Read the book: «Ungebremst durch Kermanschah»
Inhaltsverzeichnis
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Glossar
Maryam Djahani
Ungebremst durch
Kermānschāh
Roman
Aus dem Persischen von
Isabel Stümpel
Originalausgabe:
In Khiyaban Soratgir nadarad
Nashr-e-Markaz Publishing, Teheran,
4. Auflage 2019
Diese Übersetzung aus dem Farsi wurde mit Mitteln
des Auswärtigen Amtes unterstützt durch
Litprom - Gesellschaft zur Förderug der Literatur
aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V
CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek
© 2020 by Sujet Verlag
Ungebremst durch Kermānschāh
Maryam Djahani
Aus dem Farsi von Isabel Stümpel
ISBN: 978 3 96202 615 8
Lektorat: Kurt Scharf
Umschlaggestaltung: Ina Dautier
Korrektorat: Friederike Langwasser
Satz und Layout: Friederike Langwasser
Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen
Printed in Europe
1. Auflage Herbst 2020
Meinem Lehrer Ahmad Mohammadi
1
Ich stecke den Einfüllstutzen in die Tanköffnung. Tief atme ich den Benzingeruch, den Duft des Fladenbrotes und den des Regens ein. Meine Geruchsrezeptoren feuern Fehlermeldungen - unmöglich zu unterscheiden, welcher der Gerüche welcher ist. Mutter lässt die Scheibe einen Spaltbreit herunter und reicht mit hoheitsvoller Geste einen Zehntausend-Tuman-Schein hinaus.
„Hier, für das Benzin.“
Ich starre auf ihre breiten Wurstfinger. Schon am frühen Morgen stecke ich böse in der Klemme. Ich ersticke fast daran, ob ich etwas sagen soll, was den Innenraum meines Taxis wie ein Munitionslager zum Explodieren bringt. Meine Mutter wartet kurz, doch als sie sieht, dass ich mit dem Zapfschlauch beschäftigt bin, zieht sie ihre Hand mit dem Geld zurück. Auf dem Rücksitz dreht Babak den Kopf, um zu sehen, ob jemand diese peinliche Szene beobachtet hat. Keiner da. Der Brotverkäufer hat mit einem Armvoll Fladenbrot unter dem Dach der Tankstelle Zuflucht vor dem Regenschauer gesucht. Direkt vor meiner Nase. Klumpen für Klumpen steckt er sich Brot in den Mund, wobei seine Backentaschen abwechselnd prall und leer werden.
An der Zapfsäule gegenüber betankt der Tankwart den 206er Peugeot einer Frau. Die Frau ist müde. Ich merke es an der Art, wie sie auf das Rauchverbots-Schild starrt. An einigen heraushängenden Haarsträhnen. Daran, wie sie den Kopf gegen die Nackenlehne stemmt. Sicher ist sie vom Schreibtisch eines Amtes hierher geflüchtet. Oder aus den Gängen des Gerichts. Oder von der Theke eines Ladens. Vielleicht ist sie aber auch nur müde vom Sitzen hinter dem Steuer.
Ich dagegen bin nicht müde. Werde niemals müde. Wenn es um meine Arbeit geht, bin ich unverwüstlich wie ein Panzer.
In unserer Stadt schaltet keine Frau so genussvoll wie ich hin und her und frohlockt, wenn sich ihre Kasse füllt, oder verspürt plötzlich Lust, den Spiegel des am Straßenrand geparkten Mercedes Benz zu küssen und so das Piep Piep seiner Diebstahlsicherung auszulösen. Oder fährt an der Ampel oder mittags, auf dem Heimweg, die Scheiben ihres Taxis hoch und dreht The Strive bis zum Anschlag auf, um die Müdigkeit aus den Knochen zu treiben. In unserer Stadt fahren die Frauen vorsichtig und wissen nicht, welchen Genuss das Motorheulen beim Schalten in den falschen Gang bereitet oder wie gut es sich anfühlt, wenn man sich furchtlos zwischen Autos der Luxusklasse schiebt. Sie wissen garantiert nicht, wie stolz einen die aufgerissenen Augen des Automechanikerlehrlings und seines Meisters machen, wenn man den Wagen über die Ölablasswanne manövriert. Oder die Beschämung eines Taxifahrers, der brüllend aussteigt, weil er denkt, dass der andere einfach nur eine Frau ist und dann, wenn er sieht, dass diese Frau den Zündschlüssel in der Hand hält, an sich halten muss, um nicht im Laufschritt in seinen Wagen zu flüchten. In unserer Stadt kennen die Frauen nur einen Gang. Den toten Gang. Mutter sagt immer: „Ich weiß nicht, was für ein Schnickschnack das schon wieder sein soll, ‚der tote Gang‘. Auf jeden Fall ist nicht der Gang tot, sondern du bist es…“
Ihrer Ansicht nach bin ich gestorben und atme seit vier Jahren nur, weil ich es dem Todesengel verheimliche. Meine Mutter sagt, dass ich seit der Scheidung unter die Räder gekommen bin, und will, dass ich mich meines Leichtsinns schäme, der einer ledigen dreißigjährigen Frau unwürdig ist.
Ich denke nicht daran, mich zu schämen. Stattdessen zerre ich jedes Mal, wenn ich zu ihr komme, mit einem langen Hup-Ton an den schwachen Nerven ihrer beiden Nachbarn, bis meine Mutter mit bloßem Haupt und Füßen an die Tür kommt und sich andeutungsweise das Gesicht zerkratzt, will heißen „Scher dich zum Teufel, schamloses Weibsbild. Warte, ich komm’ ja schon.“ Und wenn ich sie mitnehme, damit sie ihre wöchentlichen Einkäufe erledigen kann, fahre ich so, dass sie sich mit beiden Händen an allem Greifbaren festkrallt, dem Türgriff, dem Armaturenbrett, der Mittelkonsole… sodass ich auf dem Rückweg sicher sein kann, dass ihr Blut durchgespült ist und sie in den nächsten paar Tagen ohne Blutfett-Tabletten auskommt.
Vielleicht hat alles mit einem schlichten Aufsatzthema in der Mittelschule begonnen. „Was wollt ihr gerne mal werden?“ Den ganzen Abend machte mich die Aufstellung möglicher Berufe schier wahnsinnig. Den ganzen Abend parkte neben jeder Berufsbezeichnung ein orangefarbenes Taxi. Den ganzen Abend über schaltete, hupte, fluchte ich und brachte die unterschiedlichsten Fahrgäste zu ihren Zielorten. Schließlich schlief ich mitten auf dem Weg ein, mit einem Taxi voller Fahrgäste, einem bunten Yazd-Halstuch und einer laufenden Schlager-Kassette von Yasari. Als ich am nächsten Tag vor der Tafel von meinem Aufsatzblatt ablas: „Ich möchte Taxifahrerin werden“, ging ein Raunen durch die Klasse. Die Lehrerin schlug mit dem Lineal auf den Tisch. Ich dagegen konnte mich kaum halten vor Freude. Als ob mit dem bloßen Vorlesen dieses Aufsatzes meine Eltern und das Taxigewerbe meinen Wunsch automatisch erfüllen würden…
Als ich nach Jahren der Unterbrechung endlich Taxifahrerin wurde, war ich verheiratet und eine Spur schüchtern. Ein Jahr später war von beidem keine Spur mehr vorhanden, weder in mir, noch in meinem Personalausweis. Anfänglich streckte ich den Fahrgästen die hohle Hand entgegen und starrte auf die Münzen, die hineinfielen. Das also nannte man „Bettelhand“? War es dies, wonach ich mich mein Leben lang gesehnt hatte? Mit der Zeit war die Bettelfrage kein Thema mehr. Wenn ich es recht bedachte, wurde mir klar, dass ich mich beim Anblick des Haushaltsgeldes, das Hamed mir auf die Theke legte, bevor er ins Geschäft ging, sechs Jahre lang als armes Hascherl gefühlt hatte, gerade einmal mutig genug,
Zuckerdosen und Blumentöpfe zu zerschlagen. Ich fragte mich, ob ich, die ich von früh bis spät das Dasein einer Küchenschabe führte, auch noch in diesem Punkt den Kürzeren ziehen sollte?
Mein täglich wachsendes Interesse an meinem Beruf nahm eine philosophische Dimension an, als ich entdeckte, dass ich unumstrittene Herrscherin dieser schwankenden Kabine bin, deren grobe und feine Erschütterungen dir, egal, wie du‘s anstellst, das Hirn durchrütteln. Auch habe ich entdeckt, dass Elizabeth, beziehungsweise dieses mein gelbes Taxi, den Frauen ein besonderes und einzigartiges Vergnügen bereitet. Sie rufen, in welche Richtung sie fahren wollen. Ich trete auf die Bremse. Sobald sie hinter dem Steuer eine Frau erspähen, richten sie ihren Oberkörper auf und öffnen stolz die Beifahrertür. So als wollten sie mit dieser Du-kannst-mich-mal-Geste allen Männern zeigen, dass sie es als ihr ureigenstes Recht betrachten, ein Leben lang vorne zu sitzen. In meiner Stadt gibt es neuerdings Taxis, in denen nur Frauen die Vordertüre öffnen dürfen. Meine Stadt ist ein Dorf, umgeben von schneebedeckten Bergen. Die Männer dort haben eine Bergbauern-Mentalität. Doch ganz allmählich streift meine Stadt ihre alte Haut ab. Aus dem Tank läuft Benzin, auf meine Turnschuhe.
2
Die Scheibenwischer können dem Regenschauer nichts entgegensetzen. Hingegen braucht es nur einen Fingerdruck, damit sich der Wagen um sich selbst dreht, so als ob das Steuer plötzlich hydraulisch wäre. Als würde es nicht Wasser, sondern Öl regnen. Genau das richtige Wetter, um die Enden der Stadt zusammenzunähen. Um meine übelst gelaunten Fahrgäste abzusetzen und wieder Alleinherrscherin über diesen Schlitten zu sein. Ich nähere mich dem Hause meiner Mutter. Wir lassen den Vaziri-Platz hinter uns, dessen vier Ecken auch nach dreißig Jahren immer noch von welkem Gemüse, verfaulten Früchten und den Karren der Obstverkäufer bedeckt sind. An jedem Monatsersten bringe ich meine Mutter zur Bank, damit sie ihre erklecklichen Zinsen abheben kann. Gestern Abend rief sie an, um mich an heute zu erinnern und daran, dass in den nächsten Tagen Abtins Beschneidung gefeiert werden soll. Als ich heute früh ankam, sah ich Babaks Santa Fe an der Einmündung der Gasse stehen. Er wurde vom Regen gewaschen. Mehrmals in der Woche schaut Babak bei Mutter vorbei, bevor er zur Arbeit geht. Er gibt sich leutselig und freigiebig, nimmt an Beerdigungen, Gedächtnisfeiern zum vierzigsten Todestag und jährlichen Todestagen der Familie, Freunde und Bekannten teil, um beachtet zu werden. Und das wird er. Was er tut, ist gern gesehen. Selbst wenn es nicht von Herzen kommt.
Ich werfe einen Blick auf Babak, der sich in seinem schwarzen Anorak verkriecht und wütend auf die Straße starrt. Heute habe ich seine Männlichkeit und sein Platzhirschgebaren in Frage gestellt. Weil ich in seinem Beisein ausgestiegen bin und selbst getankt habe. Er sagte: „Bleib sitzen. Ich werde aussteigen.“
Ich habe die Autotür geöffnet und gesagt: „Mein Wagen ist ein Hätschelkind. Er trinkt sein Benzin nur aus der Hand seiner Besitzerin.“
Ich frage Mutter: „Heute gehst du nicht einkaufen, oder?“
Sie zieht die auf den Arm hochgerutschten Goldreifen auf ihr Handgelenk. Sie haben sich ins Fleisch gedrückt und kneifen sie.
„Ich weiß nicht. Lass mich überlegen, was mir fehlt. Bei diesem Wetter brauchst du sowieso nicht Taxi zu fahren. Lass uns zusammen Mittag essen. Abends kannst du dann wieder auf der Straße herumlungern.“
Dickfelligkeit ist eine Gnade, die einem nicht über Nacht zuteil wird. Diese Art Sprüche musst du oft und oft gehört haben, bis deine Haut sich mit der eines Nashorns messen kann. Am liebsten würde ich sagen, Ich brenne darauf, euch abzusetzen und sofort wieder an meine Arbeit zu gehen. Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen, dass ich mich in dein Haus drängele? Und das bei diesem Wetter?
Babak wirft ein: „Die Tante hat recht. Bleib bei ihr. Lass sie wenigstens heute einmal nicht allein.“
Ich entgegne: „Babak, wie kommt es bloß, dass du neuerdings so mitfühlend bist? Wenn du tatsächlich soviel Mitgefühl hast, bleib doch selber bei ihr.“ Kann Mutter etwa an sich halten, wenn jemand ihrem Bruder oder dessen Sohn mit dem Zaunpfahl winkt? – „Du hackst auf ihm herum, du unverschämtes Gör?“
Ich erwidere: „Herumhacken, wieso? Ich wundere mich einfach, dass Babak mit jemandem Mitgefühl hat.“
„Hat er sich etwa jemals irgendjemandem gegenüber auch nur das Geringste zuschulden kommen lassen?“
„Wie schnell ihr alle Fatemes Bitten und Flehen vergessen habt.“
Babak schüttelt den Kopf.
„Mein Gott, war es denn nicht genug, dass ich diese Verrückte acht Jahre lang ertragen habe? Und jetzt spielst du auf einmal ihre Anwältin?“
„Hat sie nicht alles getan, was du von ihr wolltest? Aus ihrem Mantel und Kopftuch wurde ein Tschador plus eng anliegendes Schlupfkopftuch, weil du es wolltest. Ihre Schminksachen hat sie weggegeben, weil du diese, wie du es nanntest, lockeren Sitten verabscheutest. Sie hat nur noch mit deiner Erlaubnis das Haus verlassen, weil dir Frauen, die mit dem Feuer spielen, nicht gefallen... Hat sie nicht komplett nach deiner Pfeife getanzt?“
Babak atmet hörbar aus.
„Hat sie, gezwungenermaßen. Was blieb ihr anderes übrig?“
„Weil die Arme dich liebte.“
„Sie war verrückt. Sie haben sie mir aufgebunden.“
„Haben sie nicht. Es war deine Entscheidung. Danach ist die Arme nur ein bisschen zwanghaft geworden. Das war heilbar.“
„Ihr Heilmittel war das, was ich mit ihr gemacht habe.“
Mutter besiegelt Babaks Worte.
„Es ist ihr recht geschehen.“
Vor vier, fünf Monaten, als sie hörte, dass Babak sich nach acht Jahren Ehekrach von Fateme hat scheiden lassen, war es, als wäre ihr ein Sohn geboren worden. Das verschüttete Wasser war in den Krug zurückgekehrt. Sie konnte wieder dasitzen und sich daran weiden, wie Babak mich anstarrte. Jetzt möchte sie auf keinen Fall, dass ich den einzigen Mann fallen lasse, den nach ihren Worten der Esel gezwickt haben muss, dass er nach Jahren immer noch in mich verliebt ist.
Beide sind sie eingeschnappt. Ich dagegen fühle mich erleichtert. Nach fünf Monaten hatte ich endlich Gelegenheit zu sagen, was bis jetzt in mir gebrodelt hatte. Ich gebe Gas. Der Wagen hebt sich kurz und senkt sich dann wieder. Mir fährt es in den Rücken. Mutter klappt nervös das Handschuhfach auf und wühlt in dem Ramsch darin.
„Wo ist meine Quittung?“
Sie blickt um sich. Schließlich sieht sie die Quittung unter ihrem Tschadorzipfel hervorlugen.
Sie faltet ihn zusammen und steckt sie ihn die Klappe des Handschuhfachs. Das Geraschel ebbt ab. Sie atmet geräuschvoll aus. Ich blinke rechts, um in die Gasse einzubiegen. Ein beigefarbener Peykan überholt mich. Ein junger Kerl, der neben dem Fahrer sitzt, steckt seinen Kopf heraus und ruft: „ Das Gas ist in der Küche, Madame!“
Wenn er wüsste, dass der, der auf der Rückbank sitzt, ein Verwandter ist, zudem einer, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt sind, hätte er sich das nie und nimmer herausgenommen. Nur da er dachte, es sei ein x-beliebiger Fahrgast, hat er gewagt mich derart anzupflaumen.
Babak richtet sich auf und steckt seinen Kopf zwischen den Sitzen durch.
“Gib Gas, hol ihn ein, damit der Mutterf…“
Mutters Anwesenheit zwingt ihn, seinen Kraftausdruck herunterzuschlucken.
“Mach schon, gib Gas, dieser alte…“
Ich biege in die Gasse ein und sage: „Was soll das, Babak? Man kann doch nicht wegen jeder Lappalie gleich ausrasten.“
Aber das tue ich ja selbst. Wenn die beiden nicht mit im Wagen säßen, hätte ich denen mindestens den Seitenspiegel zertrümmert. Damit sie sich hinter die Ohren schreiben, dass ich sehr wohl weiß, wo das Gas ist und mir vielleicht nur insofern etwas fehlt, als ich allein bin. Babak lehnt sich zurück und kaut an seinem Schnurrbart. Er ist stinksauer. Mutter presst die Lippen zusammen. Sobald Babaks schwarzer Santa Fe vorne in der Gasse in Sicht kommt, halte ich an.
Mutter sagt: “Kommst du nicht mit rein?“
“Nein. Vielleicht schaue ich heute Abend oder morgen bei dir vorbei. Ruf mich an und sag, was dir fehlt und was du brauchst.“
Sie steigt aus und schlägt die Tür so zu, dass das gefaltete Papier aus dem Handschuhfach fällt. Im Gehen winkt sie mit der türkisberingten Hand. Das heißt soviel wie „Mach‘s gut!“ oder „Vergelt‘s Gott!“ oder „ Du Würmchen“ oder...
Babak steigt nicht aus. Ich mache mich am Steuerradbezug zu schaffen. Beide schweigen wir. Man hört nur den Regen auf das Wagendach trommeln. Schließlich sagt Babak:
„Was war das heute? Schämst du dich nicht? Du weißt ganz genau, was mich aufregt und tust es erst recht?“
Ich schweige, um der Verwandtschaft willen und des Restes eines Gefühls für ihn, das ich mal empfunden habe. Alles hätte anders kommen können. Statt Ja zu Hamed zu sagen, hätte ich Babak in die Augen sehen und freudig Ja sagen können... Was hätte das aber geändert? Nichts. Nichts Außergewöhnliches wäre passiert, außer dass ich keine Taxifahrerin geworden wäre und Fateme keine geschiedene Frau. Eine blasse junge Frau mit blaugeäderten Händen, die immerfort zitterte und einmal zu mir sagte: „Du bist überall in meinem Leben, Shohre.
Sogar in meinem Bett.“
“Brauchst du nichts? Geld?“
Ich sehe ihn durch den Rückspiegel an. Absichtlich klappe ich das Handschuhfach auf.
“Nein. Ich habe welches. Schau.“
Er atmet aus. Ich bin kurz davor, die Fassung zu verlieren. Er sagt: “Komm doch gelegentlich mal vorbei und bitte Papa um Verzeihung... Dein Verhalten ist nicht richtig. Weißt du, wie lange du ihn nicht gesehen hast? Weißt du überhaupt noch, wie er aussieht?“
“Ja soweit ich mich erinnere, war er glatzköpfig, dick und schlecht gelaunt. Sobald er mich sah, sagte er ,Gott bewahre!’ Als würde er dem Tod ins Auge sehen.“
Babak kommt aus seinem Schneckenhaus und lächelt. Unter seinen kohlschwarzen Augen, die mit den dunklen Kopf- und Barthaaren und der schwarzen Kleidung harmonieren, bilden sich Fältchen. Er zieht seine Gebetskette mit den dicken Perlen aus afghanischem Schah-Maqsud-Edelstein aus der Jackentasche.
“Ich geh dann…Kann ich noch was für dich tun?“
“Nein danke, geh nur.“
“Also dann…“
Er steigt aus und schlägt die Tür ebenfalls so zu, dass die arme Elizabeth zittert. Bei seinem Anblick zieht eine nasse Katze den Kopf aus einem Müllsack und flüchtet ans Ende der Gasse. Als ob sie wüsste, dass dieser kräftige, schwarz gekleidete Mann ein Katzenmörder ist. Babak läuft unter dem Regen genauso gemessen wie bei schönem Wetter. Mit großen und festen Schritten geht er zu seinem Wagen. Als er die Wagentür öffnet, dreht er sich einen Moment lang um und unsere Blicke treffen sich. Die ganzen Jahre, in denen er verheiratet war, hat er mich genauso angesehen. Mit einem Blick voller Liebe und Grausamkeit.
Ich mache mich davon Richtung Hauptstraße. Aber wie immer dauert es einige Minuten, bis das Bild von Babaks letztem Blick vor meinem geistigen Auge erlischt. Gerade solange, bis ich eine Frau im Tschador und einen grimmig aussehenden Mann einsteigen lasse, die einen halben Meter voneinander entfernt am Straßenrand stehen. Wenn du neu in der Branche bist, zweifelst du, ob so ein Paar Ehemann und Ehefrau sind. Aber wenn du ein alter Hase bist und die Ecken und Winkel der Stadt und ihrer Bewohner dir so vertraut sind wie die Linien deiner Handfläche, merkst du, dass gerade die, die sich in einigem Abstand voneinander hinstellen, eine legitimierte Beziehung haben. Ich bringe sie bis zur Abzweigung Maskan. Für tausend Toman erwarten sie auch noch, dass ich sie bis vor die Haustüre bringe, damit sie nicht nass werden. Der Mann steigt mit unverändert grimmiger Miene aus. Bis die Frau ihren Tschador zusammengerafft hat, ist er schon auf dem Bürgersteig und biegt in die Gasse ein. Ein junger Mann, die Hände in den Taschen, mit aufgesetzter Anorakkapuze, steckt den Kopf in den Wagen.
“Geradeaus?“
“ Bis wohin?“
“Bis ans andere Ende von Maskan.“
“Das sind zwei Fahrten, macht tausend Toman.“
Er fährt mich an: „Was soll das? Soll das ein Witz sein? Denkst du, weil du eine Frau bist, kannst du die Leute ausnehmen? Gottchen, sieh mal einer an, wer jetzt in unserer Stadt alles Taxifahrer ist…“
Ich ziehe die Handbremse. Der Typ stammt von hier und weiß, was das bedeutet. Er schluckt den Rest nicht herunter. Das wäre erniedrigend für ihn. Aber im Weggehen murmelt er so leise vor sich hin, dass ich nicht hören kann, was er sagt.
Ich fahre zurück Richtung Stadtzentrum. Das Verhalten des jungen Mannes hat mir den Spaß am Taxifahren gründlich verdorben. Obwohl ich inzwischen eine dicke Haut habe. Anfangs genügte ein solcher Vorfall, um mir den Nachtschlaf zu rauben. Aber neuerdings habe ich ein Heilmittel gefunden. Ein kurzer Halt auf der Strecke.
Während dieses kurzen Haltes versuche ich mich, wie eine Eidechse, der man den Schwanz abgerissen hat, wieder aufzubauen. Ich tröste mich damit, dass sie recht haben. Der Anblick einer dünnen, halb verhungerten aufmüpfigen Frau anstelle der Muskelprotze mit den ausladenden Schnurrbärten verletzt ihren ererbten Stolz. Sie haben ganz recht mit ihrem “Was hat der Gasherd mit dem Gaspedal zu schaffen?“
Hinter den drei Ampeln, neben dem Handkarren eines Weiße-Rübchen-Verkäufers, der unter einer kahlen Kastanie parkt, fahre ich an den Straßenrand. Elizabeth bleibt mit einem Ächzlaut stehen. Ihr Ächzen ist voller Empörung. Ich streichle über das Steuerrad. Ich bin nahe daran zu rufen: Elizabeth... Dieser Name ist die Errungenschaft eines Abends, als sie mit offenen Türen auf ihrem Parkplatz schlief und in allen Ehren wieder herauskam. Die Nachbarn hatten Gäste, so dass der eigentliche Parkplatz voll war.
Elizabeth blieb in der engen, dunklen Gasse stehen. Erst am anderen Tag, als ich ihre Diebstahlsicherung aufmachte, bemerkte ich, dass die Türen bis zum Morgen offen gewesen waren. Ich klopfte ihr auf’s Dach und sagte: “Ein Hoch auf deine Wehrhaftigkeit, Chefin! Keiner wagt, sich dir zu nähern, wie bei einer Prinzessin. Lässt du überhaupt jemanden außer mir an dich heran?“
Dann dachte ich, es wäre nicht schlecht, wenn ich sie manchmal vertraulicher als schlicht mit Taxi, Wagen oder Pride ansprechen würde. So gelangte mein Wagen an jenem Tag in den Besitz eines Namens und einer Persönlichkeit. Prinzessin schien mir zu gewöhnlich. Elizabeth dagegen lässt einen an etwas Hochklassiges denken.
Mahbube sagt: “Warum Elizabeth? Nimm doch einen anderen Namen... Anahita zum Beispiel…“
Der Regen trommelt auf den Schirm des Weiße-Rübchen-Verkäufers. Aus seinem Kessel steigt Dampf auf. Neben ihm hat sich ein Leber-Spießchen-Verkäufer aufgestellt. Er öffnet abends. Hierhin komme ich immer, wenn ich erschöpft und ausgelaugt bin. Der Alte kennt mich. Da er denkt, ich wolle ihm gekochte Rübchen abkaufen, holt er einen Teller unter seinem Karren hervor. Heute habe ich aber keine Lust, auszusteigen. Stattdessen steige ich mit brennenden Füßen aus meinen Turnschuhen. Vater sagte immer: “Ein Mann zieht die Schuhe, die er morgens anzieht, erst abends wieder aus. Wenn nicht, ist es eine Frau. Kein Mann. Sondern ein Stubenhocker…“
Er sprach diese Worte zur Wand oder zum Tee-Tablett oder zum Fernseher... Vater hatte die Gewohnheit zu sprechen, indem er seinen Blick auf etwas anderes als die Augen seines Gesprächspartners richtete. Er wählte deshalb
Gegenstände aus, weil sie nichts erwidern konnten. Er hasste es, Antworten zu hören. Er hasste Gesprächigkeit. Mutter aber füllte sich noch vor dem Mittag mit Worten, wie ein Gefäß, das man unter den tropfenden Samowar stellt. Wenn Vater von der Arbeit kam, stellte sie ihm sein Mittagessen und seinen Tee hin und sprach dabei unentwegt. Wir alle wussten, dass Mutter nur Vaters Ohren ihrer Worte für würdig hielt. Wir alle wussten, dass Vater, wenn er auf den Fernseher starrte und sagte: “Dreht den Ton ab!“, damit meinte, dass Mutter die Klappe halten sollte... Das hieß, Vaters Fassungsvermögen war erschöpft...
Wenn das Steuerrad nicht wäre, könnte ich meine Knie unter‘s Kinn ziehen, den Kopf darauf legen und in den Winkeln meines Gedächtnisses kramen, um eine meiner schönen Erinnerungen hervorzuziehen und zum tausendsten Male durchzukauen. Mich sehen, hinter dem Steuer von Vaters BMW, Baujahr 1980. Er ist voller Fahrgäste, die ich zu ihrem Fahrtziel bringen will, aber wie sehr ich mich auch anstrenge, das Steuerrad dreht sich nicht. Da taucht Vater in der Gasse auf. Er entdeckt mich, kommt näher, in Schlappen und kurdischen Pluderhosen, und setzt sich neben mich in den Wagen. Ohne mich anzusehen. Er knüllt sein Taschentuch zusammen und fährt damit über das Armaturenbrett.
“Fährst du gern Auto?“
Ich blicke auf das Schwarze unter seinen Fingernägeln.
“Sehr gern.“
Er wischt die Seitenscheibe sauber.
“Wieso? Bist du etwa ein Junge?“
Ich gebe ihm eine Antwort nach seinem Geschmack.
“Ja, ich bin dein Junge.“
Er dreht das Taschentuch und steckt es in den Schlitz des Luftausströmers.
“Dann merk dir gut, was ich dir sage. Wenn du mal Autofahren lernst, dann lern es richtig... Stell deinen Fuß aufs Gaspedal und lass ihn drauf...“
Ich starre auf den bibbernden Rübchen-Verkäufer, der den Teller wieder zurückstellt. Von seinem Atem entsteht ein Dampfgebilde um seinen Kopf. Mein Blick fällt auf meine Schuhe, die neben Kupplungs-, Brems- und Gas-Pedal liegen. Ich ziehe sie an und mir ist, als ob im selben Moment Vater vom Nebensitz auf die Frontscheibe starren, lächeln und sagen würde: „Wenn du etwas kannst, dann leg auch richtig los…“