Opak

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Commander Carlssen verbiss sich in kommentarlose Pflichterfüllung, die den Gedanken an ein Scheitern der Exploration gar nicht erst aufkommen ließ und sich jegliche Spekulationen versagte, solange das Instrumentarium der Dorset noch nicht bis zum letzten Fernaufklärer ausgeschöpft war. Und selbst Theresa hatte ihre alerte Unbekümmertheit eingebüßt. Die zerstreute Beflissenheit, in der sie allen dienstlichen Anforderungen nachkam, ließ einen Untergrund von Haltlosigkeit und tief sitzender Irritation erkennen. Sie vermied alle privaten Kontakte und Gespräche und entzog sich selbst dem Commander, der seinerseits keine Sehnsucht nach ihrer Gegenwart bekundete; oft sah man sie allein, mit angezogenen Beinen auf einem der Schwenksessel der Messe hocken und über eng umschlungene Knie hinweg das ungreifbare Mysterium anbrüten, das jenseits der Panoramafenster unbeeindruckt seine Bahn entlangschwieg.

Am vierten Tag nach dem Andocken, wie das Längsseitsgehen im Jargon der Crew genannt wurde, berief Commander Carlssen die Mannschaft zu einer Konferenz in die Messe. Der sofortige Heimflug, wie er von Groenewold und Gus ungefragt vorgeschlagen wurde, stand von vornherein nicht zur Diskussion, zumal die für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Stellen auf Luna III sich allmählich nicht mehr mit präzise formulierten Vagheiten und spektakulären Bildern von davonfauchenden Robotdrohnen abspeisen ließen, die inhaltlich genauso wenig besagten. Dennoch war das wissenschaftliche Repertoire des Explorers weitgehend ausgeschöpft, ohne dass auch nur ein einzelnes Byte verwendbarer Information hätte gewonnen werden können. Das Opak modifizierte zum Beispiel das sichtbare Licht der Hintergrundsterne, das hatten sie selbst mit bloßen Augen gesehen; aber es war bei aller Spitzfindigkeit der instrumentellen Anordnungen nicht herauszubekommen gewesen, wie oder wodurch die Lichtstrahlen beeinflusst wurden, geschweige denn wovon. Die einzige Halbherzigkeit, die der Commander seiner Crew vorschlagen konnte, war daher, abzuwarten und die laufenden Observationen über längere Zeiträume zu verfolgen, um vielleicht doch noch den Ansatz einer Antwort zu erhaschen. Gus verkündete, sich umgehend aufs Schlafdeck zu verfügen, wenn diese Drohung wahr gemacht werden sollte. Groenewold begann, schüchtern vor sich hin zu schniefen. Silesio erhob sich mit der Würde eines Nestors und erklärte weitschweifig, er könne noch Monate damit verbringen, einer philosophischen Theorie des Opak nachzusinnen, wie er überhaupt zu der Auffassung gelangt sei, eine meditativ-kontemplative Herangehensweise sei dem Phänomen angemessener als eine positivistische. Freilich gab er zu, dass er nur aus persönlicher Langmut heraus argumentieren könne, womit organisatorisch wenig anzufangen war. Schweigen kondensierte unter dem bläulichen Halogenlicht.

»Ich gehe raus.« Theresa setzte ihr lapidarstes Gesicht auf und zog die Handschuhe an.

»Ich würde es dir verbieten, wenn ich damit rechnen würde, dass irgendetwas passiert. Da ich davon ausgehe, dass überhaupt nichts geschieht, weise ich dich auf die völlige Sinnlosigkeit eines derartigen Unterfangens hin.« Commander Carlssen war nach der mehrstündigen Verhandlung mit den lunarischen Bürokraten zu erschöpft, um seinen Protest weiter auszuführen. »Mach wenigstens eine gute Figur, damit wir den Heinis auf Luna III ein paar schöne Bilder faxen können.«

»Hab ich schon jemals keine gute Figur gemacht?« Die Erste Offizierin verstaute ihr Haar in einem flüchtigen Knoten und nahm den Helm aus der Halterung.

»Wie willst du es machen?« Gus assistierte ihr, als sie das verspiegelte Visier verschraubte, und überprüfte die Selbsttests des Atemgerätes, das rasselnd zu arbeiten begann.

»Ich nehme eine von den EVAs und gehe bis auf ein paar Meter ran.« Man hörte ihre Stimme jetzt über die Lautsprecher der Automatik. »Dann steig ich aus und lass mich vom kleinen Greifarm rübersetzen.«

»Behalt auf alle Fälle die Nabelschnur an.« Der Bordingenieur zeigte ihr noch einmal den Stutzen an der Hüfte, wo sie sich in die externe Versorgung einklinken konnte.

»Und dann?«

»Dann werde ich Kontakt aufnehmen.«

»Bestell auch schöne Grüße.« Carlssen verließ die Schleuse des Drohnendecks, um von der Brücke aus ihren Spaziergang zu überwachen.

»Pass auf dich auf.« Gus half ihr beim Besteigen des kleinen Einmannshuttles und wartete, bis die Luke eingerastet war.

»Solch zärtliche Anwandlungen aus deinem Munde?« Sie klang jetzt weiter entfernt, als spreche sie durch ein langes dunkles Rohr. Gus sah durch das Bullauge zu, wie sie die Armaturen der EVA prüfte.

»Wir sind trotzdem ein Team.« Er aktivierte den Schwenkarm, der das halbautomatische Fahrzeug in den Schacht hinüberhievte. »Alles klar zum Ausklinken?«

»Roger. Schieß mich raus!«

Gus stand hinter dem Kontrollfeld, bis das Schleusenschott geschlossen war. Dann berührte er die grüne Schaltfläche auf der Hauptkonsole. Silbriger Rauch platzte auf, als die Düsen das Shuttle in den Raum hinausstießen. Er übergab an die Selbststeuerung und verfolgte, wie Theresa das Triebwerk zündete. Sie rollte über die Dorset hinweg und nahm Kurs auf das selbstgenügsame Flimmern des Opak.

»Okay, ich bin jetzt wohl direkt dran. Silesio, wie bewegt es sich zurzeit?«

»Es hat eine Phase stärkerer Aktivität hinter sich und scheint sich gerade zu beruhigen. Gegenwärtig ganz langsame Kontraktion von weniger als einem Meter pro Minute. Du bist jetzt etwa fünf Meter von der Außenhülle entfernt.« Der Chefprogrammierer ließ die Automatik online mit dem Shuttle gehen, das auf einer Nachführbewegung auf konstantem Abstand zu dem unsichtbaren Objekt gehalten wurde. »Du kannst jetzt aussteigen.«

»Mach keinen Blödsinn da draußen.« Carlssen hatte sich hinter Silesios Sessel aufgebaut und verfolgte, abwechselnd auf den Schirmen und an den Panoramascheiben, Theresas Manöver.

»Ich entsichere die Luke, aktiviere die externe Versorgung via Nabelschnur.« Theresa kommentierte jede ihrer behutsamen Aktionen. »Jetzt bin ich draußen; könnt ihr mich sehen?«

Auf den Videomonitoren, deren Bilder ungeschnitten nach Luna III überspielt wurden, sah man die silberweiße und ungewohnt pummelige Gestalt, wie sie maskenhaft in die Kameras winkte. Mit bloßem Auge wirkte das winzige Menschlein, das auf dem Rücken der bewegungslosen EVA entlangkrabbelte, unendlich verloren vor dem Hintergrund des schwarzen Sternenhimmels.

»Ich bin am Kran und klinke den Sicherungskarabiner ein. Alle Systeme arbeiten einwandfrei. Jetzt fahre ich den Arm aus. Ein Meter, zwei …«

Die beiden Männer auf der Brücke sahen zu, wie Theresa von der armdicken Gitterkonstruktion emporgehoben und dem nackten Nichts entgegengefahren wurde.

»Fünf Meter. Dann bin ich jetzt also direkt dran.«

»Was siehst du?« Groenewold, die sich auf dem Sanitätsdeck einen Tranquilizer besorgt hatte, kam ins Cockpit zurück und setzte sich auf den seitlichen Platz der Kommandobrücke.

»Eigentlich – natürlich – gar nichts.«

»Was hattest du erwartet?« Carlssens Geduldsfaden schien sich dem Ende zu nähern, gleich würde er sein Kind vom Spielen zurück ins Haus rufen.

»Wie bei einem ganz normalen Weltraumspaziergang.«

»Versuch, durch es hindurchzusehen.« Silesio hatte die stoische Gelassenheit der letzten Tage abgelegt. »Siehst du das gleiche Flimmern wie von hier aus?« Der Chefprogrammierer klang, als wäre er am liebsten selbst dort draußen.

»Ich … ich weiß nicht.« Die wacklige Gestalt auf den Monitoren drehte sich herum und bot eine melancholische Rückenansicht à la Caspar David Friedrich. Man stellte sich unwillkürlich vor, dass sie die Augen mit der flachen Hand beschattete und den Horizont einer dampfenden Prärie absuchte.

»Ich … Das ist … Oh …«

»Was ist los?«

»Ich sehe etwas.«

»Was ist es?«

»Mein Gott!«

»Theresa, bist du in Ordnung?«

»Wie?«

»Theresa!«

»Ich bin … Es geht mir gut.«

»Was hast du gesehen?«

»Ich sehe es immer noch. Es ist … Ich kann es unmöglich beschreiben.«

»Versuch es!«

»Oh … Es ist so …«

»Hast du keine Handkamera dabei?« Silesio betätigte den Zoom der Außensensoren, aber da war nichts. Nur die spiegelnde Figur der einsamen Astronautin, die verliebt vor sich in den leeren Raum hinausgestikulierte.

»Ich sehe etwas und sehe doch nichts. Ich habe … Eindrücke und kann sie nicht in Worte fassen. Es ist … wie ein Traum … oder wie die Erinnerung an einen Traum. Alles ist plastisch und konkret – und doch kann ich es nicht beschreiben. Ich sehe … Strukturen. Ich bin an seiner Oberfläche. Es sind … Mein Gott! Alles, was ich sage, sind Metaphern und schlechte Umschreibungen. Narben, Noppen, Kassetten. Es ist untergliedert. Schwarz natürlich und völlig … ja: opak. Dunkel und konturlos und meistens sieht man die Sterne hindurch. Aber doch wie Schuppen eines Fisches oder Panzerungen eines Reptils vielleicht, gleichförmige Platten.«

»Wie groß sind die Einzelsegmente?«

»Keine Ahnung. Ich habe keine Vorstellung von den Dimensionen. Mir fehlt irgendein Anhaltspunkt.«

»Es scheint unmittelbar vor dir zu sein.«

»Du meinst, ich könnte es berühren?«

»Theresa, sei vorsichtig!«

»Ich strecke jetzt die Hand aus.«

»Es bietet natürlich keinen Tastwiderstand.«

»Ich scheine in es einzudringen.«

»Pass bloß auf.«

»Verdecken diese Strukturen deine Hand oder werden sie von ihr überdeckt?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen. Also wenn ich unmittelbar dran bin, sind diese einzelnen … Fächer etwa einen halben Meter, vielleicht, oder doch eher zwei bis drei. Nein, es ist unmöglich.« Sie verstummte. Ein fremdartiges Schluchzen kratzte an den Lautsprechern.

 

»Theresa! Bist du in Ordnung?« Carlssen war weiß wie eine überdehnte Sehne.

Nur würgendes Röcheln.

»Silesio, hol sie da raus!« Der Commander wies auf das Pult, von dem aus die EVA ferngesteuert werden konnte.

»Nein, wartet!«

Ein Schniefen tropfte aus der knisternden Akustik.

»Theresa! Was ist denn los? Sollen wir den Kran zurückfahren.«

»Nein, es geht mir gut. An so was haben die Anzugkonstrukteure wieder nicht gedacht.«

»Ist dir schlecht? Hast du dich übergeben?«

Evchen klang besorgt.

»Ich bin … okay …«

»Sie weint.« Silesio zog langsam die Hand zurück, die über dem Notfallschalter des Bedienpultes schwebte.

»Ihr könnt euch das einfach nicht vorstellen.« Die Erste Offizierin hatte sich gefasst. »Ich war noch nie in meinem Leben so verwirrt. Höchstens als ich zum ersten Mal meine Tage hatte; aber das könnt ihr zwei euch ja auch nicht vorstellen. Ich lege meine Hand auf diese Oberfläche, spüre natürlich nichts. Kein Widerstand. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich es berührt habe oder ob ich sogar durch die … Membran hindurchgestoßen bin. Aber meine Hand ist ganz warm – und diese Muster.« Sie schluckte wieder. »Es ist so … wunderschön.«

»Theresa, es ist, glaube ich, besser, du kommst jetzt zurück.«

»Lass sie doch. Vielleicht ist da tatsächlich so etwas wie eine Reaktion.« Silesio glotzte sich die Augen an den Videomonitoren wund, die nichts als Theresas stumme Pantomime zeigten.

»Und wenn es irgendwelche Strahlen aussendet?«

»Die hätten wir längst auf den Anzeigen und bis aufs letzte Hertz analysiert.«

»Trotzdem. Theresa, hast du gehört?«

»Ich könnte ewig hier sein und es betrachten. Es ist …«

Plötzlich schrie sie und die Übertragung knarrte einen Augenblick, bis die Automatik die Verstärkung herunterregelte.

»Es ist weg!«

»Es ist zurückgewichen.« Silesio glitt mit gleichmütigen Händen über seine Anzeigen. »Es hat die Kontraktion impulsiv beschleunigt und sich auf ein neues Minimum begeben. Es ist von dir aus fünfzig Meter zurückgeschnellt.«

»Aber so plötzlich. Ich muss wieder näher dran. Silesio!«

»Ich glaube, du kommst besser zurück.« Carlssen hatte eindeutigen Befehlston in der Stimme.

»Könnt ihr die EVA steuern oder muss ich erst wieder einsteigen?«

»Komm da weg, es will dich hinter sich herlocken.« Groenewold ließ die Instrumente nicht aus den Augen .

»Ich will es noch einmal sehen.«

»Offizierin der EVA, ich befehle Ihnen, an Bord der Dorset zurückzukehren!«

»Wie ein Traum, den man vergessen hat und der abstrakt und verworren war.« Theresa lag auf ihrem Lieblingssessel in der Messe der Dorset, den sie in die Waagerechte zurückgefahren hatte. Sie hielt die Augen geschlossen; ab und zu nippte sie an einem Cognac. »Hauchfeine Linien, die diese obsidianschwarze Oberfläche strukturierten. Eigentlich bildeten sie sie zugleich, denn außer den Linien war ja nichts zu sehen. Keine Reflexe, keine materielle Beschaffenheit. Nur diese Muster, die sich – so kam es mir vor – zu regelmäßigen Gebilden zusammenschlossen.«

»Keine der Kameras oder der sonstigen Instrumente hat irgendetwas registriert.«

»Ihr wollt mir einreden, dass ich halluziniert hätte.«

»Soweit wir wissen, bist du geistig und körperlich vollkommen …«

»Danke!«

»… gesund.«

»Warum ist es zurückgewichen?«

»Es hat sich vollkommen im Rahmen der bisherigen Fluktuationen verhalten.« Silesio war das Bedauern darüber anzuhören, dass er sämtlichen Spekulationen das Wasser abgraben musste. »Weder die Heftigkeit der Positionsänderung noch die Tiefe der Kontraktion gehen über das bisherige Maß an Oszillationen hinaus. Wir hatten zwei Minima, die noch um einige Meter hinter deinem Ereignis zurücklagen, und mehrere spontane Kontraktionen, die noch ruckartiger waren. Von mathematischer Seite lässt sich keine Handlung, die als Reaktion zu interpretieren wäre, erkennen.«

»Aber ich spürte etwas. Zumindest eine starke Wärme in der rechten Hand.«

»Groenewold hat dir Gewebeproben entnommen und deinen Arm kernspintomografiert. Nichts deutet auf externe Energieeinwirkung hin. Immerhin müsste sie stark genug gewesen sein, um deinen Schutzanzug zu durchdringen, dessen Sensoren im Übrigen auch nichts erfasst haben.«

»Also bin ich wohl einfach plemplem!«

»Ich vermute einen Effekt nach Art des autogenen Trainings. Durch die extreme Konzentration, die du im Augenblick der vermeintlichen Berührung auf die Hand bündeltest, erzeugtest du eine verstärkte Durchblutung und damit Wärmeempfindung. Tibetische Mönche haben auf diese Weise nasse Tücher getrocknet, die man ihnen in eisigen Winternächten über die nackten Körper breitete.«

»Dann muss ich eben noch mal raus. Oder am besten, wir gehen zu mehreren.«

Die nächsten Tage vergingen ereignislos. Commander Carlssen rieb sich in unendlichen Verhandlungen mit Luna auf, die nicht nur ergebnislos verliefen, sondern bei denen auch kaum festzustehen schien, worum man sich überhaupt stritt. Silesio äußerte, als der Commander nach einer zwölfstündigen Marathonsitzung völlig entnervt auf die Brücke wankte, den Verdacht, das Opak könne seine Umgebung doch beeinflussen, zumindest erscheine ihm das Verhalten Carlssens und der Behörden, mit denen er im Clinch lag, allmählich genauso undurchsichtig und opak wie das unerklärliche Objekt, das die Unannehmlichkeiten ausgelöst hatte, einen Kilometer neben unserem Schiff. Sie blieben weiterhin längsseits und setzten die robotische Überwachung des fremdartigen Phänomens fort. Theresas Gequengel, dass sie – allein oder in Begleitung – einen weiteren Weltraumspaziergang unternehmen wolle, ging den anderen auf die Nerven und selbst Gus protestierte kaum noch, sondern trottete ergeben aufs Drohnendeck, wenn Carlssen ihn eine weitere Routine durchführen oder eine neue Sonde fertig machen schickte. Auch seine ätzende Negativität erlahmte und fast hätte uns seine neuartige Gleichgültigkeit unheimlich sein sollen. Sie klinkten noch einen Spezialsatelliten aus, der sich exakt im Inneren des wolkigen Objekts positionierte. Aber außer einer geringfügigen Verschlechterung des Funkverkehrs, die in etwa der Abschirmung der Lambda-III-Module entsprach, die sie auf der anderen Seite des Opak in Stellung gebracht hatten, ergab auch diese Maßnahme keine Resultate. Terabyte um Terabyte an leeren Daten, sinnlosen Informationen wurden in die Speicher der Dorset geladen. Messungen und Überwachungen, die sich in nichts von denen unterschieden, die sie registriert hätten, wenn sie einen x-beliebigen Quadranten leeren Raumes untersucht hätten. Zwei Wochen nach dem Rendezvous drohte sich ein Lagerkoller auszubreiten. Eine dumpfe, verstockte Schweigsamkeit beherrschte die Crew, die nur noch zu einzelnen gereizten Wutausbrüchen ihr schwerfälliges Brüten unterbrach. Selbst die alltäglichen Manöver und Kontrollen wurden wortlos oder unter aggressivem Genuschel durchgeführt. Und dann geschah es.

»Kommt schnell, so kommt doch! Warum hört mich denn niemand?«

Die Alarmanlage schrillte elektrisch, aber sie war nicht von Durchsagen der Automatik begleitet. Jemand musste sie manuell betätigt haben.

»Wo bleibt ihr denn? Theresa! Commander! Oh mein Gott!« Groenewold rannte über den Gang des Wohntraktes, in dem sich eben die ersten Türen öffneten. Sie trug nur einen fleischfarbenen BH und eine Stretchhose, in der sie anscheinend zu schlafen pflegte. Ihre Augen waren rot und ließen vermuten, dass sie sonst Kontaktlinsen benutzte. »Er dreht durch! Wir müssen ihn sofort zurückholen.«

Carlssen stürzte aus Theresas Kabine und lief, ohne seine Zweite Offizierin eines Wortes für würdig zu erachten, auf die Brücke hinaus.

»Automatik: Meldung!«

Seit ein paar Tagen war der Schichtbetrieb gelockert worden, sodass das Cockpit während der Nacht unbesetzt blieb, und natürlich passierte es kurz nach Mitternacht.

»Schadensmeldung und Selbstkontrolle! Aus welchem Grund wurde der Alarm aktiviert?«

»Ich war das.« Groenewold hatte den Commander eingeholt und betrat neben Theresa die Brücke.

»Was ist los? Ich habe keine Fehlermeldung?«

»Gus! Er ist auf dem Drohnendeck!«

»Als Bordingenieur ist das sein gutes Recht. Der Zeitpunkt ist allerdings etwas exzentrisch gewählt.« Carlssen ließ einen Monitor aufflammen und auf die Innenkamera des Drohnendecks gehen. Dort war nichts zu sehen.

»Automatisches Schott VII im Bereich des Shuttledecks geschlossen«, quäkte die Automatik. »Ein Mann mit A-13-Tornister bereit zum Ausstieg.«

»Er hat gesagt, er will das Ding fertigmachen.« Evchenwarf den anderen einen unguten Blick zu.

»Da ist er. Gus!« Carlssen hatte den Techniker im äußeren Bereich jenseits der Luftschleuse entdeckt. Er trug einen Raumanzug und einen düsengetriebenen Tornister, mit dem er sich frei außerhalb des Schiffes bewegen konnte.

»Gus, was machst du da?«

Die Gestalt auf dem Monitor reagierte nicht, sondern strebte entschlossen dem hinteren Schacht zu, der für personelle Ausstiege ohne Fahrzeuge vorgesehen war.

»Gus! Mach sofort Meldung!«

»Er hat seine Kommunikationsautomatik abgeschaltet; er kann uns weder hören noch mit uns sprechen.« Theresa versuchte, das Programm zu aktivieren, das in Notfällen den Kontakt zu handlungsunfähigen Astronauten ermöglichte. »Er hat den Empfänger manipuliert. Ich kann seine Blockade nicht durchbrechen.«

»Er wird sich etwas antun!« Groenewold hatte sich an Silesio gehängt, der als Letzter die Brücke betrat und mühsam versuchte, die Situation zu erfassen.

»Verdammt noch mal, was hat er vor?« Carlssen verfolgte, wie Gus schwerfällig den Schacht erkletterte. Er hatte einen armlangen Gegenstand dabei, den er jetzt an einer Schnalle seines Anzugs befestigte.

»Er blockiert die Kommunikation.« Theresa warf einen illusionslosen Blick zu Silesio hinüber, der sich an der Automatik zu schaffen machte.

»Aber er steht in Kontakt mit dem Hauptcomputer.« Silesio hatte die Benutzeroberfläche verlassen und betrachtete interessiert die kilometerlangen Directorys, die auf seinem schwarzen Schirm herunterratterten.

»Was macht er jetzt?« Groenewold beugte sich über Theresa. Die Erste Offizierin schaltete auf die Außenkameras um, die die Backbordansicht der Dorset zeigten. Die Luke des hinteren Schachtes wurde geöffnet. Gus stieß sich hinaus und schwebte einige Meter vom Schiff weg. Dann zündete er das Triebwerk auf seinem Rücken und beschleunigte rasch in einer weiten Kurve.

»Er will zum Opak!« Theresas Stimme hatte den hysterischen Klang einer Mutter, die um ihr Kind fürchtet.

»Sonst ist ja auch nicht sehr viel los hier draußen.« Carlssen fügte sich in sein Schicksal der Untätigkeit und sah harmlos zu, wie Silesio sich durch die virtuellen Innereien der zentralen Automatik wühlte.

»Um Himmels willen, es wird etwas Schreckliches geschehen!« Groenewold plumpste auf einen freien Sessel und starrte ergeben vor sich hin.

»Er ist in Kontakt mit dem Bordcomputer.« Silesio sprach leise durch die konzentrierten Zähne. »Er lässt sich permanent irgendetwas überspielen.«

»Er ist fast da.« Theresa hatte Gus auf seiner zielbewussten Flugbahn mit dem Zoom der Außenkamera verfolgt.

»Was hat er da bei sich?«

»Geh mal näher ran.«

»Dieses Ding da, oberhalb seiner rechten Hüfte.«

»Er wird es attackieren und es wird ihn verschlingen.«

»Da ist nichts, Groenewold, was er attackieren könnte. Geh noch dichter dran!«

»Siehst du es, dieses lange schwarze … Scheiße!«

»Er hat den Kilowattlaser! Automatik: Backbordabschirmung auf höchste Leistung. Wenn er mit dem Ding herumfuchtelt, macht er uns hässliche Löcher in die Außenhaut.«

»Vielleicht kann ich seine Blockade überlagern.« Silesio grub sich ungerührt in den Softwaresalat ein. Auf den Monitoren hatte Gus seinen Antrieb gedrosselt und leicht gegengesteuert. Er bremste ab und löste den schwarzen Zylinder von seinem Hüftgurt.

»Er will es pulverisieren, der Idiot!«

»Theresa, ich vermute, bis du mit dem Shuttle draußen bist, ist es zu spät. Können wir eine Drohne an ihn heransteuern, dass sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gibt?«

»Momang.«

»Jetzt!« Silesio klang freudig erregt. »Er ist raffinierter, als ich dachte. Er lässt sich die aktuellen Erfassungsdaten auf das Visier projizieren. So kann er es sehen, auch wenn er es nicht so wie Theresa sieht.«

 

»Schlaues Kerlchen. Das muss ihn einige Nachtarbeit gekostet haben.«

»Oh Gott, er wird uns alle umbringen!« Evchen starrte auf den Videoschirm. Gus hatte sich mit kurzen, magnesiumblau aufblitzenden Triebwerksstößen einige Meter vorwärts geschoben. Jetzt hob er den ausmontierten Laser und stellte etwas an einem seitlichen Schalter ein.

»Das Ding braucht zwanzig Sekunden zum Aufheizen, so lange haben wir noch Zeit. Silesio?«

»Gleich hab ich ihn.«

Ein mehrmaliges Krachen in den Lautsprechern, das nicht nur Groenewold zusammenschrecken ließ, ging in lautes Keuchen und Stöhnen über. Gus schien verbissen vor sich hin zu sprechen. Fetzen wie »Scheißding« und »Ins All blasen« waren zu hören. Der Ingenieur fühlte sich »seit Monaten terrorisiert«.

»Kann er uns hören?« Carlssen wartete das indifferente Kopfnicken seines Chefprogrammierers nicht ab. »Gus! Ich wünsche sofortige Meldung!«

Der Astronaut, der vor den Weiten des leeren Raumes mit der Bedienung des zylindrischen Gerätes kämpfte, hielt inne.

»Ingenieur der Dorset, ich befehle Ihnen, Meldung zu machen und an Bord zurückzukehren!«

»Lasst mich bloß in Ruhe!« Jetzt war die verzerrte Stimme deutlich zu vernehmen. »Ihr könnt mich alle am Arsch lecken.« Er wandte sich wieder dem Laser zu und hob ihn auf Brusthöhe. Obwohl das Gerät schwerelos war, handhabte er es, als wäre es von großem Gewicht.

»Kannst du diese Projektion unterbinden? Vielleicht hält ihn das auf.«

»Bin schon dabei.«

Die Alarmanlage jaulte wieder auf. Theresa zuckte zusammen, fasste sich aber und aktivierte den Monitor, der hektisch um Aufmerksamkeit blinkte.

»Was ist passiert?«

»Er hat gefeuert. Eine der Drohnen hat den Lichtblitz registriert.«

»Modul III/2, um genau zu sein.« Theresa vergrößerte die Anzeige. »Er ist durchgedreht. Er knallt im luftleeren Raum rum.«

»So, jetzt müsste der Datenfluss unterbrochen sein.« Silesio ließ seinen Schirm wieder auf die normale Oberfläche zurückspringen.

»Scheiße!«, hörte man aus den Lautsprechern. »Ihr Schweine … werd euch …« Dann erstickte seine Wut in einem Gurgeln.

»Er hat den Laser auf höchster Leistung. Ich kann ihn über die Außensensoren abtasten.«

»Ingenieur der Dorset!« Carlssen versuchte es emotionslos weiter. »Dies ist ein Befehl.«

Und sie erschraken doch und sahen von ihren Monitoren auf. Eine lautlose, permanganatfarbene Explosion glühte in der Nacht des entweihten Himmel auf. Ein fahl umzackter Blitz, der zu kalten Funken verrieselte.

»Was war das?«

»Er hat eine der Drohnen getroffen, Modul III/3.«

»Vermutlich reiner Zufall. Er kann es ja nicht einmal sehen.«

»Carlssen, unternimm was! Wir müssen dieses wahnwitzige blindwütige Geballere beenden.«

Theresa hatte jeglichen Humor verloren und sah besorgt zur Backbordscheibe hinaus. Wo man das im luftleeren Raum unsichtbare Lasergemetzel nicht vermutete. Aber plötzlich ging es sehr schnell. Über die Lautsprecher hörte man ein animalisches Keifen. »Kugel in der … Stein …« Sein ergebnisloser Grimm schien mit Gus durchzugehen. Er zündete sein Tornistertriebwerk und stürzte sich mitten in das reglose Opak hinein, wie wild aus der schweren Laserwaffe um sich feuernd. Dann verlor er die Kontrolle und überschlug sich. Für einen Sekundenbruchteil erfüllte tiefrotes Rubinlicht die Brücke, als ein Strahlenbündel an der Abschirmung des Schiffes detonierte und gestreut wurde.

»Energieverlust mittschiffs«, blökte die Automatik.

Im gleichen Augenblick überflutete eine weitere Explosion das fokussierte Schwarz der Videoschirme. Ein entsetzlicher Schrei und ein kreidiges Sägen erstarben in den Lautsprechern. Sonderbar aufgefetzt und zerbläht trieb der leblose Körper davon.

»In düstrem Schweigen richtet Gott.«

Carlssen sah konzentriert auf die Grafiken, die unverändert die pulsierende Blase des Opak nachzeichneten.

Nach Gus’ Tod wurde es noch gespenstischer auf der Dorset. Woche um Woche verging und allmählich stieg der Verdacht in ihnen auf, dass sie es niemals mehr fertigbringen würden, die Flugbahn des Opak zu verlassen und die Erde anzufliegen, deren Orbit längst das nähere Ziel als die Leibniz war. Sie unterquerten den Asteroidengürtel, durch ihre Neugier und durch seine Unerklärbarkeit an das Objekt festgekettet, auch wenn sie ihm kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. Luna III war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um ein ungefährliches und ansonsten uninteressantes Phänomen handle. Die Flugbahnberechnungen ergaben, dass es die Erdbahn an einer Stelle passieren würde, die um fast 90° von der aktuellen Position unseres Heimatplaneten versetzt sein würde. Man gab ihnen freie Hand für die weiteren Beobachtungen und überließ sie unserem unersättlichen Überdruss. Mehrere Spaziergänge, die Theresa von Carlssen oder Silesio begleitet unternahm, wiederholten die Eindrücke ihres ersten. Auch die Männer sahen das seltsame hauchfeine Linienspiel, das eine unbeschreibliche Kontur der substanzlosen Oberfläche nachzuzeichnen schien. Darüber hinaus gewannen sie keine Erkenntnisse. Mehrere Dutzend Drohnen und Roboter umschwärmten das Objekt und lieferten unvorstellbare Massen an nutzloser Information. Silesio differenzierte seine Beschreibungen; er unterschied, je näher wir den geostationären Teleskopen kamen, erst ein Alpha-I- von einem Alpha-II-Opak, um später noch ein Gamma- sowie ein asymptotisches Delta-Objekt, das sich innerhalb der virtuellen Beschreibungen auf einer mathematischen Metaebene befand, zu definieren. Sie vermaßen das Nichtexistente und trieben dabei die Kartografie des Unerklärlichen zu höchster Perfektion. Die Dorset durchschnitt die Mars- und die Erdbahn und näherte sich dem friedvollen Reich der Venus. Die Abschirmung musste erhöht werden, da sich die Bugschilde zu erhitzen drohten. Für sonnennahe Missionen war das Schiff nicht konstruiert; es operierte für gewöhnlich in interstellarer Arktis. Einige Abende vor dem Ereignis hatten Carlssen und Silesio ein langes Gespräch.

»Wie habt ihr’s, Guter, mit der Religion?« Der Commander hatte aufgepasst und ließ seinen Läufer diesmal, wo er war.

»Du weißt: Ich bin überzeugter Skeptiker und von Geburt an Atheist.«

»In den letzten Wochen wirkst du – verändert.«

»Obwohl ich nach Erdzeit über hundert Jahre alt bin, versuche ich, auf neue und fremdartige Phänomene zu reagieren.« Silesio wandte den Blick nicht von dem Steckschach ab, das er vor einem Menschenalter auf einem indischen Basar erstanden hatte. »Und wenn das da draußen kein ungewöhnliches Phänomen ist, weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.«

»Es erschüttert dein agnostizistisches Weltbild?« Carlssen setzte zögernd einen weiteren Bauern vor und bereute es im selben Moment.

»Man sollte meinen, dass ein Skeptizismus – mit kräftiger Stoa gewürzt – durch nichts aus der Fassung zu bringen ist. Und doch beunruhigt mich dieses Nichtobjekt mehr, als ich mir bisher erklären konnte.«

»Durch seine Existenz oder durch sein Verhalten?« Der Commander sah fühllos zu, wie die Phalanx seiner Bauern dahingemetzelt wurde.

»Durch sein Nichtverhalten. Diese sentimentale Opernphrase, die du nach Gus’ Amoklauf …«

»In düstrem Schweigen …«

»… richtet Gott. Da hast du – und es wäre unhöflich, zu unterstellen, dass es unbewusst geschah – den Kern dieses beunruhigen Phänomens am Schopf gepackt.«

»Den Nagel auf den Kopf getroffen.« Carlssen trat die Flucht nach vorne an und bot dem gegnerischen König mit gelenkigem Springer Schach!

»Die Nichthandlung zur Handlung gemacht, das Nichtsein zum Sein uminterpretiert.«

»Es war eigentlich eher gedankenlos …«

»Das Ding hat nicht reagiert und, seit wir es beobachten, in keiner Weise gehandelt. Wenn man von irgendetwas sagen kann, dass es einfach nur da ist, dann von diesem Objekt.« Silesio ließ den Springer unter einem Turm verschwinden und ging zum Gegenangriff über. »Das war Gus’ Verhängnis, dass er auf etwas stieß – und eben nicht ›stieß‹ –, das seiner Attacke keinen Widerstand bot. Er rannte nicht offene Türen ein, sondern setzte den Rammbock an, wo weder Tür noch Rahmen war.«