Intervalle, je einen kleinen Halbtonschritt vom oberen und unteren diatonischen Ton groß, welche durch je ein enharmonisches Restintervall (Diësis) voneinander getrennt sind. Da die beiden Arten von Ganztönen zweierlei verschieden große enharmonische Restintervalle zwischen den beiden chromatischen Tönen ergeben und der diatonische Halbtonschritt vom kleinen Halbton um ein wiederum anderes Intervall abweicht, so sind die Diësen zwar alle durch Zahlen aus 2, 3, 5 gebildet, aber von dreierlei verschiedenen, sehr komplizierten Größen. An der Quarte einerseits, welche nur mit Hilfe der 7 überteilig zerlegbar ist, dem großen Ganzton und den beiden Halbtönen andrerseits erreicht die Möglichkeit harmonischer Teilung durch überteilige Brüche aus den Zahlen 2, 3, 5 ihre untere Grenze. –

Die auf diesem Tonmaterial aufgebaute akkordharmonische Musik hält nun in ihrer voll rationalisierten Gestalt prinzipiell für jedes musikalische Gebilde die Einheit der durch Beziehung auf den Grundton und die drei normalen Hauptdreiklänge hergestellten, leitereigenen Tonfolge fest: Prinzip der Tonalität. Jede Durtonart hat mit einer parallelen Molltonart, deren Grundton eine kleine Terz tiefer liegt, das gleiche leitereigene Tonmaterial. Jeder Dreiklang auf der Oberquint (Dominante) und Unterquint (Unterdominante – Oktave der Quart) ist ferner tonischer, d.h. auf dem Grundton errichteter Dreiklang je einer nächstverwandten Tonart gleichen (Dur- oder Moll-) Geschlechts, welche mit der Ausgangstonart das gleiche Tonmaterial bis auf je einen Ton teilt. Und entsprechend entwickeln sich die Verwandtschaften der Tonarten in Quintenzirkeln weiter. – Durch Zufügung der dritten leitereigenen Terz zu einem Dreiklang entstehen die dissonierenden Septimenakkorde und speziell auf der Dominante der Tonart, also mit deren großer Septime als Terz, der Dominantseptimen-Akkord, welcher, da er nur in dieser Tonart, in dieser Zusammensetzung als Terzenfolge aus leitereigenen Tonmaterial vorkommt, sie eindeutig charakterisiert. Jeder aus Terzen aufgebaute Akkord verträgt die Umkehrung (die Versetzung eines oder mehrerer seiner Töne in eine andere Oktave) und ergibt dadurch einen neuen Akkord gleicher Tonzahl und unveränderten harmonischen Sinnes. Die reguläre Modulation in eine andere Tonart erfolgt von den Dominantakkorden aus; eindeutig eingeführt wird die neue Tonart durch den Dominantseptimen-Akkord oder ein eindeutiges Fragment von ihm. Einen regulären Abschluß eines Tongebildes oder eines seiner Abschnitte kennt die strenge Akkordharmonik nur durch eine die Tonart eindeutig kennzeichnende Akkordfolge (Kadenz), also normalerweise eines Dominantakkords und des tonischen Dreiklangs, bzw. ihrer Umkehrungen oder mindestens eindeutiger Fragmente beider. Die in harmonischen Dreiklängen oder deren Umkehrungen enthaltenen Intervalle sind (je nachdem vollkommene oder unvollkommene) Konsonanzen. Alle anderen Intervalle sind Dissonanzen. Das grundlegende dynamische, den Fortschritt von Akkord zu Akkord musikalisch motivierende Element der Akkordmusik ist die Dissonanz. Um die in ihr liegende Spannung zu lösen, fordert sie ihre Auflösung in einen neuen, die harmonische Basis in konsonanter Form darstellenden Akkord, die typischen einfachsten Dissonanzen der reinen Akkordharmonik: die Septimenakkorde, die Auflösung in Dreiklänge.

So weit wenigstens scheint alles in Ordnung, und in diesen (künstlich vereinfachten) Grundelementen wenigstens könnte das akkordharmonische System auf den ersten Blick als eine rational geschlossene Einheit erscheinen. Allein dem ist bekanntlich nicht so. Damit der Dominantseptimen-Akkord eindeutiger Repräsentant seiner Tonart sei, muß seine Terz, also die Septime der Tonart, eine große Septime dieser sein: also muß in den Molltonarten deren kleine Septime, im Widerspruch mit dem dreiklangmäßig geforderten, chromatisch erhöht werden. (Der Dominantseptimen-Akkord von A-moll wäre sonst zugleich Septimenakkord von E-moll.) Dieser Widerspruch ist also nicht nur, wie zuweilen (so auch von Helmholtz) gesagt wird, nur melodisch bedingt – weil nur der Halbtonschritt unterhalb der Oktave des Grundtons jene zur Oktave drängende Unselbständigkeit hat, die ihn als Leitton qualifiziert –, sondern liegt schon in der harmonischen Funktion des Dominantseptimen-Akkords selbst beschlossen, wenn diese auch für das Mollgeschlecht gelten soll. Bei dieser Alteration der kleinen zur großen Septime entsteht leitereigen von der kleinen Terz aus der Quint und zur großen Septime der Molltonart, der dissonante übermäßige Dreiklang, entgegen der harmonischen Terzenkombination aus zwei großen Terzen bestehend. Und den dissonanten verminderten Dreiklang enthält jeder Dominantseptimen-Akkord leitereigen, von der seine Terz bildenden großen Septime der Tonart aus nach oben. Schon diese beiden Arten von Dreiklängen sind, den harmonisch geteilten Quinten gegenüber, eigentlich Revolutionäre. Bei ihrer Legitimierung hat aber, gegenüber den Tatsachen der Musik schon seit J. S. Bach, die Akkordharmonik bei weitem nicht stehenbleiben können. Fügt man in einen, die kleine Septime enthaltenden Septimenakkord zwei große Terzen ein, so bleibt als Rest die dissonierende verminderte Terz, und bildet man aus ihr, einer kleinen und einer großen Terz einen Septimenakkord, so ist wiederum dessen Septime vermindert: es entstehen die alterierten Septimenakkorde und ihre Umkehrungen. Durch Kombination von leitereigenen (normalen) Terzen mit verminderten Terzen ferner entstehen die alterierten Dreiklänge und ihre Umkehrungen. Aus dem Material dieser Akkordkategorien lassen sich dann die vielumstrittenen alterierten Tonleitern konstruieren, denen sie leitereigen und von denen aus gesehen sie also harmonische Dissonanzen sind, deren Auflösungen sich mit den Regeln der (entsprechend erweiterten) Akkordharmonik konstruieren und zur Kadenzbildung verwenden lassen. Sie sind historisch charakteristischerweise in den Molltonarten zuerst aufgetreten und von der Theorie erst allmählich rationalisiert worden. Alle diese alterierten Akkorde führen irgendwie auf die Stellung der Septime im Tonsystem zurück. Die Septime ist auch der Störenfried bei dem Versuch, die einfache Durtonleiter durch eine Serie reiner Dreiklänge zu harmonisieren; es fehlt der verbindende Ton, welchen das Bedürfnis stetiger stufenweiser Fortschreitung fordert, von der Sext- zur Septimenstufe, und zwar nur an dieser Stelle, der einzigen, wo den Stufen das dominantische Verhältnis zueinander: der durch eine der Dominanten vermittelte Nächstverwandtschaftsgrad der für die Harmonisierung zu verwendenden Dreiklänge mangelt.

 

Jenes Bedürfnis nach Stetigkeit der Fortschreitung, also Verbundenheit der Akkorde untereinander, ist nun seinem Wesen nach kein rein harmonisch zu begründendes mehr, sondern melodischen Charakters. Die Melodik überhaupt aber ist zwar harmonisch bedingt und gebunden, aber, auch in der Akkordmusik, nicht harmonisch deduzierbar. Zwar hat Rameaus Formulierung, daß der Fundamentalbaß, d.h. der harmonische Grundton der jeweiligen Akkorde, sich nur in den Intervallen des Dreiklangs, reinen Quinten und Terzen, fortbewegen dürfe, auch die Melodik der rationalen Akkordharmonik unterworfen. Und es ist bekannt, wie Helmholtz das Prinzip der stellenweisen Fortschreitung zu den (nach der Ober- und Kombinationston-Skala) nächstverwandten Tönen, gerade als Prinzip der reinen monodischen Melodik, theoretisch glänzend durchgeführt hat. Aber er selbst mußte als ferneres Prinzip die Nachbarschaft der Tonhöhe einführen, welches er dann teils entsprechend den Untersuchungen Basevis, teils durch die Beschränkung der nur melodisch erklärbaren Töne auf bloße Durchgangs funktion dem strengen harmonischen System einzufügen suchte. Allein Tonverwandtschaft und Tonnachbarschaft stehen, da der Sekundenschritt, vor allem der besonders intensiv leitende Halbtonschritt, gerade zwei in der physikalischen Verwandtschaft fernstehende Töne miteinander verbindet, in unversöhnlichem Gegensatz gegeneinander, ganz abgesehen von dem allgemeinen Bedenken, daß eben doch die Obertonskala nicht vollständig, sondern unter Überspringung bestimmter Stufen in sehr prononcierter Unvollständigkeit der Harmonik zugrunde liegt. Die Melodien, selbst des strengsten reinen Satzes, sind weder stets nur gebrochene, d.h. in die Tonsukzession projizierte Akkorde, noch stets durch harmonische Obertöne des Fundamentalbasses in ihren Fortschreitungen verkoppelt, und mit bloßen Terzensäulen, harmonischen Dissonanzen und deren Auflösungen allein wäre vollends niemals eine Musik konstruierbar gewesen. Nicht nur aus den Verwicklungen kettenweiser Fortschreitungen, sondern auch aus vorwiegend distanzmäßig, aus der Tonnähe heraus, zu verstehenden melodischen Bedürfnissen erwachsen jene zahlreichen Akkorde, welche nicht auf Terzenaufbau beruhen, daher weder harmonische Repräsentanten einer Tonart, noch – infolgedessen – gleichsinnig umkehrbar sind und also auch nicht ihre Erfüllung durch die Auflösung in einen ganz neuen, aber die Tonart ergänzend charakterisierenden Akkord finden: die sogenannten melodischen oder – vom Standpunkt der Akkordharmonik aus gesprochen – zufälligen Dissonanzen. Die Akkordharmonik behandelt die harmonie- oder auch leiterfremden Töne solcher Akkorde – je nachdem – als Durchgänge, oder als ausgehaltene und wiederholte Töne neben den akkordlich fortschreitenden Stimmen, deren variierende Beziehung zu ihnen dann den spezifischen Charakter des Gebildes prägt, oder als Vorausnahmen oder Nachschläge akkordzugehöriger Töne vor oder hinter den betreffenden Akkorden, endlich und namentlich als Vorhalte: harmonisch akkordfremde Töne in einem Akkord, welche gewissermaßen die eigentlich zugehörigen Töne von ihrer Stelle verdrängt haben, daher nicht wie die legitimen harmonischen Dissonanzen, auch frei auftreten können, sondern stets vorbereitet sein müssen. Sie fordern nicht die spezifisch akkordharmonische Auflösung, sondern diese erfolgt, prinzipiell wenigstens, dadurch, daß die verdrängten Töne und Intervalle sozusagen nachträglich in ihre von Rebellen gekränkten Rechte eingesetzt werden. Eben diese akkordfremden Töne sind nun aber naturgemäß, gerade durch den Kontrast gegen das akkordlich Geforderte, die wirksamsten Mittel der Dynamik des Fortschreitens einerseits, andererseits auch der Bindung und Verflechtung der Akkordfolgen miteinander. Ohne diese durch die Irrationalität der Melodik motivierten Spannungen gäbe es keine moderne Musik, zu deren wichtigsten Ausdrucksmitteln gerade sie zählen. In welcher Art gehört nicht weiter hierher. Denn hier sollte nur an der Hand der allereinfachsten Tatbestände daran erinnert werden, daß die akkordliche Rationalisierung der Musik nicht nur in steter Spannung gegenüber den melodischen Realitäten lebt, welche sie niemals restlos in sich zu schlingen vermag, sondern daß sie auch in sich selbst, zufolge der, distanzmäßig betrachtet, unsymmetrischen Stellung der Septime, Irrationalitäten birgt, welche in der erwähnten unvermeidlichen harmonischen Mehrdeutigkeit der Struktur der Molltonleiter ihren einfachsten Ausdruck finden.

Aber schon rein tonphysikalisch geht das akkordharmonische Tonsystem bekanntlich nicht glatt auf. Grundlage seiner modernen Struktur ist die C-dur-Tonleiter. In reiner Stimmung enthält sie, von den 7 Tönen jeder Oktave aus, nach oben oder unten 5 reine Quinten, ebenso viele Quarten, 3 große und 2 kleine Terzen, 3 kleine und 2 große Sexten und 2 große Septimen aus leitereigenen Tönen, dagegen – infolge der Verschiedenheit der Ganztonschritte – zweierlei um das sogenannte syntonische Komma (80/81) verschiedene Arten von kleinen Septimen (3 zu 9/16, 2 zu 5/9). Vor allem aber hat sie von da aus innerhalb der diatonischen Töne je eine Quint und kleine Terz nach oben, Quart und große Sext nach unten, welche gegenüber den reinen Intervallen um das gleiche Komma differieren und ein Verhältnis für die Quinte d–a ergeben (27/40), welches bei der Empfindlichkeit der Quinte gegen alle Abweichungen etwas unrein klingt. Die kleine Terz d–f ist eben unvermeidlich eine auch durch die Zahlen 2 und 3 (pythagoreisch) determinierte kleine Terz (3/4:8/9 = 27/32). Dies Versagen der Rationalisierung, welches darauf beruht, daß reine Terzen nur unter Mitwirkung der Primzahl 5 zu konstruieren sind und der Quintenzirkel also nicht auf reine Terzen führen kann, und welches daher mit M. Hauptmann als der Gegensatz der Quinten- und Terzen-Bestimmtheit gedeutet werden kann, ist auf keinerlei Weise aus der Welt zu schaffen: D und F sind die Grenztöne der harmonischen C-dur-Tonart.

Selbstverständlich nicht zu verbessern ist die Rationalisierung durch Mitverwendung der mit der Zahl 7 oder noch höheren Primzahlen zu bildenden Intervalle. Bekanntlich sind solche in der Obertonskala vom siebten Ton angefangen enthalten, und eine harmonische Teilung der Quart (statt wie in unserem Tonsystem, der Quint) ist durch überteilige Brüche nur mit der Siebenzahl möglich (6/7 X 7/8 = 3/4). Allein mag auch die natürliche Septime, der bei Saiteninstrumenten leicht abzudämpfende, aber auf allen Naturhörnern erscheinende siebte harmonische Oberton (= 4/7, Kirnbergersi, welches auch auf japanischen Stimmpfeifen vorkommen soll) mit c–e–g konsonieren – Fasch hat den Ton ja dieserhalb auch in die praktische Musik einzuführen versucht – und mag ferner auch das Intervall 5/7 (natürlicher Tritonus, übermäßige Quart, – das einzige auf der japanischen Laute Pipa rein gestimmte Intervall –) als Konsonanz wirken, und mögen endlich andere Intervalle mit sieben der ostasiatischen (7/8-Intervalle als Ganzton auf dem King, dem Hauptinstrument des chinesischen Orchesters in der untersten Oktave) und arabischen Musik und im Altertum, wenn auch vielleicht nicht, wie behauptet wird, der Musikpraxis, so doch den hellenistischen Theoretikern (diesen sogar solche mit noch höheren Primzahlen) bis in die byzantinische und islamitische Zeit und erst recht den Persern und Arabern geläufig gewesen sein –, so ist doch durch ihre Mitverwendung kein harmonisch-rationales, für eine Akkordmusik brauchbares Intervallsystem zu gewinnen. In der ostasiatischen Musik sind sie übrigens vielleicht Produkt jener von durchaus außermusikalischen Grundlagen her vorgenommenen Rationalisierung, von der noch die Rede sein wird. Im übrigen wäre aber die 7 in Musiksystemen, deren Grundintervall (neben der Oktave) nicht die Quint und Terz, sondern die Quart ist, an sich ganz legitim. Auf unserem, für die Akkordmusik bestimmten Klavier wird der siebte harmonische Ton durch die Anschlagstelle des Klöpfels, auf den Streichinstrumenten durch die Art des Anstreichens totgemacht, auf den Naturhörnern wurde er in die harmonischen Septimen getrieben. – Intervalle mit 11 und 13 vollends, wie sie ja die Obertonskala auch enthält und z.B. Chladni sie auch in schwäbischen Volksweisen gehört haben wollte, sind wenigstens in keiner rationalisierten Kunstmusik, soviel bekannt, rezipiert worden, während allerdings die Perser ein mit 17 gebildetes Intervall in die arabische Skala gebracht haben.

Eine Musik endlich, welche umgekehrt die Zahl 5 und damit die Verschiedenheit der Ganztonschritte eliminiert und sich auf die Zahlen 2 und 3 beschränkt, also als einzigen Ganzton den großen (mit der Relation 8/9), den Tonos der Griechen, das Intervall zwischen Quint und Quart (2/3 : 3/4 = 8/9) zugrunde legt, gewinnt zwar (von unten nach oben zu gerechnet) 6 reine Quinten und ebensoviele Quarten (von allen Tönen, außer von der Quart zur Septime) in der diatonischen Oktave. Sie gewinnt dadurch den gerade für rein melodische Musiken gewichtigen Vorteil, in der optimalen Möglichkeit melodiöse Bewegungen in die Quint oder Quart zu transponieren, – ein Umstand, auf welchem in starkem Maß die frühe Präponderanz dieser beiden Intervalle beruht. Aber sie eliminiert gänzlich die harmonischen Terzen, welche nur durch harmonische Teilung der Quint unter Verwendung der Zahl 5 rein zu bilden sind, und damit auch den Dreiklang, also auch die Unterscheidung der Dur- und Mollgeschlechter und die tonale Verankerung der harmonischen Musik im Grundton. Dies war in der hellenischen Musik und auch in den sogenannten Kirchentönen des Mittelalters der Fall. An die Stelle der großen Terz trat dort der Ditonus (e:c = 8/9 X 8/9 = 64/81 ) und an die Stelle der diatonischen Halbtöne das Leimma (Restintervall des Ditonus gegenüber der Quart = 243/256). Die Septime wird dann = 128/243. Die harmonische Tongewinnung machte also halt bei der ersten Teilung der Oktave, welche als durch Quint und Quart in zwei durch den Tonos getrennte (diazeuktische) – im Gegensatz zu den beiden bei c durch Synaphe: Identität des Endtones des einen mit dem Anfangston der anderen verbundenen (synemene) – symmetrische Quarttonfolgen (c–f, g–c') zerlegt angesehen wurde. Die Gewinnung der Einzeltöne dieser Tonfolge konnte also nicht durch harmonische Teilung der Quinten, sondern als innerhalb der Quart als des kleineren von diesen beiden Intervallen, und nicht durch deren harmonische Teilung (die nur mittels der 7 möglich ist), sondern nach dem Prinzip der Gleichheit der (Ganzton-) Schritte (Distanzprinzip) vollzogen gedacht werden. Die Verschiedenheit der beiden durch harmonische Teilung entstehenden Ganztöne und die beiden harmonischen Halbtöne mußten also fortfallen. Das Leimma, die Differenz zwischen Ditonus und Quart, bildet bei dieser pythagoreischen Stimmung zwar ein mit 2 und 3 gebildetes, aber sehr irrationales Verhältnis. Ähnlich geht es bei jedem anderen Versuch einer Teilung der Quart in drei Distanzen, wie sie vielfach theoretisch gemacht worden (und in der orientalisch-arabischen Musik praktisch gewesen), aber ohne weit höhere Primzahlen nicht möglich und harmonisch nicht verwendbar sind.

Viele primitiv rationalisierte Tonskalen begnügen sich nun mit der Einfügung nur einer Tondistanz, regelmäßig eines Ganztons, innerhalb der beiden diazeuktischen Quarten: Pentatonik. Es scheint sicher, daß die Pentatonik, welche noch heute das offizielle chinesische System und die Grundlage mindestens einer, wahrscheinlich aber ursprünglich beider javanischen Tonskalen ist, und welche ebenso in Litauen und Schottland, Irland, Wales wie bei den Indianern, Mongolen, Anamiten, Kambodschanern, Japanern, Papuas, Fullahnegern sich findet, in der Vergangenheit der Musik eine bedeutende Rolle gespielt hat, auch bei uns. Manche unzweifelhaft sehr alte Melodien westfälischer Kinderlieder z.B. zeigen sehr deutlich pentatonische, und zwar halbtonfreie (anhemitonische) Struktur und das bekannte Rezept für die Schaffung volksliedmäßiger Kompositionen: nur die fünf Obertasten des Klaviers zu benutzen – welche ja ein halbtonfreies pentatonisches System darstellen –, gehört auch dahin. Für die alte gälische und schottische Musik steht die Herrschaft der Anhemitonik fest, für die ältere kirchliche Musik des Okzidents glaubten Riemann und, wenn auch in anderer Art, O. Fleischer ihre Spuren nachweisen zu können. Speziell die Musik der Zisterzienser, welche ihrer Ordensregel gemäß puritanische Vermeidung alles ästhetischen Raffinements auch auf diesem Gebiet pflegten, scheint pentatonisch gewesen zu sein. Ebenso findet, sich unter den Skalen des jüdischen Synagogengesanges, die im übrigen auf hellenistisch-orientalischer Basis ruhen, eine einzelne pentatonische Skala.

 

Die Pentatonik geht nun häufig mit einer durch das Ethos der Musik bedingten Meidung des Halbtonschrittes Hand in Hand. Man hat daraus geschlossen, daß eben diese Meidung ihr musikalisches Motiv darstelle. Die Chromatik ist der alten Kirche ganz ebenso wie z.B. den älteren Tragikern der Hellenen und der bürgerlich rationalen konfuzianischen Musiklehre antipathisch. Von den ostasiatischen Kunstmusikvölkern sind nur die feudal organisiert gewesenen Japaner mit ihrem Streben nach leidenschaftlichem Ausdruck der Chromatik prinzipiell stark ergeben. Chinesen, Anamiten, Kambodschaner, die ältere javanische Musik (Slendro-Skala) sind ihr ebenso wie auch allen Mollakkorden gleichmäßig abgeneigt. Ob nun freilich die pentatonischen Skalen überall die älteren sind – sie bestehen nicht selten neben reicher besetzten Tonleitern –, ist nicht sicher. Die neben den vollständigen Oktavreihen zahlreichen unvollständigen Skalen der Inder haben nur zum kleinen Teil ein der üblichen Pentatonik ähnliches Aussehen. Inwieweit sie etwa doch aus Alterationen und Korruptionen pentatonischer Skalen hervorgegangen sind, steht ganz dahin. Für die meisten Fälle scheint ihr höheres Alter wenigstens gegenüber den jetzt daneben stehenden Skalen überwiegend wahrscheinlich. Auch in der Musik der Chippewah-Indianer findet sich (nach Densmores Phonogrammen) die Pentatonik gerade in den naturgemäß am reinsten erhaltenen Zeremonial-Gesängen. Wieweit bei der Festhaltung der halbtonlosen Pentatonik auch in Kunstmusiken Abneigung gegen das irrationale Halbtonintervall aus musikalischen, superstitiösen oder (in China) rationalistischen Gründen oder umgekehrt: dessen schwerere eindeutige Intonierbarkeit maßgebend war, bleibt sehr unsicher. Denn daß gerade wirklich primitive, d.h. tonal nicht oder wenig rationalisierte Musiken den Halbton meiden, ist nicht erweislich, die Phonogramme namentlich von Negermelodien zeigen eher das Gegenteil. Es ist daher neuerdings direkt bestritten, ob Pentatonik überhaupt gerade in dem Streben nach Vermeidung des Halbtonschrittes ihren ursprünglichen Grund gehabt habe, – wie z.B. auch Helmholtz annahm. Er setzte einfach ein früheres Abbrechen der Reihe der mit der Tonika in den nächsten Graden verwandten Töne in primitiven Musiken als Grund ihrer Entstehung voraus – eine, wie die Analyse primitiver Musiken zeigt, unhaltbare Ansicht. Denn sie findet sich immerhin nicht selten (z.B. bei japanischen pentatonischen Melodien: – Skala c, des, f, g, as, c' gegen c, d, f, g, a, c' der Chinesen, und ebenso in der – jüngeren – javanischen Pelog-Skala, welche sieben Stufen enthält, deren Gebrauchstonleiter aber fünfstufig ist) in der Gestalt, daß innerhalb der Quart gerade ein Halbtonintervall neben einer leeren Terz steht. Das findet sich jedoch gegenüber der Anhemitonik nur in der Minderzahl der Fälle – auch in der Pentatonik nordamerikanischer Indianer. In solchen Fällen würde also Pentatonik die Verwendung der drei Intervalle Quint, Quart und große Terz bedeuten, neben welchen dann nur der Halbton übrigblieb. Hier dürfte aber die Terz, wenn sie nämlich überhaupt als harmonische Terz und nicht vielmehr als ditonische Distanz zu verstehen sein sollte, sich erst allmählich durchgesetzt haben und die Ausschaltung des Ganztons sekundär sein. Den pentatonischen Musiken, soweit sie den harmonischen Ganzton, also die Differenz zwischen Quint und Quart, verwenden, ist zwar naturgemäß ein der kleinen Terz, aber in der pythagoreischen Abmessung (27/32), wie in der reinen Stimmung zwischen d und f, entsprechendes Intervall inhärent, infolge der Ausschaltung des Halbtons (so z.B. auch bei den Indianern), nicht aber, soviel bekannt, die große Terz, am wenigsten die harmonische Abmessung. Diese ist in wirklich primitiven Musiken selten. Vielmehr erscheint gerade das Terz-Intervall in außerordentlich vielen phonographisch kontrollierten Musiken in unreiner Form, nicht als harmonische Terz und auch nicht als – was mit den gerade bei der Terz sehr hohen Anforderungen an Reinheit, wenn Schwebungen vermieden werden sollen, einerseits, dem schnelleren Undeutlicherwerden der Schwebungen andererseits zusammenhängen könnte – Ditonus, sondern als sogenannte neutrale Terz (die nach Helmholtz auch, von gedeckten Orgelpfeifen produziert, leidlich konsoniert), und zwar in sehr unsicherer Bestimmtheit, so daß die Verwendung der reinen großen Terz in einer irgendwie primitiven Skala nicht wahrscheinlich ist. Es ist nun allerdings schon aus dem Grunde nicht eben wahrscheinlich, daß die Pentatonik eine wirklich primitive Skala darstellt, weil, soviel bekannt, überall, auch in den allerprimitivsten Musiken, eine wenigstens irgendwie dem harmonischen Ganzton naheliegende Distanz, wo aber die Quart und Quint auftreten, ganz regelmäßig diese selbst als ihre Differenz, überall die Basis der praktischen Melodik ist. Die Pentatonik setzt also anscheinend mindestens die Oktave und ihre wie immer sonstgeartete Teilung, also eine partielle Rationalisierung voraus, ist daher nichts wirklich Primitives. Nun besteht ferner kein Zweifel, daß auch die Struktur eines pentatonisch anhemitonischen Systems an sich nicht notwendig gerade auf der Quart als Grundintervall beruhen muß. Die irische Skala z.B., wie sie 747 die Synode von Cloveshoe gegenüber dem Gregorianischen Choral als die Sangesart unserer irischen Vorfahren vertrat, wurde im elften Jahrhundert akkordisch verwendet und war dabei halbtonfrei. Und überhaupt: liest man eine anhemitonische Skala statt c, d, f, g, a, c vielmehr f, g, a, c, d, f, so enthält sie Sekunde, kleine Terz (oder pythagoreischer Anderthalbton), große Terz (oder Ditonus), Quint, Sext. Nicht Terz und Septime also, sondern Quart und Septime fehlen dann. In der Tat ist der Sinn der Pentatonik in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Manche pentatonische Melodie – so viele schottische und die von Helmholtz zitierte Tempelhymne – würde, wenn wir unsere Tonalitätsvorstellungen zugrunde legen, dem zweiten Typus entsprechen. Es scheint nun in einzelnen Gebieten neben der überall unsangbaren Septime entgegen der Regel auch die Quart für Anfänger schwerer als insbesondere die Terz intonierbar zu sein, so nach Densmore bei den Indianern, nach Ferd. Hand bei Kindern in der Schweiz und Tirol. Letzteres dürfte aber eine Folge der dem Norden charakteristischen, später zu erörternden Entwicklung zur Terz sein; auch die Anhemitonik der Zisterzienser ging mit einer ihnen spezifischen Vorliebe für die Terz zusammen. Ob, wie Helmholtz andeutet, die günstigere Behandlung der, in den höheren Stimmlagen, wegen der großen Zahl der Schwebungen leichter rein klingenden Terz in der nordeuropäischen Musik auch damit zusammenhängt, daß die Frauen hier am Chorgesang beteiligt sind, von dem sie das Altertum, wenigstens auf dem Boden der großen Kulturzentren (Athen, Rom), und ebenso die spätantike, asketisch gewendete und die mittelalterliche Kirche ausschlossen, bleibt angesichts der zuletzt erwähnten Tatsache sehr fraglich. Soviel ich sehen kann, findet in den Musiken der Naturvölker die sehr verschieden gestaltete Beteiligung der Frauen am Gesang in entsprechendem Unterschied der Stellungnahme zur Terz Ausdruck (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß schwerlich eindeutig feststeht, ob jeweils Terz oder vielmehr ditonische Distanz gehört wird). Im Mittelalter ist die Quart auch in der Theorie parallel mit dem Vordringen der Terz unter die Dissonanzen geraten (allerdings wesentlich deshalb, weil sie von der Theorie [vom Organum usw. abgesehen] weder in Dreiklängen, also Schlüssen, noch in Parallelbewegungen geduldet wurde, also gegenüber der Terz harmonisch benachteiligt war). Und bei den Indianern, deren Pentatonik im Absterben ist, spielen ebenfalls Terzen (kleine und neutrale) eine erhebliche Rolle. Die beiden dicht benachbarten Intervalle, Quart und Terz, scheinen also historisch in einer Art von Antagonismus gestanden zu haben – was Helmholtz mit den Mitteln seiner Theorie (Tonempfindungen, 3. Auflage, S. 297) gut zu erklären vermochte –, so daß die Pentatonik an sich sowohl mit dem einen wie mit dem anderen zusammengehen könnte. Aber das ist aus Gründen der allgemeinen Stellung der Quart in der alten Musik nicht wahrscheinlich; denn soweit unsere Kenntnisse heute reichen, scheinen die Quint und damit auch die Quart überall da, wo die Oktave einmal erkannt ist, als die ersten und meist einzigen harmonisch reinen Intervalle aufzutreten, und hat die Quart speziell in der überwältigenden Mehrzahl aller bekannten Musiksysteme, auch solcher, die, wie das chinesische, keine eigentliche Tetrachord-Theorie aufgestellt haben, die Bedeutung eines melodischen Grundintervalls besessen. Die westfälischen Kinderlieder bewegen sich von dem häufigsten Mittelton (g) – dem melodischen Hauptton – typisch eine Quarte auf- und abwärts. Von den beiden javanischen Skalen hat die eine (Slendro) annähernd reine Quarte und Quinte mit einem Ton in der Mitte jeder der beiden die Oktave diazeuktisch zusammensetzenden annähernden Quartdistanzen, und auch die andere (Pelog) reicht von dem Mittelton aus in je einer annähernd reinen verbundenen Quarte auf- und abwärts, und ihre übliche Gebrauchsleiter enthält, vom untersten Ton aus gerechnet, Anfangston, neutrale Terz, Quart, neutrale Sext, kleine Septime. J. P. N. Land hält die erstere für altchinesischer, die letztere für arabischer Herkunft. Alles in allem ist doch wohl das Wahrscheinlichste die Deutung der Pentatonik als einer Kombination zweier diazeuktischen Quarten, bei welcher ursprünglich die beiden Quarten nur durch je ein Intervall geteilt waren, welches je nach der melodischen Bewegung (insbesondere, ob auf- oder abwärts) beweglich und eventuell irrational war. So könnte sich z.B. auch das javanische Pelogsystem erklären lassen, und die deutlichsten Belege für eine ähnliche Entwicklung, daß die Grenztöne der Quarten zuerst als die Grundlagen aller Intervallbestimmung unbeweglich werden, finden sich sowohl bei den Hellenen wie bei den Arabern und Persern. Von hier aus konnte die Entwicklung dann natürlich an sich ebensowohl zu einem, mit Ausnahme der Quart, irrationalen Tonsystem wie zur Anhemitonik, wie endlich zu einer Pentatonik mit Halbtönen und großer Terz oder auch – wie in vielen schottischen Liedern – mit Ganzton und kleiner Terz fortschreiten. Der als Opfermelodie sicher besonders alte τροπος σπονδειαζων der Hellenen war nach Plutarch pentatonisch, und zwar offenbar anhemitonisch. Der spät, aber ersichtlich arachaisierend komponierte zweite delphische Apollon-Hymnus scheint die Verwendung von mehr als drei Tönen eines Tetrachords, nicht aber den Halbtonschritt zu vermeiden. Im ganzen ist die Meidung oder Deklassierung der Halbtöne zu nur melodisch leitenden Distanzen doch wohl der ältere und auch wohl der weitest verbreitete tonale Sinn der Pentatonik, die selbst schon eine Art von Auslese rationaler harmonischer Intervalle aus der Fülle der melodischen Distanzen darstellt. In jedem Fall sind wir hier mit allen diesen Erscheinungen schon aus dem Bereich der harmonischen Intervallgewinnung, welche den Weg über die Teilung der Quinte nimmt, heraus und in das Gebiet der Skalenbildung durch bloße Auslese melodischer Distanzen innerhalb der Quart gelangt, welche der Willkür wesentlich mehr Freiheit läßt als jede harmonisch determinierte Skala. Von dieser Freiheit haben die Skalen der rein melodischen Musiken umfassenden Gebrauch gemacht. Vor allem die Theorie. Wenn man einmal von der Quart als dem melodischen Grundintervall ausging, so gab es unermeßliche, im Prinzip willkürliche Möglichkeiten ihrer mehr oder minder rationalen Teilung durch irgendwelche Kombination von Intervallen. Die Skalen der hellenistischen, byzantinischen, arabischen, indischen Theoretiker, die sich offenbar gegenseitig beeinflußt haben, geben solche in den allerverschiedensten Büchern an, von welchen heute schlechterdings nicht mehr feststellbar ist, inwieweit sie eigentlich jemals in der praktischen Musik verwendet worden sind. Das einzige, was dafür spricht, ist die in der orientalischen und der, offenbar auch von daher beeinflußten, byzantinischen Theorie noch häufiger und typischer als in der hellenistischen sich findende Angabe eines spezifischen Ethos für die einzelnen Arten der Teilung, welche vermuten lassen kann, daß in der Tat mindestens in den Kreisen, welche die damalige Kunstmusik trugen, die Effekte dieser oft höchst barocken Skalen genossen wurden. Aber auch der Umfang, in dem dies geschah, ist ganz unsicher. Soweit wirkliche Realitäten der Praxis dahinterstanden, handelt es sich wenigstens zum Teil – aber auch eben nur zum Teil – wohl um eine Art Pantheonbildung von ursprünglich lokalen Instrumentenstimmungen, daneben gelegentlich noch um Übertragungen von Stimmungen einzelner Instrumente auf andere, z.B. von Naturtönen der Blasinstrumente auf Saiteninstrumente. Beide sind dann Objekte systematischer Rationalisierung geworden. Eine ursprünglich lokale Differenzierung der melodischen Skalen tritt in den Regionalbezeichnungen der hellenischen Tonarten (dorisch, phrygisch usw.) und ebenso bei den indischen Skalen und in der arabischen Quartenteilung sehr deutlich hervor. Eine, wahrscheinlich ursprünglich durch die Übernahme von Intervallen herbeigeführte, Entwicklung verschiedener instrumentaler Herkunft des Tondistanzsystems zeigen gewisse Erscheinungen der hellenischen und arabischen Musiken.

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