Fragmente

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Fragmente

von Matthias Jenke

Fragmente

Matthias Jenke

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2011 Matthias Jenke

ISBN 978-3-8442-0301-1

Interpretationsfrage

Er atmete langsam und konzentriert. Der Wagen rollte heran, kam vor dem Gebäude zum Stehen. Er sah die Fahrerin im Fadenkreuz seines Zielfernrohres, wartete bis sie den Zündschlüssel gedreht und den Motor ausgeschaltet hatte. Noch einmal tief einatmen, den Druckpunkt des Abzugs suchen, dann ausatmen, die Luft anhalten. Der Lauf seines Gewehres war absolut ruhig, als er den Finger krümmte und den Schuss auslöste. Die Fahrerscheibe zerbarst, der Kopf der Fahrerin zerplatzte in einem roten Nebel aus Blut. Sie fiel vornüber auf das Lenkrad.

Ruhig und konzentriert zerlegte er das Gewehr, verstaute es in seiner Tasche. Den Menschenauflauf auf der anderen Straßenseite beachtete er nicht. Er verließ die Wohnung, durchquerte den Hausflur und ging die Treppen hinunter. Ein junger Mann mit Kopfhörern in den Ohren und einer Sporttasche über der Schulter. Er trug keine Sonnenbrille, keine Schirmmütze, keinen Hut, nichts das ihn verdächtig erscheinen ließ.

Wer ihn sah, vergaß ihn sofort wieder.

Es war später Nachmittag, als er die Schrebergartenkolonie betrat. Sein Auftraggeber hatte sich hier mit ihm treffen wollen. Nachts, im Dunkeln. Das hatte er abgelehnt. Nichts war verdächtiger, als zwei einsame Gestalten, die sich nachts zwischen Schrebergärten herumtrieben. Er hatte auf ein Treffen bei Tageslicht bestanden.

Sein Auftraggeber hatte einen Grill aufgebaut. Seine Familie war anwesend. Zwei Kinder, die auf einem Klettergerüst spielten, eine Frau, die Salat zubereitete. Er selbst fachte die Glut an und trank Bier. Ein großer, kräftiger Mann mit dickem Bauch, roter Knollennase und lichtem Haar. Ein grober Typ, der nicht vor groben Mitteln zurückschreckte.

Als er den Schrebergarten betrat, sah der Mann von seinem Grill auf. Seine Miene verfinsterte sich für einen Augenblick, dann nickte er. Die Kinder stoppten ihr Spiel auf dem Klettergerüst, und auch die Frau sah von ihrem Salat auf.

„Geschäftlich.“ knurrte der Dicke.

Die Kinder verloren sofort das Interesse; die Frau wirkte verärgert.

„Du hast versprochen, am Wochenende nicht mehr zu arbeiten.“

„Geht ganz schnell. Wir müssen nur kurz was klären.“

Der Killer nickte ihr aufmunternd zu.

„Wollen sie was trinken?“ fragte sie.

Der Killer lehnte ab. „Danke.“

Sein Auftraggeber gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen und ging zu einem kleinen Holzhäuschen, das sich in einer Ecke des Gartens befand. Der Killer folgte ihm hinein. Sie setzten sich an einen Tisch, und der Dicke kramte einen Umschlag aus einer Aktentasche, die an das Tischbein gelehnt stand.

„Cleverer Schachzug.“ sagte der Killer.

„Meine Familie? Sie werden kaum Ärger machen, wenn Zeugen anwesend sind.“

„Wer sagt, dass ich sie nicht ebenfalls ausschalte?“ fragte er. Er genoss den Ausdruck des Schreckens im Gesicht seines Auftraggebers. „Solange das Geld stimmt, gibt es keine Probleme.“

„Das Geld stimmt.“

Der Killer hielt die Hand auf, um den Umschlag entgegenzunehmen, aber der Dicke machte keine Anstalten, ihn auszuhändigen.

„Erzählen sie mir davon.“ knurrte er.

„Was wollen sie wissen?“ Es kam nicht häufig vor, dass Auftraggeber nach Einzelheiten fragten. In der Regel wollten sie so wenig wie möglich wissen; es reichte ihnen, ein Hindernis aus dem Weg geräumt zu sehen, der Rest war uninteressant. Aber er hatte es diesmal mit einem Neuling zu tun. Ein Möchtegern-Despot, der sich einen geschäftlichen Vorteil verschaffen wollte, indem er die Frau eines Konkurrenten umlegen ließ. Welchen Vorteil er sich davon versprach, wusste der Killer nicht. Motive interessierten ihn nicht.

„Wie ist es passiert? Einzelheiten.“

„Es gibt nicht viele Einzelheiten.“ erklärte der junge Mann angekratzt. Er wollte den Umschlag haben und dann verschwinden. Jede Minute, die er sich hier aufhielt war eine Minute zuviel. „Schwarzer Golf, drei oder vier Jahre alt. Junge Frau, etwa 25. Dunkelhaarig, Nasenring. Hielt zum angegebenen Zeitpunkt vor dem angegebenen Haus. Kopfschuss durch das Fahrerfenster. War sofort tot. Eine schnelle Angelegenheit.“

„25?“ rief sein Auftraggeber erschrocken aus. Die Hand mit dem Umschlag verschwand unter dem Tisch.

„Etwa.“ antwortete der Killer irritiert.

„Die Frau, um die es ging, ist Mitte 50.“

„Vielleicht hat sie sich gut gehalten.“

„Die sieht älter aus als sie ist! Von wegen gut gehalten. Die Kuh ist eine Schabracke! Wie kommen sie auf die Idee, sie wäre 25?“

„Vielleicht war sie auch nicht 25.“ Die Situation entwickelte sich zu etwas, das ihm gar nicht gefiel. „Jetzt geben sie mir mein Geld. Ich verschwinde.“

„Wie kann man so eine Kuh für 25 halten? Haben sie keine Augen im Kopf?“ Der Dicke redete sich in Rage; so etwas konnte schnell hässlich werden. Der Killer konzentrierte sich darauf, tief zu atmen und ruhig zu bleiben.

„Wir sollten uns beide nicht im Ton vergreifen.“ sagte er leise. „Und viel älter als 25 ist sie auf keinen Fall gewesen. Die Frau entsprach der Beschreibung. Eine jüngere, dunkelhaarige Frau in einem schwarzen Golf. Und sie war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.“

„Wieso jünger?“ brauste der Dicke auf.

„Ihre Beschreibung.“

„Jünger als ihr Mann vielleicht.“ Der Dicke geriet immer mehr in Wut. Sein Kopf lief rot an, seine Stimme wurde laut. Es fehlte nicht mehr fiel, und er würde alle Vorsicht vergessen. Wenn er zu brüllen begann, musste der Killer schnell reagieren. „Aber ihr Mann ist Mitte sechzig.“

„Das ist mir gleichgültig.“ sagte der Killer. „Geben sie mir mein Geld! Ich habe meinen Auftrag ausgeführt. Die Hälfte vorneweg, die zweite Hälfte nach Erledigung des Jobs!“

„Sie haben die falsche um die Ecke gebracht!“ knurrte der Dicke. „Sie kriegen keinen Cent! Ich dachte, sie sind ein Profi!“

„Ich bin ein Profi!“ entgegnete der junge Mann kalt. Er fand sich plötzlich in der Defensive wieder und das gefiel ihm nicht.

„Sie sind so dämlich, eine Frau Mitte zwanzig umzulegen, wenn sie eine Mittfünfzigerin abknallen sollten!“

„Halten sie den Ball flach!“ zischte der Killer. „Und seien sie leise, verdammt noch mal! Wollen sie, dass ihre Familie was mitbekommt?“

Sein Auftraggeber schien ihn gar nicht zu hören.

„Das ist doch nicht professionell!“ schrie er ihn an. „Ich will mein Geld wieder haben! Wie können sie die falsche abknallen? Sind sie denn völlig bekloppt?“

„Sie haben gesagt, eine jüngere Frau. Die Frau passte auf die Beschreibung!“

„Jünger als ihr Mann! 55 oder 56!“

„Das Alter haben sie mir nicht genannt. Eine jüngere Frau!“

„Ist doch wohl klar, was ich meine, wenn ich sage jünger: Jünger als ihr Mann!“

„Das ist Interpretation!“

„Wofür halten sie mich? Denken sie, ich bin bescheuert?“ Plötzlich schlug er einen herablassenden Ton an: „Ich muss ihnen sagen, dass ich sehr enttäuscht bin! Sie sind mir empfohlen worden! Ein Mann, der weiß was er tut! Ein Mann, auf den man sich verlassen kann! Und dann so was. Ist doch wohl klar, was ich meine, wenn ich sage, die Frau ist jünger! Jünger als ihr Mann, meine ich damit! Wie kommen sie auf die Idee, ich wollte eine 25jährige aus der Welt schaffen lassen? Die hat doch keinem was getan!“

„Aber die Mittfünfzigerin hat jemandem etwas getan?“

„Nein, aber ich will ihrem Mann eins auswischen!“

„Dann hätte es auch eine 25jährige sein können!“ hielt der Killer dagegen. Er war irritiert und verärgert. Wie hatte er an einen solchen Schwachkopf geraten können? Der Mann war inzwischen so laut geworden, dass er sich beeilen musste, eine Entscheidung herbeizuführen.

„Sie sind ja wohl völlig krank!“ brüllte der Dicke ungebremst.

„Geben sie mir mein Geld!“

„Ich gebe ihnen gar nichts! Sie Idiot! Wie können sie glauben, dass ich eine 25jährige gemeint habe? Ihr Mann ist Mitte 60, da ist doch klar, dass er keine 25jährige Frau hat. Wofür halten sie uns?“

Der Schalldämpfer unterdrückte den Knall. Trotzdem war er noch unangenehm laut. Der Killer schüttelte den Kopf, als er dem Toten den Umschlag mit dem Geld aus der Hand nahm. Ärgerlich war nur, dass er nun auch noch Frau und Kinder beseitigen musste.

Glaubwürdigkeit

„Du kennst Vinnie?“

Marco blickte von Tony, der die Frage gestellt hatte, zu Vinnie, einem schmalen Kerl mit Wieselgesicht.

„Sicher.“ sagte er. „Ich kenne Vinnie.“

Tony nickte zufrieden. Ein großer Mann mit dickem Bauch und Knollennase, gefährlichen Augen und einem grausamen Zug um den Mund. Seit sein Onkel Salvatore die Geschäfte an ihn übergeben hatte, war Tony Oberhaupt der Familie. Wer ihn sah, wusste warum.

„Habt ihr beiden nicht mal zusammen ein Ding gedreht?“

Marco nickte. „Vinnie ist ein guter Fahrer.“

„Vinnie ist ein guter Fahrer.“ wiederholte Tony nachdenklich.

Vinnie stand zwischen ihnen und wirkte sehr unglücklich. In sich zusammengesackt, das Gesicht gesenkt, nur hin und wieder einen Blick auf die beiden Männer stehlend, die über ihn sprachen, als sei er nicht im Raum.

„Weiß, wann er Gas geben muss, und wann man besser nicht auffällt.“ fügte Marco hinzu.

„Ah.“ sagte Tony, als erkläre das alles. Er strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln.

„Warum fragst du?“

 

Tony machte eine gleichgültige Geste, dann wies er auf einen Sessel, in dem Marco Platz nahm.

„Grappa?“

„Grappa.“

Tony nahm zwei Wassergläser, füllte sie zu einem Viertel mit Grappa und reichte Marco eines.

„Salut.“

Sie stießen an und leerten den Trester in einem Zug. Vinnie stand neben ihnen und beobachtete sie furchtsam. Marco wusste, was es bedeutete, nicht mit dem Don zu trinken.

„Was ist passiert?“ fragte er.

Tony stellte sein Glas auf den Schreibtisch.

„Vinnie hat es versaut!“.

„Was hat er versaut?“

„Er hat das Maul aufgerissen und in einer Kneipe mit einem großen Deal geprahlt.“ Tonys Stimme war kalt wie Stahl. „Er hat Orte verraten, er hat Namen genannt. Er hat die ganze Sache auffliegen lassen, weil er sich hat beobachten und belauschen lassen. Das hat uns eine Menge Geld gekostet und ein paar gute Leute in den Bau gebracht.“

„In einer Kneipe?“ fragte Marco.

„Ist das zu glauben?“

Marco schüttelte den Kopf. Für so dumm hatte er selbst Vinnie nicht gehalten.

„Was sagst du dazu, Vinnie?“ fragte Tony das Wiesel.

„Ich…“ stammelte der, überrascht, direkt angesprochen zu werden. „Ich…“

„Überleg dir genau, was du sagst.“ warnte Marco.

Tony warf ihm einen strafenden Blick zu, und Marco verstummte.

„Ich…“ begann Vinnie wieder, aber er war so aufgeregt, dass er keinen weiteren Ton herausbrachte.

„Komm her, Kleiner.“ sagte Tony, plötzlich wieder freundlich. Er trat einen Schritt auf Vinnie zu, der ihm ebenfalls einen zögernden Schritt entgegenkam, und legte ihm den linken Arm um die Schultern. Der schmächtige Kerl schien in der Pranke des Bären zu verschwinden. „Ich weiß, du bist aufgeregt.“

Vinnie nickte.

„Also atme tief durch und sag mir, was passiert ist.“

Vinnie warf Marco einen hilfesuchenden Blick zu.

Der erinnerte sich an seine eigene Anfangszeit. Er war ebenso aufgeregt gewesen, wenn Tony ihn etwas gefragt hatte, und er hatte mehr als einmal furchtsam gestammelt, aber er hatte seinen Weg in der Familie gemacht. Tony respektierte ihn. Aber er machte sich auch keine Illusionen: Tony war gefährlich – auch für ihn.

„Es war eigentlich gar nicht so schlimm.“ begann Vinnie vorsichtig. Sein Wieselblick sprang zwischen Tony und Marco hin und her. „Ich meine, ich kannte fast alle in der Kneipe. Und es war ein abgetrenntes Hinterzimmer. Ich wusste nicht, dass da auch Bullen reinkommen.“

„Du wusstest nicht, dass da auch Bullen reinkommen?“ unterbrach Marco ihn ungläubig.

Tony legte ihm die Rechte auf den Unterarm, und Marco schwieg.

„Ich meine, das ist doch eine Familienkneipe.“ jammerte Vinnie. „Man muss doch seiner Familie vertrauen können! Wie sollte ich wissen, dass keiner aufpasst? Und dass sie Bullen in das Hinterzimmer lassen?“

„Du hast Recht.“ sagte Tony versöhnlich und drückte Vinnie an sich. „Man muss der Familie vertrauen können.“

Vinnie atmete erleichtert aus, die Anspannung fiel von ihm ab, und Marco wusste, dass das Wiesel den großen Bären vollkommen falsch verstanden hatte. Die Klinge blitzte nur kurz auf, bevor sie bis zum Heft zwischen Vinnies Rippen verschwand. Vinnie versuchte erschrocken einzuatmen, sein Blick fiel auf den Griff des Messers, der aus seinem Brustkorb wuchs, dann gurgelte er einen letzten Atemzug, ein paar blutige Bläschen bildeten sich in seinem Mundwinkel, und er sackte in sich zusammen. Tony zog das Messer wieder aus dem Toten heraus, wischte es an dessen Hemd ab, und ließ den Leichnam achtlos zu Boden fallen.

„Tony.“ sagte Marco und betrachtete seinen Don vorwurfsvoll.

„Was?“

„Das war nicht nötig.“

Tony blickte auf das Wiesel, das reglos auf dem Boden lag. Sein Blut bildete langsam eine Pfütze. Marco hatte schon früh verstanden, warum in Tonys Arbeitszimmer kein Teppich lag.

„Der Junge hat es versaut.“ sagte er.

„Jeder versaut es mal.“ sagte Marco. „Ich habe früher auch ein paar Dinge versaut. Und mich hast du nicht abgestochen!“

„Er hat seine Glaubwürdigkeit verloren.“ erklärte Tony.

„Ein Anfängerfehler.“ gab Marco zu Bedenken.

„Ich meine doch nicht die Kneipe!“ Zwischen Tonys Augenbrauen erschien eine Falte, als er Marco musterte. „Der Bengel ist dumm! Da passiert so etwas schon mal. Das hat eine Menge Geld gekostet, und ein paar Jungs sind in den Bau gewandert. Nichts, was man nicht wieder geradebiegen kann. Du weißt, dass ich meine Jungs wieder raus hole, wenn das geht.“

„Ich weiß.“ stimmte Marco zu. Er wusste es aus eigener Erfahrung.

„Aber er hat es nicht eingesehen.“ fuhr Tony fort. „Er hat sich nicht hier hingestellt und gesagt: ‚Weißt du, Tony, ich habe Mist gebaut! Ich hätte aufpassen müssen, wem ich was erzähle! Ich hätte mir auf die Zunge beißen und das Maul halten müssen, aber das habe ich nicht getan. Ich habe Mist gebaut, und das tut mir leid!’“

„Das wäre nett gewesen.“ stimmte Marco zu.

„Stattdessen versucht er, mich für dumm zu verkaufen! Er hat gar nicht begriffen, dass er Mist gebaut hat. Er hat die Schuld bei anderen gesucht: Er hat es anderen vorgeworfen, dass Bullen in seiner Nähe waren, als er das Maul aufgerissen hat. Einem solchen Bengel kann ich nicht vertrauen!“

Er ging um den Tisch herum und ließ sich mit einem Seufzer in seinen Stuhl sinken. Er nahm den Hörer vom Telefon, wählte eine Nummer und wartete kurz. „Schickt jemanden, um den Müll abzuholen.“ sagte er dann und legte wieder auf.

„Vielleicht hätte der Junge es mit der Zeit begriffen.“ sagte Marco. Er betrachtete Vinnie mit leisem Bedauern. Der Bengel war nicht der Hellste gewesen, aber ein guter Fahrer... Vielleicht hätte er noch ein paar ordentliche Dinger drehen können.

„Wie soll ich einem solchen Kerl glauben?“ fragte Tony gereizt. „Ein solcher Typ wird immer versuchen, sich rauszureden. Nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Hat sein Leben lang versucht, den leichten Weg zu gehen, und wenn es hart kommt, lässt er andere den Kopf hinhalten. So einer ändert sich nicht!“

„Man kann nie wissen…“ warf Marco ein.

„Was willst du?“ rief Tony aufgebracht.

„Dein Onkel.“ sagte Marco. „Salvatore.“

Salvatores Weg war eine Familienlegende: In jungen Jahren unbedacht und nie um eine Ausrede verlegen, wenn es darum ging, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber er hatte sich gefangen. Und zwei Jahrzehnte war er ein respektiertes und gefürchtetes Oberhaupt der Familie gewesen.

„Oh.“ sagte Tony und kratzte sich nachdenklich über die Bartstoppeln.

Natascha

Als er die Tür öffnete war es längst zu spät. In wenigen Minuten würden sie kommen, um den „Boss“ zu warnen, aber dann hatte er getan, weswegen er gekommen war.

Der Mann hinter dem großen Schreibtisch sah auf, als er das dunkle Büro betrat und die Tür sanft hinter sich schloss. Ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Bauch, mit einem groben, pockennarbigen Gesicht in dem eine breite Nase über den wulstigen Lippen thronte, überschattet von buschigen, durch und durch ergrauten Augenbrauen. Die kleinen, dunklen Augen erinnerten an Schweineaugen. Ihr Blick war durchdringend und stechend. Ein hässlicher, grausamer Mann, den er nur als „Boss“ kannte.

Der „Boss“ erhob sich aus seinem Stuhl,.

„Der Bomber.“ sagte er mit tiefer, brummiger Stimme. Voll aufgerichtet war er massiv wie ein Bär, und trotz seiner mehr als 60 Jahre war er kräftig und beweglich. Er schüchterte andere durch seine bloße Anwesenheit ein. „Hans, der Bomber. Was machst du hier, Junge?“

Hans reagierte nicht auf den gereizten Ton. Er baute sich stumm auf der anderen Seite des Schreibtisches auf und fixierte den alten Mann. Mit 1,96 m und 115 kg trainierten Muskeln war er selbst eine beeindruckende Erscheinung.

„Du siehst schlimm aus, Junge.“ brummte der „Boss“ und betrachtete ihn aufmerksam. Die Schrammen und Blutergüsse, die noch von dem Unfall herrührten; das blaue, fast schwarze, Auge; der Verband um seinen Kopf. Sein Blick wanderte weiter über die Blutspritzer auf seiner Brust, hinab zu der Pistole mit Perlmuttgriff in seiner rechten Hand.

„Das ist doch die Knarre von Emil.“ sagte er. Sein Blick war wachsam, aber noch war keine Angst darin zu erkennen. „Hat er sie dir freiwillig gegeben?“ Ätzender Spott in der Stimme.

„Er braucht sie nicht mehr.“ antwortete Hans. Seine Stimme war rau. Er hatte Schwierigkeiten, die Worte zu formen. Schmerzen benebelten sein Gehirn, und er wurde schwächer. Er verlor Blut durch die Wunde in seinem rechten Bein.

„Was willst du damit?“

„Dich umlegen!“ Hans hob den Arm und richtete die Waffe auf den Kopf des alten Mannes.

„Du kommst hier nicht mehr raus, Bomber.“ sagte der leise, bedrohlich. „Wenn du jetzt abdrückst, sind meine Leute hier, bevor du durchatmen kannst. Lass uns reden.“

„Es gibt nichts zu reden.“ antwortete Hans dumpf.

Jenseits der Tür wurden Stimmen laut. Aufruhr im Haus. Also hatten sie Ludwig gefunden. Ihm blieben nur noch Sekunden.

„Du hast keine Zeit mehr, Junge. Sie sind gleich hier. Nimm die Knarre runter und lass uns reden. Dann schauen wir, was ich für dich tun kann. Wir haben uns doch immer gut verstanden.“ Seine Stimme hatte einen kumpelhaften Ton angenommen.

Du hast keine Zeit mehr.“ entgegnete Hans.

„Sie werden dich umlegen!“ drohte der „Boss“, als draußen Schritte laut wurden.

„Ich bin schon tot!“ sagte Hans kalt. „Das ist für meine Frau!“

„Deine Frau?“ fragte der „Boss“. Verwirrung erschien in seinem Blick; dann drückte Hans den Abzug und das Geschoss durchschlug den Kopf des alten Mannes. Verwirrung mischte sich mit Unglauben – dann brach sein Blick und er sackte in sich zusammen.

Noch bevor der leblose Körper zu Boden gefallen war, wurde die Tür aufgerissen.

Hans drehte sich um. Drei Männer standen ihm gegenüber, Pistolen im Anschlag.

„Boss!“ rief einer von ihnen.

Die anderen schossen.

Hans spürte Kugeln, die seinen Körper durchschlugen und brach zusammen. Er hatte seine Aufgabe erledigt. Es war in Ordnung. Seine Augen wurden schwer. Die drei Männer waren nur noch undeutliche Schemen.

Dann war es vorbei.

Heftiger Schmerz holte ihn zurück. Er schrie laut auf. Sein Körper brannte wie Feuer. Er wollte sich winden und konnte nicht, also schrie er noch einmal. Schmerzen, Panik! Er riss die Augen auf, presste die Lider aber sofort wieder zusammen, als helles Licht seinen Kopf durchstieß wie glühender Stahl.

„Wer hat dich geschickt?“ Die Stimme kam aus weiter Ferne, wie durch Watte.

Dann wieder unbeschreiblicher Schmerz, der seinen ganzen Körper mit heißem Licht anfüllte, und wieder schrie er laut auf. Er wollte ohnmächtig werden, wollte den Schmerz vergessen, aber es ging nicht. Er blieb in seinem Körper gefangen.

„Wer hat dich geschickt?“ wiederholte die Stimme. Näher. Ganz nah. Sie zischte ihm ins Ohr.

Wieder öffnete Hans die Augen, und diesmal gelang es ihm, sie offen zu halten. Er sah undeutliche Schemen. Nach und nach wurden diese Schemen fester und gewannen Konturen. Formen bildeten sich, Unterschiede zwischen hell und dunkel wurden deutlicher, bis er sah, wo er sich befand.

Ein kahler Raum mit Betonwänden; vielleicht ein Kellerraum, damit niemand seine Schreie hörte. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und erfüllte den Raum mit unerbärmlicher Helligkeit. Neben ihm, auf einem kleinen Tisch, ein Kasten mit mehreren Reglern, von dem Kabel abgingen und an seinen Armen, seinen Beinen, seiner Brust endeten.

„Warum hast du den Boss umgelegt?“

Ein sehniger Kerl stand vor ihm, die Hände auf seinen Unterarmen abgestützt, das hässliche Rattengesicht vor ihm. Er schnaubte ihm seinen stinkenden Atem ins Gesicht. Das war die Stimme, die ihn aus der Dunkelheit zurückgeholt hatte.

„Und Ludwig?“

„Nicht nur die beiden.“ knurrte Hans. Sein Hals brannte und seine Lippen brachen auf, als sie die leisen Worte formten. Er schmeckte den metallischen Geschmack seines eigenen Blutes. Aber er genoss den kurzen Ausdruck des Erschreckens auf dem Rattengesicht.

„Du willst spielen? Kannst du haben.“ Der Kerl griff zur Seite und drehte an einem der Regler.

Das Licht an der Decke flackerte.

Hans wurde wieder von einer gleißenden Explosion von innen heraus in Stücke gerissen, und er schrie und schrie…

Richie hatte er als erstes erwischt. Im Dunkeln hatte Hans vor seinem Haus gewartet. Die Adresse hatte er aus Emil herausgeprügelt.

 

Als er die schmächtige Gestalt aus einem Auto hatte steigen sehen, das nur wenige Meter vom Hauseingang entfernt Halt gemacht hatte, hatte er sich noch tiefer in die Dunkelheit zwischen den Mülltonnen geduckt. Richie wohnte in einem Mehrfamilienhaus in einer heruntergekommenen Gegend. Eine ganze Batterie von Müllcontainern bot ausgezeichnetes Versteck.

Pfeifend ging Richie zu einer Haustür und schloss auf.

Hans spürte Hass in sich aufsteigen und begrüßte ihn wie einen guten Bekannten. Ein Gefühl in der Wüste seines Inneren.

Bevor die Tür ins Schloss gefallen war, hatte Hans sie mit leisen Schritten erreicht und hielt sie offen. Er lauschte den Schritten des anderen, die sich pfeifend über die Treppe nach oben entfernten. Er schlüpfte durch den offenen Spalt und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Ein vernehmliches Klicken hallte durch das Treppenhaus.

Das Pfeifen verstummte für einen kurzen Augenblick, setzte aber wieder ein.

Auf leisen Sohlen lief Hans zur Treppe und stieg sie angespannt empor.

Richie wohnte im dritten Stock, und er hörte, wie ein Schlüssel in ein Schloss geschoben wurde. Richie schloss auf, betrat die Wohnung und warf die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Das Pfeifen war verstummt.

Hans lief die Treppe hinauf. Emils Pistole steckte in seinem Gürtel, das Metall drückte kalt gegen seinen Bauch. Er hatte noch keinen Schuss daraus abgefeuert.

Dann stand er vor Richies Tür. Hinter dem dünnen Holz konnte er hören, dass der Mann noch immer pfiff.

Er klopfte.

Das Pfeifen verstummte; Schritte näherten sich, und der Lichtschimmer im Türspion verdunkelte sich. Hans wartete mit pochendem Herzen.

Auf der anderen Seite wurde die Kette vorgelegt, die Tür öffnete sich einen Spalt, und Richies junges Gesicht tauchte vor ihm auf. Die blonden Haare standen unordentlich in alle Richtungen, die blauen Augen schauten misstrauisch.

„Bomber?“

„Überrascht?“ fragte Hans knurrend, nahm einen Schritt Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Mit der Fußsohle traf er sie direkt unterhalb des Türknaufs. Die Kette wurde mit einem lauten Krach aus der Wand gerissen und die Tür schlug Richie gegen die Brust. Der schmächtige Mann wurde nach hinten geschleudert, die Tür knallte gegen die Wand des Flurs.

Mit zwei Schritten stand Hans über dem erschrockenen Mann, packte ihn am Kragen und drückte ihm die Pistolenmündung aufs linke Auge.

„Bomber…“ keuchte Richie erschrocken. „Was…“

„Das ist für Natascha!“ knurrte Hans und drückte den Abzug. Der Knall war ohrenbetäubend. Im Lichtblitz des Mündungsfeuers leuchtete Richies Kopf von innen her auf, bevor der Schädel barst und Blut, Knochen und Gehirn herausspritzten.

Benommen blieb Hans einen Moment über den Leichnam gebeugt. Dann raffte er sich auf, streckte sich, wischte sich Blut und anderes aus dem Gesicht und verließ die Wohnung.

Er lief durch das Treppenhaus hinunter.

Im ersten Stock öffnete sich eine Tür, als er gerade an ihr vorbeilaufen wollte, und eine alte Frau streckte den Kopf heraus. Die anderen Nachbarn waren klug genug gewesen, sich nicht zu rühren, aber die Alte sah ihm direkt ins Gesicht und wurde bleich. Sie würde ihn identifizieren können!

Hans hob die Waffe und zielte auf ihr Gesicht.

Die Frau schien unfähig, sich zu bewegen.

Hans rang mit sich, sein Finger krümmte sich… und entspannte sich wieder. Er senkte die Pistole. Er war kein Killer; er tat nur, was getan werden musste.

„Verschwinden sie!“ zischte er. „Vergessen sie, was sie gesehen haben!“

Die Alte nickte benommen und schloss die Tür.

Hans sprang die letzten Stufen hinab und rannte aus dem Haus.

Es hatte zu regnen begonnen. Zuerst hatte es nur ein bisschen getröpfelt, aber dann war der Regen stärker geworden und hatte sich schließlich zu einem regelrechten Wolkenbruch entwickelt. In wenigen Sekunden war Hans vollkommen durchnässt. Die Luft war kalt, und er zitterte.

Er lief so schnell er konnte, um seinen Körper warm zu halten, aber die Folgen des Unfalls machten ihm zu schaffen. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden; jeder Knochen, jedes Gelenk, jeder Muskel bereitete ihm Schmerzen; sein Kopf schien zerspringen zu wollen.

Die Hände an die Schläfen gepresst, lief er weiter. Er wollte sich hinlegen und die Augen schließen. Er wollte sich lang ausstrecken, einschlafen und nie wieder aufwachen. Sein Körper wollte so tot sein wie sein Herz und seine Seele es schon waren. Nur der Gedanke an Natascha trieb ihn voran. Er konnte ihr nicht mehr helfen. Er konnte sie nur rächen.

Er lief weiter, und der Regen spülte Richies Überreste von ihm ab.

Wie lange er gelaufen war, wusste er nicht. Aber als er an der Villa angelangte, in der Ludwig und der „Boss“ ihre Büros hatten, als wären sie gewöhnliche Geschäftsleute, hatte es schon wieder aufgehört zu regnen. Er hatte fast die ganze Stadt durchquert. Es mussten Stunden vergangen sein, was bedeutete, dass die Polizei sie schon von Richies Tod unterrichtet hatte. Der „Boss“ hatte seine Finger überall drin.

An allen Ecken des Gebäudes sah er Kameras, und mit Sicherheit gab es eine Alarmanlage. Heimlich einzudringen war nicht möglich; er musste den direkten Weg wählen.

Er stellte sich vor die Haustür und klingelte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

Die Tür öffnete sich und ein großer, grobschlächtiger Kerl in Anzughose und Hemd stand mit aufgekrempelten Ärmeln vor ihm. In einem Schulterholster trug er eine Waffe: einer der Leibwächter.

„Bomber.“ sagte der Kerl überrascht, als er Hans erkannte.

„Ist Ludwig da?“ fragte Hans heiser. Im hellen Lichtschein des Hausflurs war Richies Blut noch immer zu erkennen; aber der Leibwächter schien das nicht zu bemerken.

„Sicher…“ antwortete der Kerl langsam. „Hör mal, das mit deiner Frau ist echt ’ne Schande. War ein nettes Mädel. Den Jungs und mir hat es wirklich leid getan, weißt du?“

„Kann ich mit ihm sprechen?“ unterbrach Hans ihn. Er musste sich zusammenreißen, dem Kerl nicht an die Gurgel zu springen.

„Du weißt, dass du hier nur rein darfst, wenn er dich herbestellt hat. Und das hat er nicht getan!“ Noch immer schwang eine Spur Mitgefühl in seiner Stimme mit. Aber die Worte klangen endgültig.

„Es ist wichtig! Ich muss zu Ludwig!“

Hans trat einen Schritt nach vorne.

„Ich kann fragen.“ sagte der Leibwächter zögernd. Zum ersten Mal schien er zu bemerken, in welchem Zustand Hans vor ihm stand. „Mann, siehst du Scheiße aus. Ich… he, tut mir leid, war nicht so gemeint. Ich kann mal nachsehen, ob Ludwig ’nen Moment Zeit hat.“

Unwillkürlich hatte er bei diesen Worten nach hinten geschaut. Das war die Gelegenheit, auf die Hans gewartet hatte: wie ein wütender Bulle stürmte er nach vorne. Der Leibwächter bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel und warf sich zur Seite, die rechte Hand schon am Griff der Pistole, um sie aus dem Holster zu ziehen. Seine Reflexe waren sehr gut, und er war schnell. Aber Hans war schneller. Seine rechte Faust traf den Mann wie ein Vorschlaghammer an der Schläfe, und der Kerl stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Hans schloss eilig die Tür hinter sich und schob den bewusstlosen Körper zur Seite. Es war ihm gleichgültig, ob er den Mann verletzt hatte oder nicht. Solange er nur ein paar Minuten ohne Bewusstsein blieb, reichte es aus. Er hatte nicht vor, das Haus wieder zu verlassen. Ohne Natascha gab es nichts, für das es sich zu leben lohnte.

Mit dem Knauf der Pistole schlug er dem Mann noch einmal kräftig gegen die Schläfe. Dann schaltete er das Licht aus und lief gebückt und auf leisen Sohlen durch den Eingangsbereich. Er kannte den Weg, seit er voriges Jahr einmal zum „Boss“ eingeladen worden war. Ludwig hatte ihn zunächst in einem Büro empfangen und ihn dann in das Büro seines Chefs geführt.

Hans schlich lautlos wie ein Schatten durch die Räume. Er begegnete niemandem, und nach wenigen Minuten stand er vor Ludwigs Büro. Unter der Tür schimmerte ein dünner Lichtstreifen. Auf der anderen Seite war alles still. Er legte das Ohr ans Holz der Tür und lauschte, aber noch immer war kein Ton zu hören.