Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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From the series: Dialoge
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„… what is this, some kind of plague?“ Lawrence Wrights The End of October

Eine vermeintlich moderne „kind of plague“ schildert Lawrence Wright (2020a: 103) in seinem Roman The End of October, der, im Corona-Frühjahr 2020 veröffentlicht, paradigmatisch einige Tendenzen zeitgenössischer Epi-/Pandemieliteratur illustriert. Schon mit seinen Motti aus Defoes Journal und Camus’ Pest knüpft Wright an die große Tradition an; der Plot setzt mit dem Ausbruch einer „mysterious disease“ in einem indonesischen Lager ein (39). Seit Jahren beschäftigt den Protagonisten die Angst vor einer neuen „Pest“ (43); das eklektisch exotisierte „Kongoli“-Virus erweist sich als „the greatest plague humanity has ever known“ (208). Unter Appell an alle fünf Sinne schildert Wright Krankheit und Tod: Via Bildschirm verfolgt Henrys WHO-Kollegenschaft (und die Leserin) die improvisierte Autopsie der „Blue Lady“ (12), trotz Zyanose attraktive junge MSF-Ärztin.

Der Authentizitätseffekt des Romans, „[s]o believably horrifying“ (Green 2020), verdankt sich auch der zeithistorischen Kontextualisierung. Alle ‚Mächte des Bösen‘ lässt der Autor aus nur punktuell kritisch relativierter US-Sicht aufmarschieren, an der Spitze „Big bad Vlad“ (ibid.), als „killer“ und Stalin-Wiedergänger demaskiert (Wright 2020a: 39, 341). Dahinter versammelt sich der restliche „wolf pack“: „Iran. China. North Korea. […] Now they’re ganging up“ (315). Angefangen mit der indonesischen Gesundheitsministerin, „cold-eyed apparatchik“ im Hijab (16), wird mit einer islamischen Gegnerschaft abgerechnet; nachdem die Inhaftierung HIV-infizierter Homosexueller den Nährboden für das Killervirus geboten hat, wird ein Mekka-Pilger zum internationalen Superspreader. Generell ist Religion „one of the few things Henry actually feared“ (63): Über seinen Helden, der von seiner Frühkindheit in der Jonestown-Sekte irreversible Rachitisschäden davongetragen und beide Eltern im Massaker von November 1978 verloren hat, situiert Wright seinen Plot in einem Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissenschaft.

„Suppose it’s not new. Suppose it’s old – really old“: Beim Gegencheck mit einer Datenbank von „archaic viruses“ wird Henrys Team fündig; das dem russischen Feind zugeschriebene Projekt „to make something very old new again“ besitzt auch eine poetologische Dimension (352f.). Dass die Pandemie klimawandelbedingt zoonotischen Ursprungs war, stellt sich zu spät heraus; zwischen Influenza, Cyberattacken und „[c]onspiracy theories competing with actual conspiracies“ (304) ist die globale Lage schon zur „apocalypse“ (349) eskaliert. Mit Blick auf die offene Zeitlichkeit der frühen Corona-Literatur ist Wrights Spiel mit Gattungskonventionen von Interesse. Bei aller Klischeetreue bietet der Roman kein Happy End; jene unvollendete Mail, die die MSF-Ärztin als „ongoing testament“ verfasst, reflektiert die Gesamtstruktur eines Textes, der sich auf ein nicht mehr detailliertes Desaster hin öffnet: „Why did / The email ended there […]“ (23f.). Henry wird das medizinische „puzzle“ (45) zwar gelöst und unter abenteuerlichen Bedingungen ein Vakzin kreiert haben; doch behält er Recht mit seiner Ahnung, „that the ongoing war against disease would inevitably be lost“ (355).

Als mehrfach ausgezeichneter Journalist fiktionalisiert Wright, dessen Roman den propagandistischen Mehrwert pandemischer Belletristik illustriert, wiederholt eigene Reportagen (Green 2020). Auch das Influenzasujet wandert über Genregrenzen hinweg: Die Idee, so der Autor, verdanke er dem Filmproduzenten Ridley Scott; das Szenario entwickelt sich als wie „any other journalistic assignment“ in Angriff genommener Roman fort (Marcus 2020). Seine vermeintliche „prophecy“ sei in Wahrheit „the fruit of research“, betont Wright (2020b). In seinen Text integriert er epidemiehistorische Digressionen von der Justinianischen Pest bis Ebola; seinem angesichts der neuen Krankheit u. a. in Richtung eines „coronavirus like SARS or MERS“ spekulierenden Protagonisten (2020a: 30) legt er eine Hommage an den realen „Dr. Carlo Urbani“ in den Mund, der 2003 die Welt vor „a major pandemic“ bewahrt (53f.). Wie Defoe (1995), der sein Werk als „caution and warning“ präsentiert, betrachtet Wright seinen Roman als „wake-up call“ (zit. Marcus 2020). Mit The Plague Year. America in the Time of Covid (2021) wechselt er retour ins journalistische Genre; freilich wird so mancher romaneske Topos recycelt, der Konnex zwischen Influenza-Fiktion und Corona-Dokumentation etabliert.

Vom Schwarzen Tod zum Corona-Kapitalismus: Poetik und Politik der Pandemie

Wrights Roman umreißt das Terrain, auf dem sich die Corona-Literatur entfaltet; bis in die Gegenwart werden über die Epi-/Pandemiethematik politische Problematiken verhandelt. Selbst in einem nuancierten Text wie Mandels Station Eleven (2014) verbreitet sich die tödliche „Georgia Flu“ von Moskau aus, wobei die Reaktion georgischer und russischer Behörden, „somewhat less than transparent“, die Katastrophe begünstigt (2015: 21); brachialer operiert Robin Cook in seinem „Medical Thriller“ Pandemic (2018): Der Sohn eines chinesischen Milliardärs, der sein Business in die USA verlagert, rächt sich via Sabotage des väterlichen Biotechprojekts.

In diesem globalen Kontext situiert sich auch Ling Mas Severance (2018), 2021 als New York Ghost in deutscher Übersetzung publiziert. Hier ist es eine rätselhafte „fungal infection“ (19), deren Einschätzung zunächst schwerfällt: „Either Shen Fever was no bigger an issue than the West Nile virus, or it was on the level of the Black Plague“ (215). Von frühen, z. T. direkt Corona-aktualisierten Symptomen wie „memory lapse, headaches […] shortness of breath, and fatigue“ führt das Fieber zu „a fatal loss of consciousness“ (19); zombifizierte „creatures of habit“, wiederholen die Kranken bis zum Tod sinnentleerte „old routines“ (28), gefangen in einem „infinite loop“ (62). Jenes „fever of repetition“ (62) karikiert die Deformation des wohlkonditionierten kapitalistischen Subjekts; im verwüsteten New York filmt die Erzählerin eine erkrankte Verkäuferin, die, allein im Shop, ihre jahrelang eingeübten Gesten fortsetzt: „She was clearly good at her job […]“ (258). Zugleich emblematisiert die Epidemie eine auf neokolonialer Exploitation beruhende Ökonomie: Protagonistin Candace, als „New York Ghost“ ihrer chinesischen Kindheit entfremdet, ist für einen US-Medienkonzern mit dem fantomatischen Namen „Spectra“ tätig; dort zeichnet sie für die „manufacture of books“ – konkret Bibeln – „in third-world countries“ (11) verantwortlich, die unter Missachtung der elementarsten Arbeiterrechte vonstattengeht. Aus den chinesischen „manufacturing areas“ mit ihren sozial wie ökologisch desaströsen „factory conditions“ wird das Fieber – so die dominante These – in die USA (re-)importiert (210).

Auch an diesen kapitalismuskritischen Strang moderner Epidemieliteratur knüpft der Diskurs zur Corona-Pandemie an: „Corona-Kapitalismus“ wie „Corona-Nationalismus“ analysiert Bertz (Ed. 2021), während die Initiative ZeroCovid den „kapitalistischen Seuchenstaat“ attackiert (Klein 2021). Dergleichen Reflexionen weisen weit zurück in der Literaturgeschichte: Boccaccio, der seinen Epidemieflüchtlingen einen luxuriösen Landsitz bietet, geistert durch Žižeks Plädoyer für einen neuen Krisenkommunismus (2020: 77). Defoe (1995) schildert, wie im Pestjahr 1665 „the richer sort of people“ eilig London verlässt, ungeachtet der „unhappy condition of those that would be left in it“; zugleich meditiert sein Erzähler über die egalitäre Dimension der Seuche, die „poor and rich“ Seite an Seite „into the common grave of mankind“ schickt.

„… the plague is timeless“? Pandemieliteratur zwischen Mythos und Medizin

„Yes the plague is timeless […]“ (Salcedo 2020: 147): Historisch deckt eine generische „PLAGUE“ (Shelley 2006) ein breites epidemisches Spektrum ab. Weder bei der Pest von Athen, die Thukydides im zweiten Buch seines zu Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. verfassten Peloponnesischen Krieges schildert, noch bei der Antoninischen Pest, die das Römische Reich in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. heimsucht, dürfte es sich um die Pest stricto sensu gehandelt haben; auch die mittelalterliche „pestilenza“ umfasst wahrscheinlich sehr unterschiedliche Krankheiten (Eco 1975: 282). Über diesen polyvalenten Begriff wird eine lange Tradition aktualisiert, die die Funktion von Literatur als Archiv auch der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte illustriert.

Seit der Antike entfalten sich Epidemieliteratur und Erudition in Interaktion: Dies gilt für Lukrez, der Thukydides’ Beschreibung der Athener Pseudo-Pest im sechsten Buch seines Lehrgedichts De rerum natura (1. Jh. v. Chr.) aufgreift; Girolamo Fracastoro, der mit seinem Konzept des contagium vivum die moderne Epidemiologie begründet (De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione, 1546), versifiziert in Syphilis sive Morbus Gallicus (1530) seine medizinischen Erkenntnisse (Fabre 1998: 15, 118f.). Auf wissenschaftliche Expertise setzt auch die Populärliteratur der Gegenwart; so berät das Lilloiser Pasteur-Team Franck Thilliez bei der Kreation jener Influenzamutation, die in Pandemia (2015) das Terrain für den ultimativen bioterroristischen Coup bereitet: den versuchten Re-Start einer Pestpandemie, ausgehend von einem Pariser Kostümfest, das der Attentäter in der Maskerade eines langgeschnäbelten Pestdoktors besucht.

Über die Jahrhunderte liefert die Belletristik so manchen gesellschaftskritischen Kommentar. Alessandro Manzoni integriert in den zweiten Band seiner Promessi sposi eine Digression zur Mailänder Pestepidemie 1630, die – vom „verstockte[n] Leugnen“ über sabotiertes Contact-Tracing bis zum Konspirationsnarrativ – frappierend aktuell anmutet. Manzoni kritisiert die inadäquate Reaktion der Autoritäten, aber auch das „Benehmen der Bevölkerung“ in ihrer „stumpfsinnigen, tödlichen Zuversicht“; pointiert seine Analyse der heute digital multiplizierten „Masse allgemeinen Aberwitzes“, die „Erdichtungen der ungelehrten Menge“ und „der gebildeten Leute“ amalgamiert. Klassische Literatur scheint allerlei Irrglauben zu authentifizieren: „[…] man führte den Livius, Tacitus, Dio, was sage ich? Homer und Ovid und viele andere Alte an […].“ Mit ironischem Blick auf das vorhandene Corpus skizziert der Autor das Projekt einer konsequent aufbereiteten „Geschichte der Pest“: „[…] die Berühmtheit der Bücher hängt doch eben von so vielen Dingen ab!“

 

Zwischen wissenschaftlicher Dokumentation und kreativer Emanzipation entsteht die moderne Epidemieklassik: Wie Manzoni greift Camus mittlerweile etablierte Topoi auf (so das anfängliche Versagen der Behörden, die Scheu vor dem Wort ‚Pest‘, die ambivalente Rolle der Ärzteschaft); im Rahmen seiner Recherchen konsultiert er u. a. die Werke des Epidemiologen Adrien Proust, Vater des Autors der Recherche du temps perdu. Unter pittoresker Ausschmückung historischen Materials schildert Jean Gionos Le Hussard sur le toit (1951) die Choleraepidemie in der Provence 1832; mit seiner Filmversion (1995) setzt Jean-Paul Rappeneau Gionos z. T. fiktives Krankheitsbild auf der Leinwand um. Die Große Pest von Marseille 1722 evoziert Marcel Pagnols posthum publizierte Novelle Les Pestiférés, 2019 als Comic adaptiert; zu einer Zeit, da die Kontroverse zwischen Miasmatikern und Kontagionisten in vollem Gange ist (Fabre 1998: 117–123), setzt Maître Pancrace auf die antike Autorität: War nicht schon der „historien grec Thucydide“ der Meinung, gegen die Pest seien „la flamme et la fuite“ die einzigen „vrais préservatifs“?

An Schrecken verliert die Pest mit der Entdeckung Alexandre Yersins, der 1894 das nach ihm benannte Bakterium Yersinia pestis identifiziert. Als wissenschaftlichen Abenteuerroman erzählt Yersins Parcours Patrick Deville in Peste & choléra (2012): Aus der „bataille scientifique“ (2013: 118) mit seinem Konkurrenten Kitasato Shibasaburō, Schüler Robert Kochs, geht Yersin ironischerweise dank mangelhafter Ausstattung als Sieger hervor. Seine anlässlich der Hongkonger Pestepidemie 1894 angestellten Studien dokumentiert er in einem knappen Artikel für die Annales de l’Institut Pasteur; „fantôme du futur“ (17), begleitet der Erzähler Yersin bis zum Zweiten Weltkrieg, da eine metaphorische „peste brune“ die Welt bedroht (11).

Für eine heutige Leserschaft hält eine historisch fokussierte Epi-/Pandemiebelletristik eine optimistische Botschaft bereit: Im Zuge einer literarisch verarbeiteten Erfolgsgeschichte werden Medikamente und Vakzine entwickelt, Krankheiten besiegt. Zugleich reflektiert das Genre archaische weltanschauliche Relikte, deren Reaktivierung die Krisensituation favorisiert; diese Spannung illustriert Philip Roths Nemesis aus dem Jahr 2010.

Wider die „tyranny of contingency“? Philip Roths Nemesis

„Polio is polio – nobody knows how it spreads“: Rund um eine weitere „mysterious disease“ dokumentiert Philip Roths letzter Roman Nemesis (2010: 31, 103) ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Die älteren Figuren erinnern sich angesichts der Polioepidemie im Newark des Jahres 1944 an „its frightening precursors“, an eine Ära, da „whooping cough victims“ eigene stigmatisierende „armbands“ zu tragen hatten, da in Ermangelung eines Vakzins Diphtherie „the most dreaded disease in the city“ war (89); Anlass zur Sorge gibt auch Malaria, ebenfalls noch „an unstoppable disease“ (4). Mit Malariaimpfungen wird ab 1948 experimentiert; dank der Entwicklung zweier Poliomyelitisvakzine 1955 und 1960 kann die Krankheit global zurückgedrängt werden.

Zu spät für Roths Helden Bucky Cantor, der als Jugendsporttrainer zum noch asymptomatischen „healthy infected carrier“ (236) wird und sich im Nachhinein als neue „Typhoid Mary“ anklagt (248); dies mit Bezug auf die unter diesem Spitznamen in die Medizingeschichte eingegangene Mary Mallon, die als selbst nie erkrankte Typhusträgerin – und von Beruf ausgerechnet Köchin – in New York 1900–1915 Dutzende von Menschen infiziert. Als einer der Schützlinge Cantors war auch Erzähler Arnie Mesnikoff „unfortunate enough to get polio eleven years too soon for the vaccine“ (249). Mit seinem sportlichen Engagement partizipiert der Protagonist, der unter seiner Wehrdienstuntauglichkeit und erzwungenen Nichtteilnahme am Zweiten Weltkrieg leidet, an einer Mission der Kontersozialisation jüdischer Kinder – d. h. v. a. jüdischer Jungen, Nemesis bleibt ein männlich fokussierter Roman – zu auch körperlicher Courage und Kraft. Die vom „Board of Health“ zunächst geleugnete „epidemic of poliomyelitis“ (1f.) provoziert freilich eine massive antisemitische Reaktion (192f.); der Stadtteil verwandelt sich in ein neues Ghetto, während die Community in Gestalt der „colored cleaning women“ ihre eigenen Sündenböcke identifiziert (82).

Wie bei Camus erscheint die Epidemie als Zuspitzung der conditio humana in ihrer Absurdität: „There is none“, antwortet Bucky dem Vater des ersten toten Jungen, als jener verzweifelt nach der „fairness in that“ fragt (47). Schon beim Begräbnis richtet sich sein Zorn „against God, who made the virus“ (127), und dessen mit „the very existence of polio“ inkompatible Glorifikation (75). Nach seiner Erkrankung und rekonstruierten Rolle als fataler ‚Pfeil‘ aus dem Köcher der Rachegöttin Nemesis rebelliert er gegen jene „tyranny of contingency“ (243); als Zweifaltigkeit eines „a sick fuck and an evil genius“ in sich vereinenden Gottes resümiert der Erzähler Buckys Lösung des Theodizeeproblems (265). „There is an epidemic and he needs a reason for it. He has to ask why. Why? Why?“ – so die Schlüsselfrage selbstdestruktiver Sinnstiftung, die der Atheist Arnie als „stupid hubris […] the hubris of fantastical, childish religious interpretation“ verwirft (265), bevor er die eigene Argumentation aus den Angeln hebt: „Maybe Bucky wasn’t mistaken. […] Maybe he was the invisible arrow“ (274f.).

„From outer space!“ Corona-Literatur als Inter- und Konterdiskurs

Als kritischer Inter- und Konterdiskurs reflektiert auch die Corona-Literatur wissenschaftlichen Fortschritt wie archaische Resurgenz. Rasch etabliert sie ihr Heldenpersonal: Li Wenliang wird zur „Ikone“ (Yang 2020); mit Camus’ Rieux verglichen, inspiriert der „Doc who was whistlblower Dr Li“ – so die SMS eines adoleszenten Fans in Ali Smiths Summer (2020: 40) – manch literarische Hommage. Angesichts eines auch wissenschaftlich noch offenen Horizonts gewinnt entsprechende Expertise umso größeres Gewicht: „Being a doctor helped me write about virology with authenticity“, betont Kumar Shyam zu seinem Pandemic Plot (zit. Sharma 2020). In seiner Doppelidentität als Schriftsteller und Wissenschaftler analysiert Giordano die „Mathematik der Ansteckung“ (2020: 15); als „biologist and science fiction writer“ inszeniert Yoss eine Miniaturparodie: Auf der Straße von Passanten konsultiert – könnte „the new coronavirus“ nicht doch „from space“ gekommen sein? –, lässt er sich auf das Spiel ein: „[…] maybe that’s why completely new flu strains appear every few years. From outer space!“ (Stars 420).

Im Corona-Kontext erleben kaum minder wüste Konspirationstheorien eine Konjunktur; über die kosmische Herkunft von SARS-CoV-2 spekuliert Igor’ Prokopenko, der von seinem Flat-Earth-Steckenpferd auf das Corona-„Killervirus“ (Koronavirus. Virus-ubijca) umsattelt. Alte Sündenböcke werden reanimiert: Während die lokale Bevölkerung bei Manzoni in Pestzeiten alle, „deren Kleidung, Haarschnitt und Reisesäcke sie als Fremde und, was noch schlimmer war, als Franzosen bezeichneten“, voll Misstrauen betrachtet, ist nun das ‚Chinese Virus‘ an der Reihe. Auch wenn – im Gegensatz zur irreführend als ‚Spanische‘ titulierten Grippe – der offizielle Corona-Diskurs Virusvarianten ethnisch neutral rechiffriert, werden „dormant and longstanding prejudices“ aktiviert (Salcedo 2020: 139). „Wer hatte nun die Schuld an der ganzen Sache? Die Chinesen? Die Amerikaner? Die Fledermäuse? […] Eins stand fest. Wir waren es nicht. Schuld sind noch immer die anderen gewesen“, wie Wladimir Kaminer (2021: 23) die auch im Zeitalter der „Coronauten“ gültige Maxime formuliert.

In Nigeria gilt die Corona-Krise als „christliche Verschwörung“, im Iran als „zionistisches Komplott“ (Butter 2020: 226); von den mit schweren antisemitischen Ausschreitungen einhergehenden Pestepidemien des Mittelalters führt eine direkte Linie zur aktuellen Pandemie. Nicht nur im Internet, sondern auch auf Anti-Maßnahmen-Demonstrationen remanifestiert sich, so Peter Longerich, „eine Art globaler Antisemitismus“ (Pumberger 2021), den schon die frühe Corona-Literatur kritisch kommentiert: „Wie einen die Allgegenwärtigkeit des Antisemitismus ständig und zugleich unvorbereitet trifft!“ (Schneider 2020: 132). In Osteuropa dienen z. T. die Roma als „Sündenböcke der Pandemie“ – und ziehen sich ihrerseits in eine religiöse Phantasiewelt zurück: „Wir glauben hier nicht an Corona […] Wir glauben an Jesus“, erklärt ein Bewohner von Fakulteta, dem größten Roma-Viertel Sofias (zit. Wölfl 2021), unter naiver Perpetuation einer jahrtausendealten Parallelgeschichte von Epi-/Pandemie und Religion.

Von Homer bis Corona: Epi-/Pandemie und Religion

Homers Ilias führt jene Epidemie, die die griechische Armee gegen Ende des Trojanischen Krieges heimsucht, auf eine Intervention Apolls zurück; die Vision der Krankheit als „göttliche Epiphanie“ (Marx 2020) konzentriert ein mythisches Weltbild – und stellt eine Herausforderung für moderne Rewritings dar: Während Madeline Miller in The Song of Achilles (2011) das Szenario plausibilisiert, wird die direkte Aktion der Götter in Alessandro Bariccos Omero, Iliade (2004) eliminiert. Das religiöse Paradigma dominiert über viele Jahrhunderte: In Boccaccios Decameron wird die Frage nach der Ursache jenes „tödliche[n] Pestübel[s]“, „entweder durch Einwirkung der Himmelskörper entstanden oder […] von Gott als Strafe über den Menschen verhängt“, elegant suspendiert. Als „vengeance de Dieu“ erscheint die Pest in Agrippa d’Aubignés Poem Les Tragiques (1616: 231); in seiner Fabel Les Animaux malades de la peste (1678) assoziiert La Fontaine Religionstopos und allegorisierte Gesellschaftskritik.

Als Dokument einer Übergangsepoche ist Defoes Journal of the Plague Year von besonderem Interesse. Auch zur Zeit der Pest von Marseille, da Defoe sein Werk verfasst, beschwört der Bischof der Stadt einen „Dieu irrité“ (zit. Fabre 1998: 139). Und doch vollzieht sich schon lange vor der Revolution eine schleichende Dechristianisierung; als „Geschichtsakzelerator“ enthüllt die Epidemie die sukzessive „Entzauberung der Welt“ (ibid.: 158f.). Diese reflektiert Defoes Journal (1995): Gegenüber der „atheistical profane mirth“ einiger Libertins verteidigt der Erzähler die Deutung der „Divine vengeance“; andererseits repräsentiert er die Stimme aufgeklärter Vernunft: Luzide analysiert er seine eigene Prägung durch die Doxa der Epoche, so in Bezug auf den Kometen, der die Pest angeblich ankündigt (wie ein anderer den Großen Brand von London im Jahr darauf) – weiß er doch sehr gut, „that natural causes are assigned by the astronomers for such things […]“. Diese Spannung besitzt eine sozioökonomische Komponente. Als gebildeter, wohlhabender Mann steht „H. F.“ über den „delusions“ der „poor people“; es sind die Armen, die auf allerlei „quacks and mountebanks“ hereinfallen, ihr Geld für „charms, philtres, exorcisms, amulets“ verschwenden. Unübersehbar die Genderdimension: Die rationale Männlichkeit des Erzählers bestätigt die Aversion gegen „old women“ – beiderlei Geschlechts – und „old wives’ tales“.

Der Protagonist von Mary Shelleys Last Man (1826), Ende des 21. Jahrhunderts angesiedelte Dystopie, tritt als Leser früherer Epidemieliteratur in Erscheinung; unter Anknüpfung an „De Foe’s account“ wandern ominöse „meteors“ und „mock suns“ durch den Text. Auch dieser Erzähler widersteht der Versuchung des Glaubens an „supernatural events, to which the major part of our people readily gave credit“; das Missbrauchspotential einer kollektiven Krisensituation illustriert der Konflikt mit einem kriminellen „impostor-prophet“ (2006). Als „quintessential tale of a worldwide pandemic“ (Latham 2020) stiftet The Last Man ein vielfach variiertes Modell. Wie Shelley porträtiert Mandel einen mörderischen Pseudopropheten, der parallel einen anderen Klassiker zitiert: Seine Ausführungen über ein zum „avenging angel“ überhöhtes Virus (2015: 60) evozieren die erste Predigt des Priesters Paneloux bei Camus, da jener unter Berufung auf Jacobus de Voragines Legenda aurea den „ange de la peste“ beschwört (2020: 115f.). Auf Defoes wie Shelleys Spuren wird die Relation zwischen Ratio und Religion ein weiteres Mal ausgehandelt, die Interpretation der Epidemie als „punition collective“ (ibid.: 149) aus der Perspektive Rieux’ refutiert, bevor Paneloux – Pest oder nicht? – als mehrdeutiger „[c]as douteux“ stirbt (ibid.: 269).

 

Literarisierte Religionskritik bietet zwei Jahre nach Camus auch George R. Stewart in seinem biblisch betitelten SF-Roman Earth Abides (1949). In den postpandemisch entvölkerten USA figuriert Stewarts „Last American“ (2015: 316) als letzter Repräsentant der „Civ-vil-eye-za-shun“ (219) – das Wort selbst wird zur Parodie; die Frage, ob es die Wiederherstellung jener auf „slavery and conquest and war and oppression“ (344) begründeten Zivilisation zu wünschen gilt, wird auch in religiösem Licht reflektiert. Dem Helden selbst, inoffizieller Anführer einer Gruppe von Überlebenden in der San Francisco Bay, ist klar, dass er „the founder of a religion“ (223), ja „a god“ (232f.) für die Nachwelt werden könnte; der „honesty of his own skepticism“ verpflichtet, leistet er stattdessen Widerstand gegen die Esoterismen, mit denen das ideologische „vacuum“ sich füllt (223). Als eine neue „epidemic“ (274) die Gemeinschaft ereilt, taucht die alte Frage auf, ob es sich womöglich um eine göttliche Strafe handle – aus der Sicht einer nicht-ganz-weißen Frau protestiert die Gefährtin des Protagonisten, die auf keinen Fall „the angry God, the mean God“ wiederauferstehen lassen möchte: „Let us not bring Him back! Not you too!“ (281).

Mandels „prophet“, Reinkarnation einer langen intertextuellen Tradition, stirbt mit seinem persönlichen Palimpsest in der Tasche, einem bis zur Unleserlichkeit bekritzelten Exemplar des Neuen Testaments (2015: 303). Der Diskurs dieses Recycling-Propheten antizipiert die unheimliche Wiederkehr religiöser Narrative im Corona-Kontext; angesichts „eschatologischer Resurgenzen aus einem fernen Mittelalter“ (Schnapp 2020) ist Stichweh (2020: 203) nicht zuzustimmen, wenn er befindet, „dass dem Anschein nach nirgendwo religiöse Deutungsvarianten des durch das Virus ausgelösten Krisengeschehens […] eine relevante Rolle spielen“; wenn auch im Vergleich zu früheren Epochen marginalisiert, wird jene „traditionelle Sinnressource“ (ibid.) sehr wohl aktiviert – und paradox digital amplifiziert. Auch anderweitig erlebe man derzeit, ironisiert Beigbeder, „une nouvelle version de la guerre de religion“, die „Dieu par Twitter“ ersetzt (2021: 24).

Dies nicht nur in aus eurozentrischer Perspektive exotischen Gefilden: So registriert eine okzidentale Leserschaft eventuell mit einer Spur postkolonialer Arroganz, dass Sakpata, Pockengott der westafrikanischen Ewe, ein Corona-Revival widerfährt (B. Meyer 2020: 148f.) oder dass Tansanias Staatschef John Magufuli auf einen „Gebetsmarathon“ setzt (Dieterich 2021), bevor er selbst mutmaßlich an Covid stirbt; allein: Nicht nur Jair Bolsonaro ruft zum nationalen Fasttag auf, auch (inzwischen Ex-)US-Vizepräsident Mike Pence „Wants You to Pray the Coronavirus Away“ (Walters 2020). Wenig überraschend ist für die IS-Terrormiliz „Gottes Hand“ am Werk (zit. Kurier 2020); absehbar auch die christliche Hardcore-Interpretation: In zweifelhafter Orthographie übermittelt Kate Blitz ihre Corona-Prophecies From God (2020); im praktischen E-Format erfährt die Leserin, warum dieser exakt 2045 ein „Second Deadly Black Virus“ zu schicken gedenkt. An der Anti-LGBT+-Front finden Repräsentanten unterschiedlicher Religionen zueinander; ein US-Pastor warnt vor dem „homovirus“, während ein sephardischer Rabbi Pride-Parades als Trigger göttlicher Rache identifiziert (Greenhalgh 2020). Eine gewisse Ambiguität zeigt sich bis hinein in den Mainstream der großen Monotheismen: Der Churer Weihbischof ortet seinerseits eine „Strafe Gottes“ (Kajan 2020); im deutschen Kontext ist die Kontroverse zwischen Henryk M. Broder und Heinrich Bedford-Strohm als EKD-Ratsvorsitzendem aufschlussreich. In Polen werden Anti-Corona-Rosenkränze via Facebook gebetet, doch auch im laizistisch geprägten Frankreich erläutert der Bischof von Bayonne die aus der Pandemie zu ziehenden „leçons de conversion et de purification“; auf ihren „causes spirituelles“ insistiert der Imam von Brest (Daussy 2020). Nicht nur in der Krise neu entstandene, sondern auch etablierte Sekten wie die Zeugen Jehovas setzen auf sozmediale Mission (Brändle 2021).

Diese Renaissance archaischer Religiosität wird literarisch parodiert: „[…] it is God who decides the fate of man. […] Nothing’s going to stop the Armageddon“, resümiert Großtante Rita in Rivers Solomons „Prudent Girls“ die jehovistische Version. Schon vor Corona in einer texanischen Kleinstadt und ihrer religiös indoktrinierten Familie gefangen, beschließt die Protagonistin, das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen; tatsächlich gelingt es Jerusha, ihre in einer antisanitären „crowded facility“ inhaftierte Mutter, verstoßene „apostate“, zu befreien: „Jerry had wrought her own Armageddon, and liked it“ (DP 242, 250). Mit „Rieux et Oreste“ argumentiert Lévy gegen die Paneloux-Wiedergänger unserer Zeit und die Falle der „religiosités laïques“ (2020: 38, 45–49). Beim Blick auf die esoterischen Blüten, die die Pandemie selbst in Ärztekreisen treibt, scheinen Manzoni und Defoe (1995) nicht weit: Vom 1665 in London feilgebotenen „only true plague water“ führt ein erstaunlich direkter Weg zum Anti-Corona-Wasser, das eine österreichische Medizinerin präsentiert (Kreil 2021). Gegen oberflächlich säkularisierte Deutungen im Rahmen einer „écologie punitive“ (Le Goff 2021: 29) ist die frühe Corona-Literatur nicht immer gefeit: „Is this nature’s answer to its plundering by civilization? […] Or is this all a divine message […]?“, fragt sich Gábor T. Szántó (Stars 349).

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