Read the book: «Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis»
Vorwort
Wer sich mit einem Gegenstande lange und eifrig beschäftigt hat, hegt unwillkürlich den Wunsch, die Ergebnisse seines Studiums und Nachdenkens zu ordnen und für die Dauer festzuhalten. So habe ich dieses Buch nicht bloß für den Leser, sondern auch für mich selbst geschrieben, und darum wird es bei aller Objektivität, die eine wissenschaftliche Veröffentlichung selbstverständlich auszeichnen muß, doch auch den Eindruck des Persönlichen machen. Über die Anschauungen von der Welt, und auch über die vom Leben, ist schon viel geschrieben; das Thema ist ja für Laien und Gelehrte wichtig und interessant genug. Ich glaube aber, daß noch kein Buch vorhanden ist, das die Aufgabe von so allgemeinen Gesichtspunkten und in so umfassender Darstellung behandelt, wie das vorliegende. Meist sind es Ausschnitte aus einzelnen Gedankengebieten der Völker und Forscher, die geboten werden, entweder vom Standpunkte des Anthropologen, oder des Gottesgelehrten, oder des Philosophen und des Naturforschers. Ich habe es versucht, alles in eins zusammenzufassen, Anthropologie, Religion, Philosophie und Naturwissenschaft, denn nur aus einer Darstellung des Ganzen wird man das Bedeutungsvolle des Gegenstandes zu übersehen und das Einzelne zu würdigen vermögen. Und nicht nur das ist von Interesse, was Große denken und sagen, sondern auch, was Völker, selbst in ihrem Naturzustande, erdichten und zur Richtschnur ihres Lebens in sich und mit Anderen machen. Es sind wunderliche und wunderbare Bilder, die kaleidoskopisch an uns vorüberziehen. Es handelt sich aber, wie ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, hervorheben muß, nicht um eine Geschichte, sondern um eine Schilderung der Anschauungen selbst. Darum ist der Inhalt, wie ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis lehrt, durchaus nur sachlich geordnet, und wo Raum und Zeit zu entscheiden scheinen, hat sich dieses im Rahmen des Tatsächlichen von selbst eingestellt. Darum sind auch nur die Hauptmomente behandelt, und sollte ein Leser den einen oder anderen Namen vermissen, so hat der Verfasser ein Besonderes, das sich an diesen Namen für seine besondere Aufgabe knüpft, nicht feststellen können. Manche glauben, daß ein Verfasser, was er nicht sagt, auch nicht weiß und nicht gedacht hat. Es wäre beschämend, wenn man nicht unendlich viel mehr wüßte und dächte, als man in seinen Büchern, so zahlreich sie schon sein mögen, niedergelegt hat. Aber es ist nicht angängig, alles, was man weiß und denkt, weiterzugeben, denn man muß auch den Leser berücksichtigen. Auch ist zwar vielfach das Leben lang genug das wichtigste zu lernen, aber leider allzu kurz, was man möchte, zu schaffen.
Ich habe eine rein wissenschaftliche Darstellung gewählt, denn die Anschauungen sind nicht bloß geschildert, sondern aufs sorgfältigste zergliedert und auf ihren Wert untersucht. Auch sind sie von der hohen Warte des allgemeinen Menschengeistes und des großen Wissens unserer Zeit betrachtet. Wer über Welt- und Lebenanschauungen umfassend schreiben will, muß sich nicht allein mit der Arbeit der Vergangenheit vertraut machen, sondern sich auch in die Strömungen der Gegenwart versenken können, und bedarf außerordentlich eingehender Kenntnisse auf allen Gebieten der menschlichen Betätigung. Der Leser soll unterrichtet werden, und zwar sorgfältig und richtig, nicht, wie es durch so viele populäre Werke leider geschieht, oberflächlich oder gar falsch. Außerdem soll er zum eigenen weiteren Denken angeregt und angeleitet werden. Bereicherung mit Kenntnissen und Ideen, Bereicherung mit geistigem Streben ist die Aufgabe eines wissenschaftlichen Buches. Trotz des großen Ernstes der Behandlung und der sehr erheblichen Schwierigkeit der Materie wird die Darstellung, wie ich hoffe, als klar und einer guten Prosa angemessen befunden werden. Ich bin keiner noch so tiefgründigen Untersuchung aus dem Wege gegangen, habe jedoch, wo Sonderkenntnisse erforderlich waren, diese stets mitgeteilt. Kritik ist fast auf jeder Seite geübt, ich habe mich bestrebt Objektivität und Ruhe des Urteils zu wahren. Das Buch ist für den Fachmann und für den Gebildeten, überhaupt für jeden, der sich auf dem wichtigsten Gebiete des menschlichen Denkens und Dichtens unterrichten will, geschrieben. Das Persönliche kommt in der Darstellungsweise und in der Geltendmachung der eigenen Meinungen und Anschauungen zum Vorschein. Ich habe vor längerer Zeit zwei Bücher geschrieben, auf die ich mich oft berufe: „Philosophische Grundlagen der Wissenschaften“ und „Die Entstehung der Welt und der Erde nach Sage und Wissenschaft“. Mit dem vorliegenden Buche bilden diese Bücher, wenn auch jedes für sich ein selbständiges Ganze darstellt, eine höhere Einheit, die ich freilich noch gern durch ein Buch über das Leben selbst ergänzen möchte. Bei aller Sorgfalt ist es in umfangreichen Werken nicht immer möglich, Unebenheiten und Versehen zu vermeiden. Ein Herr aus Frankreich hat mich auf eine Stelle in den „Philosophischen Grundlagen“ aufmerksam gemacht, die ich, einem so geschmackvollen und liebenswürdigen Volke gegenüber, wie das französische in der Tat gerne nicht geschrieben haben möchte.
Die wichtigeren Werke, die ich bei Abfassung meines Buches verwendet habe, sind in diesem Buche selbst verzeichnet. Wo es mir nur irgend möglich war, habe ich mich an die Originale gehalten; benutzte ich bei fremden Sprachen zur Erleichterung Übersetzungen, so paßte ich sie möglichst dem Wortlaut der Originale an. Es ist schon ein melancholisches Geschäft, aus Arbeiten Anderer Auszüge zu machen, aber abstoßend langweilig, Auszüge auszuziehen. Ich habe letzteres nur notgedrungen getan, wo mir die Originale nicht zur Verfügung standen oder die Sprache mir doch verschlossen war. Abbildungen enthält nur der erste Teil des Buches, die übrigen Teile boten keinen Anlaß, sie zu schmücken. Ein sehr eingehendes Inhaltsverzeichnis und Namen- und Sachregister wird, hoffe ich, die Brauchbarkeit des Buches auch zum Nachschlagen erhöhen. Beim Lesen der Korrekturen hat mich mein Freund, der Lehrer an der Berliner Baugewerkschule Dr. Levy, formell und sachlich unterstützt. Ihm und der Verlagsbuchhandlung, die viel Mühe mit dem Buche gehabt und für eine würdige Ausstattung gesorgt hat, meinen besten Dank. Möchte der Leser das Buch so gern lesen, wie der Verfasser es gern und aus dem Innern heraus geschrieben hat.
Charlottenburg, im Mai 1910.
Weinstein.
VORBEMERKUNGEN.
Charakteristik, Prinzipe und Einteilung der Welt- und Lebenanschauungen
1. Bedeutung der Welt- und Lebenanschauungen
Es liegt schon in der Natur des Menschen, von sich selbst und von allem, was ihn umgibt und störend oder unterstützend in sein Leben eingreift, sich eine Ansicht zu bilden. Vielfach und bedeutungsvoll sind die Fragen, die dabei gestellt werden, und mit deren Beantwortung die Menschheit, seit sie ihrer sich bewußt ist und die Fähigkeiten ihrer Seele auch geistig anzuwenden gelernt hat, sich müht und plagt. Und diese Beantwortung bildet eine Welt- und Lebenanschauung; vollständig, wenn sie alle Fragen betrifft, fragmentarisch, wenn sie nur in das Einzelne dringt. Es gibt Anschauungen, die nur aus träger Gedankenlosigkeit oder aus trotziger Verbitterung oder gar aus pathologischer Denkweise hervorgehen. Diese lassen wir beiseite. Die Weltanschauungen, mit denen wir es hier allein zu tun haben, können auf naiver Naturbetrachtung und naivem Egoismus beruhen, sodann auf Kultgebräuchen und Religionslehren, auf philosophischen Untersuchungen und Meinungen, endlich auf naturwissenschaftlichen und soziologischen Feststellungen. Alle diese Grundlagen mögen gesondert stehen oder miteinander verbunden sein. Bei wenigen Menschen haben die Anschauungen nur eine objektive, rein wissenschaftliche Bedeutung. Die meisten wollen neben der Erkenntnis auch eine Beruhigung für das Dasein und darüber hinaus gewinnen. Indessen bilden sich eine eigene Anschauung nur wenige Menschen. Den anderen wird sie durch Erziehung oder Religionsvorschriften eingeimpft. Letztere waren ja früher gerade bei den Kulturvölkern von so zwingender Gewalt, daß eine andere Anschauung als die, welche die Religion allein zuließ, gar nicht gehegt, geschweige geäußert werden durfte. Viele standen und stehen freiwillig unter dieser zwingenden Gewalt, indem die Glaubenssätze der Religion für sie über jeden Zweifel erhaben sind. Andere beugten und beugen sich ihr aus Weltklugheit oder weil das Beispiel des Widerstandes sie schreckte. Auch Lehren, die gerade mit besonderer Kraft ausgesprochen sind oder in Mode stehen, werden gerne ergriffen. Denn es handelt sich, wenn man eine Welt- und Lebenanschauung sich bilden will, immer um eine tiefe und schwere Gedankenarbeit, und mitunter um einen harten Kampf mit sich selbst und mit Anderen. Und bei der Unsicherheit des Kennens und Erkennens fällt der Mensch von Zweifeln in Zweifel und nimmt darum gerne an, was ihm autoritativ übermittelt ist. Mitunter muß der Name an Stelle der Sache treten. Wie wenige von einer Religionsgemeinschaft wissen, was eigentlich die Lehren dieser Religion sind, zumal, wenn diese Lehren von vornherein als „geoffenbart“ vorgetragen werden. Viele wollen sie gar nicht einmal wissen; die symbolischen Formeln genügen ihnen, das übrige soll der Seelsorger verantworten. Und was hat für die meisten Nietzscheaner Nietzsche eigentlich gelehrt? Man darf nicht fragen, ohne auf die hohlsten Redensarten zu stoßen, wenn man überhaupt eine Antwort und nicht eine Widerfrage oder eine Abweisung erhält. Am ehesten auf eine bestimmte sachliche Welt- und Lebenanschauung stößt man bei Naturmenschen und bei unreifer Jugend, nur daß es sich dabei teils um widersinnige, teils um töricht übereilte Äußerungen handelt. Für die Naturvölker werden wir das später eingehend verfolgen, da es ein anthropologisches Interesse hat. Wer die junge Kulturwelt belauschen will, braucht nur ihre modernen Dichtungen zu lesen, die bei schönen Worten und reizvollen Wendungen gedanklich oft recht blühenden Unsinn enthalten und Anschauungen wiedergeben oder erraten lassen, bei denen selbst einen mild urteilenden harte Ungeduld ergreift. Die ernst und selbständig denken, suchen sich allmählich zu einer sie befriedigenden Welt- und Lebenanschauung durchzuringen. Da hierzu auch Kenntnisse gehören und namentlich auch Disziplin des Denkens, kommen nur sehr wenige Begünstigte schon früh zu einer brauchbaren solchen Anschauung. Viele gelangen erst in späten Jahren dazu, und noch mehr mühen sich ihr Leben hindurch umsonst ab und müssen sich mit einem Stück einer Anschauung oder mit mehreren Anschauungen begnügen, zwischen denen sie nicht zu vermitteln vermögen.
Ich habe unbestimmt von einer Welt- und Lebenanschauung gesprochen. Die Welt- und Lebenanschauung gibt es noch nicht. Selbst bei den Kulturvölkern sind unzählige Anschauungen im Schwange, und eine Anschauung wird von der anderen bekämpft, und von jeder Anschauung kann man nachweisen, daß sie hier oder da unrichtig sein muß, von keiner aber, daß sie richtig ist. Die wichtigsten Dinge, die in einer Welt- und Lebenanschauung zur Sprache kommen, sind zeitlich, räumlich und sinnlich unerreichbar. So ist niemand bei der Schöpfung zugegen gewesen; der eine kann sie also ganz leugnen, der andere ebenso sicher absolut bejahen. Daher handelt es sich hier fast ausschließlich um Meinungen. Und diejenige Meinung wird die größte Wahrscheinlichkeit für sich haben, welche mit den Vorgängen im All, jetzt und früher, am besten in Einklang ist. Hier aber spielen subjektive Ansichten mit, gerade wie in der Religion; und was dem einen erwiesen scheint, weist der andere weit von sich. Und wie oft geradezu Widersinniges für sicher genommen wird, werden wir an vielen Beispielen sehen. Ich habe einmal in einer sehr wichtig und bedeutend tuenden Broschüre gelesen, unsere Welt sei die Schlacken oder auch die Auswurfstoffe aus der vierten Dimension. Wie töricht! wird der Leser ausrufen. Aber wir haben noch viel seltsamere Ansichten.
2. Naturvölker und Kulturvölker
Wir unterscheiden zunächst die Anschauungen der Naturvölker von denjenigen der Kulturvölker. Die Völker der Halbkultur folgen wesentlich den Naturvölkern. Auch steht so mancher Kulturmensch ganz auf dem Standpunkt des Wilden. Trifft er sich dort, so mag er in sich gehen und in die ihm gehörige Klasse überwandern.
Einfacher und doch verworrener sind die Anschauungen der Naturvölker als die der Kulturvölker. Wie es unendlich viele Mühe gemacht hat, in die Religion der Naturvölker einige sichere Einsicht zu erhalten, weil auf Befragen nicht bloß fast jedes Dorf, sondern fast jeder Befragte etwas besonderes erzählt, so verhält es sich hinsichtlich der Weltanschauungen. Gemeinsame Lehren ergaben sich nämlich bald, weil ihre praktische Betätigung in unmittelbare Erscheinung trat. Aber Meinungen und Anschauungen hatte jeder für sich. Und dabei handelte es sich nicht einmal immer um Verlegenheit vor dem Frager und Mißtrauen gegen ihn, sondern einfach um Mangel an Ansicht und Unüberlegtheit. Wie viele Kulturmenschen würden auf Befragen nach ihrer Weltanschauung bestimmt antworten können oder wollen? Und wo sie eine solche Anschauung besitzen, würden sie in Staaten mit polizeilichen oder kirchlichen Gewalten aus Furcht vor Nachteilen, sonst in dem unbequemen Gefühl, etwas Törichtes zu sagen, noch weit mehr mit ihren Meinungen zurückhalten als ein Naturmensch, oder sich mit Ausflüchten helfen. Als ich mich mit der Religion der ozeanischen Völker beschäftigte, fiel es mir auf, daß von den unzähligen Namen für Götter und Helden, welche in einem Hauptwerk hierüber, Greys „Polynesian Mythology“, enthalten sind, kaum zwei in den sehr vielen Angaben der Seefahrer des achtzehnten Jahrhunderts (Cooks, Wilsons, Pokocks u. a.) sich finden. Die bei weitem wichtigste Bezeichnung für Götter und Dämonen in diesen Angaben, Eatooa oder Atoa oder ähnlich, sucht man in gleicher Eigenschaft in Greys Werk vergeblich. Ein anlautender Name kommt wohl vor, er bezeichnet aber eine Insel oder einen Distrikt. Nur die Namen Tane und Maui scheinen zeitlich und räumlich sehr verbreitet zu sein. Frobenius, in seinem Buche „Die Weltanschauung der Naturvölker“ hat sich der Mühe unterzogen, für die afrikanischen Völker den Namen einer der bekanntesten Gottheiten durch die Stämme zu verfolgen. Er geht von dem Namen Tschuka aus, der bei den Ibo und in Kalabar einfach Gott bedeuten soll, und stellt mehr als fünfzig Namen auf, die jenem Namen entsprechen sollen, darunter solche wie Rupe, Ndsakumba und ähnliche, die nicht entfernt mehr an den Ausgangsnamen erinnern. Das kann und wird zum Teil an den abweichenden Sprachen liegen, wie wir ja für unser „Gott“ selbst unter den Indogermanen um eine ähnlich lautende Bezeichnung verlegen sind. Dann aber muß man sich wundern, daß Hottentotten und Buschmänner, die eine von den eigentlichen Bantu-Negern des mittleren Afrika ganz verschiedene Rasse bilden, fast den gleichen Namen für Gott besitzen wie die ihnen so fernen Neger des oberen Kongo, Touquo und Tuiko gegen Tuku (vermehrt Tuku-Tuku), während fast sich berührende Stämme der gleichen Rasse und anscheinend des gleichen Sprachstammes ganz abweichende Namen aufweisen. Bei den Yoruba an der Nigermündung heißt es Dso oder Zo, wie in dem weit entfernten Saumgebiet Ostafrikas. Aber in dem nahen Kamerun soll man das gleiche mit Loba, Lebe, Rubi bezeichnen, wie ähnlich mit Lubari in Uganda, wo ja auch Dso oder Zo bestehen soll, und wo als eigentlicher Name des Schöpfers Kitonda angegeben wird. Vieles muß also an den verschiedenen Angaben liegen, die im gleichen Bezirk von verschiedenen Personen dem gleichen oder einem anderen Forscher gemacht werden. Anderes an der kindlichen Gewohnheit der Naturvölker, Namen beliebig zu ändern oder zu verdrehen. Wer Reisewerke miteinander vergleicht oder die Namen in Atlanten und anderen Werken sucht, gerät mitunter in helle Verzweiflung. Gegenwärtig kommt noch dazu, daß die meisten Naturvölker schon mit Kulturmenschen durchsetzt sind und vieles Kulturelle, namentlich Religiöse, von ihnen gehört und in sich aufgenommen haben. Neuere Mitteilungen über Ansichten von Naturvölkern können darum nur mit größtem Mißtrauen benutzt werden, namentlich, wenn sie an Kulturansichten erinnern. Und da die älteren Reisenden meist weder die Kenntnisse noch das Interesse besaßen, sich wirklich genau über die besuchten Völker zu orientieren, sondern nur allzu gerne sich die tollsten Lügen aufbinden ließen, um zu Hause die merkwürdigsten Fabeln erzählen zu können, so sieht es eigentlich mit Untersuchungen über die Welt- und Lebenanschauung der Naturvölker übel aus. In den Märchen und Erzählungen, die uns von den Naturvölkern vorgetragen werden, sind Züge reinster Empfindung und Tugend und dicht daneben Roheiten entsetzlichster Bestialität. Ganz wie in den Sagen der alten Griechen. Wer kann die rührende Szene zwischen Hektor und Andromache mit der scheußlichen des Totenopfers für Patroklos vereinigen? Wir kommen dadurch auf einen Punkt, der von großer Bedeutung ist und uns noch beschäftigen wird.
Für die Kulturvölker scheint die Untersuchung einfacher und sicherer zu sein, hier ist ja so vieles durch Tradition und Schrift bekannt. Aber das Ungeheuere des Materials wirkt erdrückend. Es prahlte jemand mit seinem Fleiße und rechnete so viel Tätigkeit zusammen, daß für den Tag 26 Stunden Arbeit herauskamen. Selbst dieser Zauberkünstler wäre nicht imstande, das Material auch nur zum vierten Teil zu bewältigen, und wenn er Methusalems Alter erreichte. Man muß sich darum auf Hauptansichten und Hauptwerke beschränken. Und dieses darf um so eher geschehen, als wahrhaft große Meinungen nur spärlich erblüht sind, und als unglaublich Viele bewußt und unbewußt die Wege der Großen wandeln. Das ist kein Tadel; und wer in mühseliger Arbeit das gefunden hat, was einem Großen vor ihm schon als Geschenk des Genies eingefallen ist, darf mit Fug und Recht stolz sein und alberne Kritik aus Zusammengelesenhaben ablehnen. Eine solche Arbeitsvermehrung nimmt man gerne entgegen. Eine andere Schwierigkeit liegt in dem Mangel an Bestimmtheit in so vielen Meinungen und Schriften. Wir werden von zwei wilden Rossen nach entgegengesetzten Richtungen gezogen, dem Verstand und dem Gefühl. Mancher wird innerlich zerrissen, viele geben wenigstens dem einen oder dem anderen etwas nach. Kommt noch dazu die menschliche Gebundenheit um des bloßen Lebens willen an anderer Meinung, etwa die bemerkte an Staat und Kirche, so ergibt sich ein weiteres Schwanken. Hat man doch dem großen Kant Inkonsequenzen in seinem philosophischen System vorgeworfen. Und wer weiß so recht, was Fichtes oder gar Schellings eigentliche Philosophie gewesen ist, da man doch von jedem von ihnen mehrere ganz abweichende Philosophien hat? Und da bei weitem die meisten Menschen inkonsequent sind, die einen aus Anlage, die anderen aus ehrlichem Zweifeln, so berührt uns ein ganz konsequenter Mann oder eine ganz konsequente Ansicht fast unheimlich. Wir werden sehen, daß auf unserem Gebiete davon nur sehr wenig vorhanden ist. Man kann fast sagen: mitunter zum Glück für die Menschheit. Denn mit absoluter Konsequenz ist oft Fanatismus und mit diesem Verfolgungssucht verbunden, die sich in der konsequentesten Religion, der katholischen, in so entsetzlichen Taten geäußert hat, und eine Herrschernatur wie Innozenz III., trotz so großer Leistungen, durch die Ausmordung Tausender andersdenkender unschuldiger Menschen fast fluchbeladen erscheinen läßt.
3. Hauptfragen und Stammannahmen (principia, ἀρχαὶ) der Welt- und Lebenanschauungen
Der Leser sieht, welch umfangreiche Arbeit hier zu bewältigen ist, und wie alles nur in großen Zügen zur Darstellung kommen kann. Doch habe ich die Absicht, weit über die engen Grenzen der Spezialbetrachtungen hinauszugehen, die immer nur einzelne Klassen der Menschheit betraf. Ich möchte vorführen, was der Mensch allgemein an Welt- und Lebenanschauungen geschaffen hat; nicht diese oder jene Philosophenschule, diese oder jene Religion, dieses oder jenes Volk. Unter solchen Umständen ist eine gewisse Systematik unausweichlich, sonst verläuft man sich in der Fülle des Gebotenen und gerät in Gefahr, die Darlegung in Phrasen aufzulösen. Und nirgends ist diese Gefahr so groß und sind ihr so viele Schriftsteller erlegen als gerade auf dem Gebiete, mit dem wir uns hier beschäftigen sollen. Was Prinz Heinz von seinem dicken Freunde bei der Musterung seiner Rechnungen gesagt hat, und ich einmal einen berühmten Nationalökonomen auf einem Kommers auf die Universitätsvorlesungen habe anwenden hören, soll uns zur Warnung dienen. Gründlichkeit hier, Schmuckrede dort, zwischen diesen Symplegaden müssen wir unser Schifflein hindurchsteuern.
Fast jede Weltanschauung geht von einer Stammannahme oder von mehreren Stammannahmen aus. Es muß daher von großer Bedeutung für die Ordnung des Vortrags sein, wenn vor allem diese Stammannahmen vorgeführt werden. Vollständig dieses zu tun ist für einen beschränkte Zeit lebenden Menschen nicht möglich, wegen der unendlichen Menge von Büchern, die er lesen müßte. Nachdem ich mich aber durch so viele Jahre frei und veranlaßt in so vielen Wissenschaften umgesehen habe, glaube ich, daß in der nachfolgenden Aufzählung Wichtigeres nicht fehlen wird. Sollte der Leser noch eine und eine andere Annahme wissen, so füge er sie gütigst hinzu; wir sind alle gerne Kärrner der Königin Wissenschaft. Die Annahmen gehen aber auf
den Grund des Alls und den der Einzelnen,
den Bestand des Alls,
das Wesen der Dinge,
das Wesen und den Grund der Geschehnisse,
die Entwicklung des Alls,
das Ende des Alls,
das Ende der Einzelnen.
Das sind sieben Hauptpunkte. Es ist nicht angängig, die allgemeine Liste ganz nach diesen Hauptpunkten einzurichten; die Behandlungen müßten vielfach durcheinander gehen und sich verschlingen, wodurch viele unnötige und störende Wiederholungen entstehen würden. Gleichwohl ist die nachfolgende Liste unterteilt, und zwar derartig, daß sie in einiger Beziehung sich den Hauptpunkten anschmiegt. Wenn manche Hauptpunkte in der Liste nicht berücksichtigt zu sein scheinen, so ist es in der Tat nur ein „scheinen“. Durch gehörige Untersuchung der Stammannahmen und namentlich auch durch Verbindung zweier oder mehrerer von ihnen werden auch diese Hauptpunkte zur Erledigung gebracht.
Die Liste enthält vier Klassen: phantomistische Annahmen, wesenheitliche, wesenheitlich-begriffliche, begriffliche. Es kommt auf die absolute Richtigkeit der Benennungen nicht an, diese müssen nur durchschnittlich zutreffen und können es auch nur. Nun möge die Liste selbst folgen.
I. Phantomistische.
1. Nichts,
2. Traum,
3. Schein.
II. Wesenheitliche.
4. Das (indisch Tad),
5. Etwas,
6. Urwesen, Ding an sich, Substanz,
7. Gott,
8. Götter (in allen Abstufungen),
9. Weltgeist,
10. Schöpfer (Schöpfung),
11. Vernichter, Satan, Widergott,
12. Weltseele,
13. Einzelseele,
14. Weltvernunft,
15. Einzelvernunft,
16. Emanation,
17. Chaos, Urmaterie,
18. Materie (auch Elemente und Körper),
19. Energie, Entropie,
20. Psychoma.
III. Wesenheitlich-begriffliche.
21. Sein, Nichtsein,
22. Werden, Vergehen,
23. Ruhe, Erregung,
24. Attribute,
25. Ideen,
26. Formen,
27. Modi (auch Essenzen und Bilder),
28. Monaden (auch Realen),
29. Zahl,
30. Raum (auch Leere),
31. Zeit,
32. Harmonie,
33. Disharmonie (auch Entzweiung in sich).
IV. Begriffliche.
34. Gut,
35. Böse,
36. Liebe (auch Anziehung),
37. Haß (auch Abstoßung),
38. Streit,
39. Zwang (absoluter),
40. Notwendigkeit,
41. Anlage (auch Prädestination, Prästabilisation),
42. Unfreiheit, Determinismus,
43. Ursächlichkeit,
44. Beschränktheit,
45. Zweckmäßigkeit (Teleologie, auch Instinkt),
46. Entwicklung,
47. Produktion und Reaktion (auch Regulative),
48. Parallelismus,
49. Gelegenheitlichkeit,
50. Zufall, Association,
51. Freiheit,
52. Unbeschränktheit.
Die Liste sieht bunt genug aus; es soll ja aber auch ein allgemeiner Überblick über die Welt- und Lebenanschauungen gegeben werden. Wir könnten nun weiter so verfahren, daß wir einfach die obigen Stammannahmen einzeln und zu zweien oder mehreren nehmen, so würden wir schon eine große Zahl aller bisher entwickelten Anschauungen gewinnen. Aber die Liste soll uns nur im einzelnen leiten. Die Betrachtung führen wir allgemein.