Read the book: «Gott finden. Wie geht das?»
GOTT FINDEN. WIE GEHT DAS?
MATTHIAS BECK
Inhalt
Cover
Titel
Vorwort
Hinführung
1. DIE ORDNUNG IN DER NATUR UND IM MENSCHEN
Das große »Von-Selbst«
Kosmos und Natur
Organismus und Mensch
Die geistige Ordnung – die Asymmetrie der Welt
Der absolute Geist – ein personaler Gott?
Gott ist ganz menschlich
Gott ist ganz göttlich
Zusammengefasst: Mensch und Gott
2. DIE EXERZITIEN DES IGNATIUS VON LOYOLA
Ordnung schaffen im eigenen Inneren
Die Exerzitien konkret
Betrachtung des eigenen Lebens – 1. Woche
Die Berufung jedes einzelnen Menschen – 2. Woche
Indifferenz –Immer wieder Abstand nehmen
Leiden, Schmerz und Entscheidungen – 3. Woche
Überwindung von Leid und Zerrissenheit – 4. Woche
Die Analyse der Emotionen – Gespür für sich selbst
Die Bewegungsrichtung des Menschen – Trost und Trostlosigkeit
3. KONSEQUENZEN – SPIRITUALITÄT UND ETHIK
Tugenden und der Einzelne
Was kann eine aufgeklärte Religiosität zu einem erfüllten Leben beitragen?
Glaube und Wissenschaft
Glaube als innerer Halt und Annahme meiner selbst
Glaube und Emotionalität
Glaube, Wissen und Achtsamkeit
Wozu noch Kirche?
Literaturverzeichnis
Danksagung
Über den Autor
Impressum
Endnoten
Vielleicht fragen Sie sich, warum Sie gerade dieses Buch in die Hand nehmen. Sie hätten ja auch ein Buch über Autos oder übers Kochen nehmen können. Aber Autos interessieren Sie nicht, Kochen vielleicht. Und da sind wir schon bei einer zentralen Frage: Warum interessiert mich etwas? Wann kommt innerlich bei mir etwas in Bewegung? Gibt es in mir einen Resonanzboden, der bei bestimmten Ereignissen zum Schwingen kommt? Vielleicht haben Sie auch eine bestimmte Frage und erhoffen sich Antworten, oder es treibt Sie die Sehnsucht nach mehr Leben? Vom bloßen Überleben zum wirklichen Leben?1
Jeder Mensch sucht etwas in seinem Leben: meistens Glück, Liebe, den richtigen Beruf, den geeigneten Lebenspartner, Gesundheit. Jeder2 will geliebt und respektiert werden. Wenn man etwas sucht, will man auch etwas finden. Jedes Versteckspiel verliert seinen Reiz, wenn man denjenigen, der sich versteckt hat, nicht findet, und derjenige, der nicht gefunden wird, verliert die Lust daran, wenn er wartet und niemand kommt. Das Spiel ist aus. Warten auf Godot von Samuel Beckett ist ein solches Theaterstück3: Zwei Menschen warten auf jemanden, der nie kommt. Menschen sagen oft: Wir sind alle Suchende. Aber Menschen wollen auch etwas finden. »Ich suche Gott«, lässt Friedrich Nietzsche den Mann mit der Laterne am helllichten Tage hinausschreien. Er wird ausgelacht.4 Lässt Gott sich finden?
Sie blättern im Buch, vielleicht legen Sie es wieder weg. Sie finden nicht, was Sie suchen. Wissen Sie genau, was Sie suchen? Manchmal wissen wir nicht, was wir suchen. Es ist oft nur eine diffuse Unruhe da. Der Tag geht weiter. Die Zeit ist flüchtig, sie steht nicht still. Der nächste Termin, neue Eindrücke. Der Tag fliegt dahin, von Ereignis zu Ereignis. Was bleibt am Abend? Was mache ich mit meiner Zeit? Kann ich irgendwo ausruhen und zur Ruhe kommen?
Die Einzigartigkeit
jeder Person
Was immer Sie suchen, was immer Sie finden, es bleibt Ihre eigene Suche. »Der Mensch ist seines Glückes Schmied«, sagt der Volksmund. Das ist in einem gewissen Sinn richtig. Wir haben zwar Voraussetzungen, die wir mitbekommen haben, aber wir können daraus etwas machen. Daher steht im Zentrum dieses Buches die Einzigartigkeit jeder Person. Jeder ist einzigartig und wichtig. Wenn man weiß, dass man wichtig ist, muss man sich nicht wichtig nehmen und im Mittelpunkt stehen. Jeder ist hundert Prozent Mensch. Jeder hat seine Welt, ist seine Welt und nimmt sich und die Welt auf seine Weise wahr. Der Andere hat seine Welt, seine Wahrnehmungen. Gibt es da Überschneidungen? Die Wahrnehmung beginnt bei mir: Ich sehe, ich höre, ich spreche, ich nehme die Welt wahr. Und gleichzeitig lebt jeder mit anderen Menschen zusammen. Der Andere hat seine Wahrnehmungen, sieht und hört auf seine Weise. Für die Kommunikation zwischen Ich und Du ist das Verständnis der jeweiligen Wahrnehmungen von großer Bedeutung.
Daher wird eine feste
Verwurzelung in einem
tieferen Seinsgrund
immer wichtiger.
Derzeit gibt es eine große Krise: Corona. Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen, oft isoliert. Jeder muss irgendwie damit umgehen. Jeder nimmt die Situation anders wahr. Die Bedrohung durch das Virus kann nur abgewendet werden, wenn jeder Einzelne sich an bestimmte Regeln hält. Selten war der Einzelne so wichtig: Abstand, Hygiene. Das kann sehr belastend sein, aber auch aufmunternd: Endlich werde ich ernst genommen. Diese Krise ist ein Symptom eines viel größeren weltweiten Umbruchsprozesses, der ein Umdenken erfordert: im Umgang mit der Umwelt, in der Wirtschaft, in der Politik, in der Arbeitswelt (auch durch »künstliche Intelligenz«) und auch in den Religionen. Es ist eine Art Entkoppelungsprozess im Gang, in dem der Mensch sich immer mehr abkoppelt von seinem letzten Urgrund und sich dadurch weit von seinem Wesen entfernt. Die Folgen werden mehr und mehr sichtbar. Die Welt wird unübersichtlicher und unsicherer, daher wird eine feste Verwurzelung in einem tieferen Seinsgrund immer wichtiger.
Der Einzelne wird auch in den Wissenschaften immer bedeutsamer. Das hat unter anderem mit den verschiedenen Paradigmenwechseln zu tun, die in der Geschichte stattgefunden haben. Der erste große Paradigmenwechsel war jener der Kosmologie: Nicht mehr die Erde steht im Mittelpunkt, sondern die Sonne. Das spielt für den Einzelnen noch keine so große Rolle. Der zweite war der Übergang von der Newtonschen Mechanik zur Quantenphysik: Nichts ist starr, alles ist in Wechselwirkung und die Dinge verändern sich durch die Beobachtung. Der dritte Paradigmenwechsel geschieht in der Genetik, die erkennt, dass Gene aktiviert und inaktiviert werden müssen. Dafür sind epigenetische Faktoren verantwortlich, die auch mit dem Lebensstil des Einzelnen zusammenhängen.
Derzeit macht auch die Medizin einen solchen Paradigmenwechsel durch. Bisher war sie weithin naturwissenschaftlich geprägt und ihre Erkenntnisse waren verallgemeinerbar. Jetzt stellt man fest, dass aufgrund des unterschiedlichen Genoms jedes einzelnen Menschen dasselbe Medikament bei jedem Menschen anders wirkt. Hier spricht man von individualisierter und personalisierter Medizin.5 Der Einzelne tritt ins Zentrum, was auch in der Psychologie schon der Fall war. Verbunden mit den Erkenntnissen von Genetik und Epigenetik zeigt sich, dass der Einzelne viel zum Gesundbleiben und Gesundwerden beitragen kann: durch Lebensstil, gute zwischenmenschliche Beziehungen und ein geordnetes Innenleben.
Du bist wichtig, nimm
dich ernst, ohne
ständig im Mittelpunkt
stehen zu müssen.
Der letzte Paradigmenwechsel sollte in der Theologie stattfinden. Menschen suchen immer mehr nach individueller Spiritualität und weniger nach Religion in der Gemeinschaft. Oft suchen sie in asiatischen Religionen oder in esoterischen Kreisen, weniger im Christentum. Das Christentum spricht von der Kirche, vom Volk Gottes, von der Gemeinschaft der Gläubigen. Viele spricht diese Art der Religionsgemeinschaft nicht mehr an. Der Einzelne als einzigartiges Individuum mit seiner Entscheidungshoheit über sein Leben wird ihnen nicht genug gewürdigt. Es gibt so viele existentielle Fragen, die nicht beantwortet werden. Vieles von dem, was im Christentum verkündet wird, erreicht den Menschen nicht mehr in seiner existentiellen Betroffenheit. Formelhafte religiöse Botschaften berühren das Herz der Menschen nicht. Manches wirkt sogar abstoßend. Der Mensch will mit seinen Fragen ernst genommen werden. Diese Fragen drängen sich auf. Niemand kann ihnen entgehen. Menschen suchen nach Antworten, sie wollen ihr Leben verstehen und etwas erfahren. Zusammengefasst: Der Einzelne steht auch hier im Zentrum. Ein zentraler Satz könnte lauten: Du bist wichtig, nimm dich ernst, ohne ständig im Mittelpunkt stehen zu müssen. Im Bereich der Ethik ist es der Begriff der Menschenwürde, der auf den Einzelnen abzielt.
Wenn Fragen nicht beantwortet werden, wenden sich die Menschen ab. Das ist schon bei Kindern so. Sie haben so viele existentielle Fragen nach dem Leben, dem Himmel, und wo die verstorbene Großmutter jetzt ist. Eltern tun gut daran, diese Fragen ernst zu nehmen und mit den Kindern nach Antworten zu suchen. Dieses Buch will dabei helfen. Es gibt einen Weg, im eigenen Inneren Antworten zu finden. Sie liegen oft viel näher, als man denkt. Im Menschen ist schon alles angelegt, der Schatz muss nur gehoben werden.
Wenn die Frage nach
Gott gestellt wird,
geht es nicht um ein
religiöses System,
sondern um die
Wahrnehmung
innerer Erfahrungen,
die jeder
machen kann.
Dieser Schatz darf ans Licht kommen und in Erscheinung treten. Das Verborgene ans Licht kommen zu lassen, ist eine lebenslange Aufgabe. Es dient der Findung der eigenen Wahrheit. Der griechische Begriff für Wahrheit sagt genau das: A-letheia ist das »Unverborgene«. Das Verborgene darf in die Unverborgenheit entlassen werden. Was zeigt sich da? Etwas sehr Vertrautes und auch Fremdes. Es zeigt sich meine Wahrheit – auch mit ihren Schattenseiten – und etwas darüber hinaus. Wenn man sich auf diese Wahrheit einlässt, findet man Bekanntes und Unbekanntes. Es zeigt sich Dunkles, aber auch eine »Welt« des Lichtes. Die Botschaft des Lichtes kommt aus einer anderen Welt und ist zugleich ganz lebensnah. Manchmal entdeckt man diese Botschaft wie zufällig, manchmal weisen Andere darauf hin, manchmal wird man durch eine Krise dahin gedrängt. Mancher entdeckt diese andere Welt nie. Vom Finden dieses »ganz Anderen« handelt dieses Buch.
Gott6 finden – wie geht das? Da kann man fragen: Warum und wozu soll ich Gott finden? Es geht mir auch ohne Gott sehr gut. Da würde ich sagen: Dann ist es gut. Dann vergiss die Frage. Es kann sogar sein, dass es Dir ohne Gott besser geht. Die Frage ist allerdings, ob derjenige, der Dir als »Gott« vermittelt wurde, nicht doch ein Zerrbild ist. Wenn die Frage nach Gott gestellt wird, geht es nicht um ein religiöses System, das dem Menschen von außen aufgepfropft wird und ihm fremd bleibt, sondern um die Wahrnehmung innerer Erfahrungen, die jeder machen kann und die jedem ganz vertraut sind.
So geht dieses Buch
einen Weg von der
Erkenntnis der Natur
über die Kenntnis der
eigenen Biographie hin
zur Wahrnehmung des
göttlichen Grundes im
eigenen Innersten.
Vielleicht stellen sich angesichts der aktuellen Corona-Krise auch grundsätzliche Fragen nach dem Sinn von Krankheit, Leid, Unordnung und Chaos, nach dem Sinn der Welt und des eigenen Lebens, nach Tod und Endlichkeit des Seins. Oder es werden Erfahrungen gemacht von Mitmenschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Liebe, Glück und eine neue Achtsamkeit und Wachsamkeit gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten entsteht. Vielleicht kommt durch die Ereignisse auch eine neue Nachdenklichkeit auf oder sogar eine Sehnsucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Womöglich entsteht eine positive Unruhe, die spüren lässt, dass es noch nicht alles gewesen sein kann mit dieser Welt und den alltäglichen Sorgen.
So geht dieses Buch einen Weg von der Erkenntnis der Natur über die Kenntnis der eigenen Biographie hin zur Wahrnehmung des göttlichen Grundes im eigenen Innersten. Von dort aus geht es wieder zurück in den Alltag mit der Frage, wie man die gewonnenen Erkenntnisse alltäglich umsetzen kann. Ein tieferes »Standfinden« im letzten Grund des Seins kommt vielen zugute: Dem Einzelnen kann es helfen, ein besseres Leben zu führen, es kann dem Gesundheitssystem nützen, weil Menschen womöglich weniger krank werden, der Wirtschaft, da die Menschen am Arbeitsplatz zufriedener sein könnten, und dem Staat, weil Menschen innerlich und äußerlich besser gebildet wären und dadurch zu mündigen Bürgern werden, die die Demokratie mittragen könnten.
HINFÜHRUNG
Jeder Mensch ist mit sich selbst allein. Selbst wenn er in Gemeinschaft mit anderen lebt, ist jeder zunächst eine Einzelperson. Die Mitmenschen können helfen, das Alleinsein auszuhalten. Aber auch im Kreis anderer Menschen kann man sehr allein sein und sich einsam fühlen. Alleinsein kann für den, der es aushält, sehr erfüllend sein. Einsamkeit hingegen ist bedrückend und kann krank machen.
Jeder bleibt immer er selbst. Er ist sich zugemutet. Er kann sich nicht entfliehen. Er kann in irgendein Land auswandern und nimmt sich doch immer mit. Er kann nicht aus sich heraus. Er kann sich nicht ausweichen. Er kann mit niemandem tauschen. Manchmal könnte man vor dieser Erkenntnis erschrecken: Ich bin ich. Ich lebe. Ich lebe mein Leben, nicht das des Anderen. Ich kann mir nicht entkommen. Niemand kann mir das abnehmen. Ich kann mein Leben nicht abgeben. Ich kann es nur annehmen oder ablehnen. Es ist mir aufgegeben und zugemutet. Wir sind in die Welt hineingeworfen, so ähnlich sagt es der Philosoph Martin Heidegger (1889 –1976). Wie kann ich das aushalten? Wie kann ich mich aushalten?7
Können andere mir bei meiner Lebensbewältigung helfen? Tatsächlich sind wir aufeinander angewiesen. Wir kommen vom Du der Eltern her. Sie haben uns gezeugt. Niemand ist gefragt worden, ob er leben will. Andere haben entschieden, dass ich lebe. Manche finden es gar nicht gut, in dieser Welt zu sein.8 Jetzt aber bin ich da in dieser Welt. Was Dasein heißt, weiß ich, weil ich da bin. Ich bin in meiner Welt, der Andere in seiner Welt. Sind dies abgeschlossene Welten?9 Jeder in seiner Welt? Wie können wir uns da verständigen? Gibt es Gemeinsames? Gibt es nur meine Welt und die Welt des Anderen, oder gibt es auch eine gemeinsame Welt, die uns verbindet? Eine Welt dahinter oder dazwischen? Eine Welt für mich, für den Anderen und die Welt an sich?
Immanuel Kant (1724 –1804) würde sagen, dass die Menschen durch Prinzipien verbunden sind, die dem Ganzen zugrunde liegen. Sicher ist, dass die Welt mir vorausliegt. Sie war schon da, bevor ich kam. Ich muss mich auf sie einstellen. Aber nicht nur die Welt liegt mir voraus, sondern auch Menschen mit den Generationen zuvor bis hin zu meinen Eltern. Von dort her kommen genetische Ausstattungen und psychische Prägungen. Diese Prägungen stammen nicht nur von den Eltern und ihrer Erziehung, sondern auch aus der Kultur, der Religion, der Tradition. Zunächst muss sich jeder in das Vorgegebene einfügen, bevor er beginnen kann, seine Welt und die Welt insgesamt zu gestalten. So wird das Vorgegebene langsam zum Aufgegebenen und zur Aufgabe.
Ich sehe die Welt mit meinen Augen, höre Geräusche mit meinen Ohren, taste mit meinen Fingern, fühle und spüre die Dinge in meinem Leib. Ich weiß gar nicht, wie die Welt »wirklich« ist, ich kenne sie nur durch meine Wahrnehmungen. Das »Ding an sich« können wir nicht erkennen, so hat es Immanuel Kant formuliert. Der Andere hat eine andere Wahrnehmung und einen anderen Zugang zur Welt als ich. Jeder hat seine Perspektive. Ich kenne die Welt nur so, wie ich sie wahrnehme. Der Andere kennt sie nur so, wie er sie wahrnimmt. Vielleicht kann ich mich mit ihm darüber austauschen, und wir können uns gegenseitig bereichern: meine Sicht, seine Sicht. Ich kann mich auch in ihn hineinversetzen, »in seinen Schuhen gehen«. Aber es bleibt meine Wahrnehmung seines Lebens. Ganz der Andere kann ich nie sein. Während ich die Welt und den Anderen wahrnehme, nehme ich mich wahr, wie ich mich bei einem Gespräch fühle, wie es mir mit den Ereignissen geht, die ich erlebe. Diese Selbstwahrnehmung kann geschult werden. Davon handelt das Buch.
Diese Selbstwahrnehmung
kann geschult
werden. Davon
handelt das Buch.
Ich nehme nicht nur die Welt und mich in dieser Welt wahr, sondern auch andere Menschen. Ich nehme sie wahr, sie nehmen mich wahr. Wie kann man sich da verständigen? Wie komme ich aus mir heraus? Wie werde ich befreit aus meiner »Ich-Verfangenheit«? Zunächst ist es der Andere, der mich infrage stellt oder auch bereichert. Die Auseinandersetzung mit dem Anderen und den Ereignissen der Welt sind eine Anfrage an mich. Aber beide – der Andere und die Ereignisse – sind auch ein Gewinn. Der Andere führt mich über mich selbst hinaus, er zeigt mir andere Perspektiven auf, er erweitert meinen Blick. Es kommt zum Dialog. Und die Ereignisse fordern mich heraus.
Man merkt oft erst in der Einsamkeit, dass da etwas fehlt, nämlich der Andere. Lerne ich mich erst durch den Anderen kennen? In jedem Fall gibt es die Sehnsucht, sich mit dem Anderen auszutauschen. Das hat die Corona-Krise gezeigt. Die Menschen wurden in die Isolation geschickt, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Und doch haben sich viele bemüht, Kontakte über Telefon, Handy oder Computer aufrechtzuerhalten. Viele lernten auch neu, dem Anderen zuzuhören. Bei Video-Konferenzen können nicht alle gleichzeitig sprechen. So gibt es verschiedene Herausforderungen: Einerseits stehen wir im Austausch mit anderen Menschen, sonst könnten wir gar nicht überleben, und andererseits müssen wir lernen, es mit uns selbst auszuhalten.
Verständigung mit anderen Menschen vollzieht sich zunächst nonverbal zwischen Eltern und kleinsten Kindern, später auch mithilfe von Worten und Begriffen. Kinder können die Dinge anfassen und mit den Händen begreifen, später müssen sie die Welt geistig begreifen und das Begriffene auf den Begriff bringen. Wir sprechen mit Worten, wir haben etwas zu sagen. Durch das Wort ereignet sich etwas. Durch das Sprechen geben wir nicht nur Informationen weiter, sondern teilen uns als Person mit. Dadurch geben wir immer auch etwas von uns selbst preis. Alles Sprechen und Handeln ist zudem von Emotionen begleitet.
Das heißt allerdings noch nicht, dass der eine Mensch den anderen Menschen auch versteht. Dieser kann das gesprochene Wort akustisch hören, und es inhaltlich doch nicht verstehen. Daher muss man bezüglich des Inhalts manchmal nachfragen: Habe ich dich richtig verstanden, dass du das sagen wolltest? Wenn der Andere das bestätigt, kann man darauf antworten. Diese Art und Weise der Gesprächsführung würde viele Missverständnisse vermeiden helfen: Erst fragen, ob ich den Anderen verstanden habe, und ihm dann antworten. Es geht nicht nur darum, den Inhalt dessen zu verstehen, was der Andere sagt, sondern auch um das, wie er es sagt und wie er sich als Person darin ausdrückt. Er spricht sich als Mensch in seinen Worten aus, aber auch in und mit seinen Emotionen, Gesten, Blicken und inneren Haltungen. Erst wenn Menschen sich in dieser Ganzheit von Wort und innerem Wesen miteinander verständigen können, kommt es zu wirklicher Begegnung. Wenn dies nicht geschieht, kommt es statt zu einer Begegnung oft zu einer »Ver-gegnung«, wie Martin Buber (1878 –1965) das genannt hat.
Aus welchen Gründen können und möchten sich Menschen gut verstehen? Zunächst einmal will jeder vom Anderen angenommen werden. Dann kann es sein, dass Menschen beruflich miteinander zu tun haben, gemeinsame Hobbies pflegen, zusammen Kinder großziehen oder einfach gerne miteinander Zeit verbringen. Aristoteles (384 –322 v. Chr.) hat diese verschiedenen Ebenen anhand von Freundschaften beschrieben10: Es gibt Freundschaften, die man pflegt, weil man einen Nutzen davon hat oder wegen der gemeinsamen Lusterfahrung, oder – als höchste Form – weil es einem um die Freundschaft als Freundschaft geht.11 Man will mit dem Anderen befreundet sein, weil man mit ihm zusammensein will. Mit diesen Menschen will man sein Leben teilen und um des Zusammenseins willens zusammensein, ohne weitere Zwecke damit zu verbinden.
Das Christentum sagt
darüber hinaus, dass es
darum gehe, den Anderen
um seiner selbst willen zu lieben, ohne weitere Bedingungen.
Immanuel Kant spricht davon, dass es darum gehe, den Anderen um seiner selbst willen zu achten. Er entwickelt dies im Zusammenhang mit dem Begriff der Menschenwürde. Das Christentum sagt darüber hinaus, dass es darum gehe, den Anderen um seiner selbst willen zu lieben, ohne weitere Bedingungen. Man soll den Anderen nicht (vollständig) verzwecken. Allerdings weiß jeder, dass es in Beziehungen immer wieder geschehen kann, dass der Eine mit dem Anderen berechnend umgeht.12
Das Berechnende stört das Vertrauen zwischen Menschen. Der Andere wird nicht mehr um seiner selbst willen angenommen, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. Diese muss er erfüllen. Dadurch wird das Verständnis füreinander abnehmen. Daher muss man an Freundschaften arbeiten. Sonst passiert es, dass man einander nicht mehr versteht, sich auseinanderlebt und womöglich auseinandergeht. Es gibt ein wohlwollend-liebendes Miteinander, aber auch das Gegenteil davon: Streit, Hass und Verachtung.
Wir suchen nach
Phänomenen, die diesem
»um seiner selbst
willen« oder dem
»aus sich selbst
heraus«
entsprechen.
Die Frage ist, ob es so etwas wie das »Um seiner selbst willen« oder »Aus sich selbst heraus« überhaupt gibt, oder ob nicht alles einer Berechnung unterliegt. Im alltäglichen Leben mag vieles dem Kalkül unterliegen. Die Frage ist aber, ob das schon alles ist. Denn wenn wir in diesem Buch auf die Suche nach dem Absoluten gehen, dann suchen wir nach Phänomenen, die diesem »Um seiner selbst willen« oder dem »Aus sich selbst heraus« entsprechen. Um bei Letzterem zu bleiben: Allein dasjenige (oder derjenige), das (oder der) durch nichts Anderes geworden ist, sondern aus sich selbst heraus ist (nicht geworden ist), ist das Göttliche – wenn es das überhaupt »gibt«. Doch wenn es das gibt, kommt es nicht von woanders her, sondern ist aus sich selbst heraus: ohne Raum, ohne Zeit, ewig. Es ist in diesem Sinne das Selbstverständliche, das sich aus sich selbst heraus versteht und aus sich selbst heraus ist und den Anderen um seiner selbst willen annimmt.
Wenn es so sein sollte, dass das Göttliche aus sich selbst heraus ist, dann ist die Frage, warum es aus sich selbst heraus ist, sinnlos. Das »Aus-sich-selbst-heraus-Seiende« kann nicht durch etwas Anderes begründet werden. Es begründet sich selbst, es ist, was es ist, es erklärt sich aus sich selbst heraus. Es ist wie ein mathematisches Axiom, das auch nicht mehr durch etwas Anderes erklärt werden kann. Das »Aus-sich-selbst-heraus-Sein« kann dann etwas Anderes, von sich Unterschiedenes, aus sich entlassen. Sollte am Anfang eine Energie gewesen sein, dann stellt sich sofort die Frage, woher diese Energie stammt. Da besagt das Wort »En-ergie« etwas Treffendes: En-ergeia bedeutet im Griechischen: etwas ins Werk setzen. Das kommt in die Nähe dessen, was christliche Theologie als Schöpfung bezeichnet. Die Energie kann etwas ins Werk setzen, sie kann aber sich selbst nicht ins Werk setzen, sie kommt von woanders her. Zusammengefasst: Alles innerweltlich Endliche ist von einem Anderem her. Allein das Göttliche ist aus sich selbst heraus und nicht von etwas Anderem her. Es kann aus dem Nichts etwas schaffen (»creatio ex nihilo«).