Allah ist unsichtbar

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3.2.4 Die Briefe

Dionysius Areopagites verwendet in seinem CD sowohl hoch philosophische, komplizierte Ausdrucksweisen wie in der MT als auch einen eher einfacheren, beschreibenden Stil wie z.B. in Teilen seiner Hierarchienlehre oder eben auch in seinen Briefen.

Die Briefe Dionysius Areopagites kann man grob in 5 Gruppen teilen:

1) Die Briefe I–V behandeln Fragen, die sich im Anschluss an seine apophatische Theologie ergeben.

2) Den Briefen VI und VII schreibt man gerne das Anliegen des respektvollen Umgangs mit anderen Religionen oder Weltanschauungen, der Irenik im Verhältnis zwischen Christen und Heiden zu.[196]

3) Brief VIII ist in meinen Augen eine wunderbar rasante Philippika gegen fanatisches, unversöhnliches Verhalten, welches sogar in eine aggressive Kompetenzüberschreitung ausartet.

4) Brief IX beschäftigt sich noch einmal mit Deutungen, die sich aus symbolischer (positiver) Theologie ergeben und

5) Brief X scheint mir – verkleidet in einen sehr freundschaftlich-warmen Brief – schlussendlich eine Utopie der Befreiung auszudrücken, symbolisch beschrieben im Wunsch nach der Befreiung des Johannes aus seiner Verbannung: Du wirst aus dem Gefängnis auf Patmos befreit werden und nach Kleinasien zurückkehren. Und dort wird dein Handeln die Werke des guten Gottes nachahmen, und Du wirst es denen überliefern, die nach Dir kommen.[197]

Zu 1)

So findet sich auch in den Briefen III und IV eine der ausführlicheren Stellung­nahmen zur Rolle Jesus Christus,[198] der – selbst wenn er als Mensch sichtbar wurde – letztlich immer noch Anteile des geheimnisvollen «Verborgenen» hat.[199]

Als Gott, hebt ihn seine Menschenliebe (und «Liebe» ist hier durchaus als jene grosse treibende Kraft der Gottesoffenbarungen, Gottesschöpfungen oder Aus­strahlungen generell zu sehen, wie sie seit Platos philosophischen Erörterungen das ganze Welt- und Gottesgefüge bewegt), jedoch über das reine Menschsein hinaus.

«Beweise» oder Allegorien für sein «übermenschliches» Wirken bilden die Wun­der, die gewissermassen im Sinne einer positiven Theologie (= «bejahend») zu verstehen sind.

Dionysius Areopagites ist dagegen, «Gott» und «Mensch» allzu deutlich vonein­ander abzusetzen,[200] man könnte auch von einer Art gemässigten Monophysitis­mus[201] bei ihm sprechen.[202]

Zu 2)

Letztlich ermöglicht erst eine konsequent apophatische Theologie, meiner Mei­nung nach, auch das Einnehmen einer interreligiös kompetenten und sogar stre­cken­weise mediatorisch vermittelnden Haltung.[203] Eine Fähigkeit, die zu Leb­zeiten dringend geboten war, konnte man doch verbannt oder sogar hinge­rich­tet werden, wenn man nicht die richtige Position im Streit mit den «Heiden» oder in der geistigen Schlacht, die leider oft sehr realistische Folge für ihre Protagonisten hatte, um das wahre Wesen Jesu Christi einnahm.

Von daher ist es nur logisch, das auf seine oben referierten Briefe nun zwei mit Ermahnungen zur interreligiösen Toleranz folgen.[204] Wobei man mit Vergnügen liest, dass Dionysius Areopagites durchaus auch Anflüge von Humor besitzt; eine wichtige Kompetenz bis heute, um gelassen in interreligiösen Konflikten vermit­teln zu können.

Dionysius Areopagites ist eigentlich ein fast moderner Aufklärer, glaubt er doch daran, dass Wahrheit eindeutig, mit den Mitteln der Logik und der Philosophie, bewiesen werden kann.[205]

Diese Wahrheit spricht dann für sich selber und muss überhaupt nicht – schon gar nicht in polemischer oder andere herabsetzender Weise – verteidigt wer­den.

Aus­serdem hält Dionysius Areopagites dieses Argumentieren und ständige Wider­legen für ein endloses und deshalb letztlich mühsames Geschäft.[206] Eine Auffas­sung, die gerade erst kürzlich in einem 1500 Jahre jüngeren Text fol­gender Massen aktualisiert wurde: «Es gibt Kirchenmänner, die heute darüber klagen, dass seit 40 Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert werden. Das sollte eigen­tlich einen durchschnittlich intelligenten Menschen nicht über­raschen. Die glei­chen Probleme werden immer wieder thematisiert, weil sie nicht gelöst sind.»[207]

In positiver Weise empfiehlt wohl auch Dionysius Areopagites, den Blick von den end­losen Streitereien weg auf das eigentlich Wesentliche zu richten: Gott, von Dio­nysius Areopagites, nach Aristoteles, im Bild des «grossen Bewegers» verdeut­licht, der die kosmische Ordnung (sogar mit ihren für die damaligen Zeiten aus­ser­gewöhnlichen und nicht nachvollziehbaren Unregelmässigkeiten) am Laufen hält.

Zu 3)

Der Übersetzer der Briefe des Dionysius Areopagites, RITTER, weist nun dem VIII. Brief eine eigene Kategorie zu, indem er das Augenmerk seiner Inter­pretation eher auf den Bruch der kirchlichen Ordnung durch einen reni­tenten Kleriker richtet. RITTER sieht hier eine gravierende Ordnungswid­rigkeit.[208]

Liest man jedoch Brief VIII als Ergänzung der Briefe VI und VII, so erscheint er als eine sehr praxisnahe Darstellung intoleranten, ja fanatischen Verhaltens, wel­ches eben sogar die geheiligte («geheiligt», da Abbild und Fortführung der himmlischen Ordnung) irdisch-kirchliche Ordnung nicht achtet.

Ich gehe also mit RITTER nicht konform, der hier einen Beweis für ein statisches Verständnis des Hierarchiebegriffes sieht. Ganz im Gegenteil: Dionysius Areopa­gites beschreibt im vorausgehenden Brief sogar die himmlische Hierarchie als durchaus unregelmässig und voll unerwarteter, möglicherweise unordentlicher Ereignisse. Das Gute/Eine hält jedoch diese Hierarchie in Bewegung und Balan­ce, trotz prozessualer Unordnungen – und so eben auch auf der kirchlichen Ebene: Nicht Strafe oder Verstossung trifft den prügelnden und tretenden Mönch, sondern Güte und lauteres Vorbild sollen den Kompetenzüberschreiter wieder zur Einsicht bringen.[209]

Der Brief endet mit der Vision eines gewissen Karpus, den eine Art gerechter Zorn dazu führte, schadenfreudig und voll «Groll und Bitterkeit» sogar selber dabei mitzuhelfen, seine Gegner in einen Höllenabgrund voller Schlangen und Dämonen zu stürzen, die bereits an ihren Füssen zerren während er sich um die Vorgänge in der Höhe nicht weiter gekümmert hatte.[210] … bis er mit Schrecken bemerkte, dass er beinahe sogar Jesus selber hinab gestossen hätte, der sich, als men­schenfreundlicher Engel getarnt, bemühte, diese Gegner vor dem Ab­sturz zu retten.[211]

Zu «lehren», nicht zu «strafen», so Dionysius Areopagites sei die Aufgabe der verschiedenen Stände innerhalb der kirchlichen Hierarchie.[212]

Dieses Gute zu tun ist übrigens nicht nur allein an sich vernünftig und gut, son­dern auch notwendig, da Strafen oder sonst Böses-Tun auch unmittelbar auf jene zurück wirkt, die sich so verhalten.[213]

Eine etwas verklausulierte Ausführung der berühmten, «internationalen» Golde­nen Regel: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu.»

Meine Meinung nach hat das Starren auf mögliche historische Ereignisse, mit deren Hilfe Dionysius Areopagites wahre Identität festgestellt werden könnte wie den Blick verstellt auf die eigentliche Botschaft von Dionysius Areopagites in diesem VIII. Brief: Dass nämlich eine konsequent apophatische Haltung auch die Grundlage für gütiges und verzeihendes Verhalten sein kann.[214]

Aber so, wie eben «die Wissenschaftler» einfach nicht ruhig vor einem ungelösten Rätsel, hier dem Inkognito des Dionysius Areopagites, stehen bleiben konnten und prompt in die Falle irgendwelcher Sonnenfinsternisse stolperten, können Men­schen vielleicht generell nicht vor dem «Rätsel Gott» stehen bleiben: Mög­licherweise ist es schwerer, Unwissenheit zu akzeptieren als irgendeinen «allein selig machenden» Glauben.

Kirchliche Hierarchie hätte hier aber, Dionysius Areopagites recht verstanden, die wichtige Funktion, hilf- und lehrreiche Leitplanken für dieses irgendwie ja auch sehr moderne Gefühl der spirituellen Ungewissheit zu bieten. Kirchliche Hierar­chien mit ihren positiven und symbolischen Handlungen böten eine Hilfestellung, diese letztliche Ungewissheit auszuhalten.[215]

4 Eine neue Gründerfigur
4.0 Einleitung

In den folgenden Kapiteln möchte ich die Person des Religionsgründers Moham­med sowie seine Verkündigungen dem christlichen Philosophen und «Erfinder» der Bezeichnung «mystisch», Dionysius Areopagites gegenüber stellen, denn ich fand es faszinierend, diesem ungreifbaren Phantom die zeitgenössische, sehr real-politische Gestalt eines historisch verbürgten Propheten und Religions­grün­ders gegenüber zu stellen, welcher um 570 geboren wurde.[216]

 

Möglicherweise könnte so auch verständlich werden, weshalb Mohammed und die von ihm begründete Religion des Islam oft bei jungen Leuten, die eine westliche Erziehung genossen haben auf so viel Sympathien und Nachfolge stösst: Moham­med scheint einer gewesen zu sein, der seine Sache verfocht und überlebte, einer der noch zu Lebzeiten seinem Glauben den Grundstein eines Weltreiches legte, einer der verheiratet war, Kinder und Schwiegerkinder hatte und nicht so kompliziert den Anspruch erhob, ein «Sohn» Gottes zu sein, sondern sich selbst nur als «Schreibrohr»[217] des göttlichen Wortes sah.

Neuere Forschung verwendet die Bezeichnung «der Verkünder»[218] und legt das Gewicht der Darstellung des Lebens Mohammed stärker auf den Aspekt einer sich formierenden Gemeinde, zu welcher der Gesandte sprach und mit der er in Wechselwirkung trat.

Auch das weitere, geografische Umfeld des östlichen Mittelmeerraumes sowie der Arabischen Halbinsel, in welchem zu Lebzeiten Mohammeds eine sehr vielfältige und differenzierte Debatte verschiedener philosophischer und religiöser Strömun­gen statt fand und i n die hinein und in Auseinandersetzung mit der sich diese neueste, jüngste monotheistische Religion etablierte, rückt heute stärker in den Mit­telpunkt der Aufmerksamkeit wie ich in den folgenden Kapiteln darstellen wer­de: Es gab mindestens fünf, wenn nicht sogar noch mehr «Modelle» mono­theistischer Spiritualität auf der Arabischen Halbinsel des ersten Jahr­tausends n.d.Z., zu denen nun der werdende Islam als Sechstes oder Zehntes in Konkurrenz trat.

Im Abschnitt 4.2 stelle ich dann Inhalte und literarische Formen der Verkündi­gung dar – in ähnlicher Weise den Dialog wahrend zwischen der Auffassung des Korans als rein literarischem Objekt einer historischen Literaturwissenschaft und jener, welche einfach glaubt, dass dieser Koran tatsächlich das unübersetzbare Wort Gottes sei, in Hocharabisch durch den Mund des Engels Gabriel Mohammed übergeben – so wie ich das mit Biografie und Person Mohammeds im Abschnitt vorher versuchte.

Zu diesem Zweck verwende ich meine Methode einer «spirituellen Interpre­tation», die ich dort dann näher erläutern werde.

Der Abschnitt 4.3 setzt sich dann mit den verschiedenen monotheistischen Diskursen auf der Arabischen Halbinsel auseinander, um das neuplatonische und insbesondere apophatische Denken im östlichen Mittelmeerraum, welches ich ins­besondere in der geheimnisvollen Person des Dionysius Areopagites vorstellte, in einen konstruktiven Bezug mit den theologischen Neuerungen, wie sie im Gefolge von Mohammeds Verkündigungen entwickelt wurden, in Beziehung zu setzen.

Wie bereits angekündigt, setze ich also diese Offenbarung in den Kontext einer möglichen apophatischen Tradition.

4.1 Der Greifbare:
Leben und Intentionen Mohammeds
4.1.1 Quellen zur Biografie Mohammeds

Als historische Quellen zur Biografie Mohammeds gelten:[219]

Der Koran selber

Die Prophetenliteratur der Sira[220]

Die Hadithensammlungen

4.1.1.1 Der Koran

In einigen Suren äussert sich Mohammed im Koran selber zu seiner Biografie. So z.B. in Sure 93, Vers 6: «Fand er dich nicht als Waisen und ernährte dich?»[221]

Nun hat der Koran eine sehr vielschichtige Bedeutung, Funktion und Entstehungs­geschichte. Ebenso wie andere heilige Bücher anderer Religionen ändert sich die Bedeutung durch den Rezipienten: Ist die lesende Person z.B. gläubige Anhänge­rin der vorgestellten religiösen und anderen Informationen? Liest sie den Text historisch-kritisch von aussen? Als WissenschaftlerIn oder Privatperson auf der Suche nach spirituellen Erkenntnissen? Wird er als Eins-zu-Eins-Offenbarung Got­tes gelesen? Im hocharabischen Original oder in einer modernen «Übersetzung»?

NEUWIRTH nennt den Koran einen «integralen Teil der Debattenkultur der Spät­antike» entstanden aus der «Interaktion zwischen Sprechern und Hörern»[222]

Er war zuerst einmal eine mündlich gegebene Botschaft, die im Nachhinein, etwa 20 Jahre später, aufgeschrieben wurde und somit auch eine andere Funktion bekam: Von einer Art öffentlichen Diskussion zu einer (auch) Hagiographie.

Eine Hagiographie – das gilt übrigens insbesondere auch für die gleich zu bespre­chende Prophetenliteratur und die Hadithensammlung – hat so Allerlei zu leisten:

Vor dem Hintergrund der vorhandenen Werte einer Kultur, stellt sie das Leben des/der Heiligen gewissermassen im Kontrast dar, denn immerhin ist diese Person Verkünder, Träger neuer Werte.

Je nach dem, wie gross der zeitliche Abstand zwischen der ursprünglichen Ver­kün­digung und der Verschriftlichung ist, bedeutet die Hagiografie auch die Anti­these zu jenen Werten, die die Kultur im Zeitraum des Aufschreibens be­herr­schen.[223]

Möglicherweise haben sich aber im Verlaufe von Jahrzehnten oder gar Jahr­hunderten auch die Werte der Religionsgemeinschaft verändert, verschoben, so dass die Hagiographie eigentlich eher diese neuen Werte darstellt, denn die alten, ursprünglichen. Ein Beispiel dafür ist z.B. die Darstellung Jesu im Laufe der Jahrhunderte: Vom ersehnten «Befreier» und «Gegenkönig» Israels über den Pankrator, Herrscher der Welt zum sanftmütigen Langhaarhippie und Mitglied der Friedensbewegung in unserer Zeit.

Im Koran mischen sich nun diese Funktionen mit jenen anderen der Verkün­digung, der politischen Festigung einer neuen Gemeinschaft, der Absetzung gegen­über anderen monotheistischen Vorstellungen, Darstellungen historischer Abläufe, usw.

Anders als in Bezug auf die historisch-kritische Lesart der Bibel, welche etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, arbeitet eine entsprechende wissen­schaft­liche Tradition islamischer Theologiewissenschaften erst seit wesent­lich kürzerer Zeit und ist, auch aus sprachlichen Gründen, nur schwer in Europa zugänglich – so man nicht Orientalistik oder arabische Sprachen studiert.

4.1.1.2 Die Hadithensammlung

Etwa im 7. Jahrhundert[224] beginnt man, Erzählungen, Legenden, Berichte, usw. zum Leben des Propheten aufzuschreiben und weiter zu geben.[225]

Hier geht es nun ganz eindeutig darum, ihn als ein moralisches Vorbild, als «recht geleiteten» Menschen darzustellen. Seine Handlungen, die zitierten Anweisungen, Warnungen, etc. haben Gesetz gebenden Charakter wie der Koran und gelten, genau wie dieser selber, als Wort Gottes.[226]

Ihre Legitimität beziehen sie aus einer möglichst lückenlosen Erzähltradition, der «isnad», die bis in die Lebenszeit des Propheten zurück reichen sollte. Der Grad der lückenlosen Tradierung ist eines der Qualitätskriterien für die Wahrheit der Überlieferung.

Die Literaturwissenschaft dieser Hadithenkritik ist ein Charakteristikum arabischer Kultur und ersichtlich aus der mündlichen Tradition, welche im Islam eine solch grosse Rolle spielt, erwachsen.

Die arabischen Gelehrten entwickelten einen Kanon von sechs glaubwürdigen Hadithensammlungen, darunter die beiden als am meisten authentisch definier­ten von Al-Buchari (810–870) und Muslim (817–875).

Die Schiiten verfügen über eigene Hadithensammlungen.

Die Hadithen gelten, unter anderem, auch als Basis für die islamische Recht­sprechung, und aus der Bewertung der unterschiedlichen Hadithen­samm­lun­gen entwickelten sich die verschiedenen grossen Rechtsschulen der arabisch-islami­schen Kultur.

4.1.1.3 Die Prophetenliteratur der Sira

In der Sira finden sich ausschliessliche Texte zur Biografie Mohammeds. Die älteste dieser Biografien von Ibn Ishaqs entstand etwa 150 Jahre nach Moham­meds Tod, wurde später von den Autoren Ibn Hisham und at-Tabari über­arbeitet und, wie ich es oben bereits in Bezug auf die Hagiografie allgemein darstellte, «geschönt».

Eine weitere bedeutsame Mohammedbiografie aus dem 12. Jahrhundert stammt von al-Waqidi.[227]

4.1.2 Das geografische und historische Umfeld im 7. Jahrhundert

Was in heutigen interkulturell geschulten Zeiten an einem grossen Teil der europäi­schen Literatur zu Leben und Werk Mohammeds eher unangenehm auffällt, ist die durchweg abfällige Behandlung der Weltgegend seiner Geburt als «verlorenem Winkel»[228], «Gegend … recht eigentlich in einem toten Winkel»[229], «Nur wenige Karawanenstrassen … Auf ihnen hat sich nie ein Massenverkehr abgespielt …»[230] was mit der historischen Realität wenig zu tun hat und eher von einem eurozentrischen Blickwinkel zeugt, wie er natürlich, seit das Interesse am Islam in der Romantik aufkam und zu mehr oder weniger wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und poetischen Verarbeitungen führte, auch sonst gang und gäbe war.

Nicht nur, um zu verstehen, wie ich denn überhaupt auf die Idee kam, einen griechisch-syrischen, christlich-geheimnisvollen Philosophen mit der Frühzeit des sich etablierenden Islam in Verbindung zu setzen, braucht es also zu allererst einmal eine Revidierung dieses eurozentrischen Blickwinkels. Ein solcher Blick­winkel ist wohl auch ausserhalb einer «kleinen» Masterarbeit oder einer theologischen Auseinandersetzung wichtig, um die Bedeutung des Islam für die damalige Welt als solcher zu verstehen.

«Eurozentrisch» müsste eher «mediterranzentrisch» heissen, insofern dieser Blick­winkel das Mittelmeer der antiken und nachantiken Welt meint. Das Mit­tel­meer als verbindendes Element unzähliger Schifffahrtsrouten – poetisch-my­thisch in den Fahrten des griechischen Schlaukopfs Odysseus verherrlicht.[231] Die «Wie­ge unserer Kultur», wie man das in bildungsbürgerlichen Zeiten so gerne nannte.

Aber wie beim berühmten Rorschachtest kann man, durch eine leichte Blickver­änderung, ein Blinzeln nur, die Perspektive verändern, so dass aus der Phy­sio­gnomie einer alten Frau das Antlitz einer jungen Dame von Welt wird, aus dem durch Seewege und ihre Geschichte definierten «Weltbild» eines, welches von Landwegen bestimmt wird:

Bei der klassischen Hinschau, liegt das Mittelmeer mit all seinen Anrainerländern im Fokus, bei einer nur leichten Kopfwendung nach rechts, oder der Drehung des Globus nach links, rückt die Arabische Halbinsel in den Fokus, Persischer Golf und Rotes Meer liegen genau vor der Nase und weiter nach rechts eine unendliche Landmasse mit all den grossen Städtenamen aus Tausendundeiner Nacht oder von den Nachtfeuern der Karawan-Serail[232]: Damaskus, Susa, Taschkent, Buchara, Samarkand, usw. … und unsichtbare Pfeile weisen nordöstlich über den Kartenrand hinaus nach China, südlich nach Indien.[233]

ANSARY nennt diese Welt der Landwege «Welt der Mitte»[234], auf deren «Kara­wa­nenwegen, Viehtreiberpfaden, Seidenstrassen, etc. Klatsch, Geschichten, Wit­ze, Gerüchte, historische Eindrücke, Mythologien, Waren und andere kulturelle Er­zeug­nisse … von Händlern, Reisenden und Eroberern mittransportiert»[235] wur­den.

 

Und sicher auch Philosophien, Religionen … heilige und unheilige Buchrollen, Bilder, Versepen, Mythologien … Mehr oder minder abgerissene Wanderprediger tragen ihre Botschaften über diese Strassen, Begeisterte erzählen an abendlichen Lagerfeuern, in Spelunken, Gasthöfen oder Höfen regionaler Stammesfürsten, was sie so in den syrischen oder anatolischen Weiten gehört haben, der Mythos der Wüsteneremiten wandert gen Norden, die sympathischen Spinnereien der Säulenheiligen gen Süden und die geschäftstüchtigen Mammutklöster des Pacho­mius, welche in der Mitte des ersten Jahrtausends bereits ökonomischen Krisen entgegen taumelten, beschränkten ihre Geschäfte sicherlich nicht nur auf die unmittelbare, thebische Nachbarschaft am Ufer des Nil. Thorarollen landeten vielleicht in der Hafenstadt Dilmun am Persischen Golf, jüdische Gemeinden etablieren sich in Mekka und christliche Missionare erreichen China, das nun wirklich am Rande der damaligen Welt lag.[236]

Diese Welt der Wanderer, Händler, Reiterkrieger und Ochsentreiber, Poeten und Geschichtenerzähler[237] war in ihrem westlichen Teil, der für diese Arbeit ja am meis­ten interessiert, in drei Machtblöcke aufgeteilt, wobei man beim dritten, der Ara­bischen Halbinsel, eben eigentlich nicht wirklich von einem Block reden kann (noch nicht!), schweiften doch viele, oft miteinander verfeindete Stämme oder Clans durch ihre Weiten, Beduinennomaden, welche die Handelskarawanen be­drohten, die zwischen den grossen Städten und Wüstenoasen einher zogen, Salz, Gewürze, Spezereien, Schmuck und edle Stoffe in ihrem Gepäck.[238] Keine sehr friedliche Gegend – und das wird eben auch eine der zentralen Anliegen Moham­meds sein, wie ich weiter unten ausführen werde: Friede den Städten, Krieg der Zersplitterung – oder auch: Ein gemeinsames Recht sowie zumindest Han­delssicherheit für alle versus irgendwelcher Blutsbande oder sonstiger ge­wach­sener, ererbter Loyalitäten, die dem freien Handel doch nur im Wege stehen.

Nordöstlich davon lag das byzantinische Reich, Hauptstadt Konstantinopel, Gebiete und Provinzen über Nordafrika, den Libanon, Anatolien und Griechenland sowie heutiges Südost-Osteuropa verteilt. Es umgrenzte das gesamte östliche Mittelmeer und seine schmalen Küstenregionen zeigen, wie sehr die byzantinische eben eine zur See orientierte, mediterrane Kultur war, eine Art Erbe der römi­schen Kultur, die sich weiter im Westen und im Norden allmählich wandelte, dahin schmolz und zum Fränkischen Reich mutierte.

Dieses Byzantinische Reich ist der Nährboden, auf welchem sich die orthodoxe Variante des Christentums entwickelt, weniger zentralistisch aufgebaut als die römisch-katholische Kirche und in der historischen Epoche, welche für diese Arbeit interessiert, immer noch in die Auseinandersetzungen um die Ergebnisse des Konzils von Chalzedon (451) verstrickt.

Das war auch die «politische Heimat» des Dionysius Areopagites, der um 500, also ca. 70 Jahre vor Mohammeds (570–632) Geburt vermutlich irgendwo im Syrischen aufwuchs und lebte. Und so, wie die byzantinische Welt nach Südosten hin eine lange, gerade Grenze zu den Einflussgebieten der arabischen Stämme hin aufweist, ist sie weiter nach Nordosten hin, vom Reich der Sassaniden abgegrenzt. Eine Grenze, welche durch das heutige Ostanatolien führt, mit eini­gen nicht so eindeutigen Grenzregionen im Gebiet der Euphratquellen und dem heutigen Armenien.

Das Sassanidenreich erstreckte sich östlich bis etwa zum Indus, nördlich bis zum Kaukasus und zum Kaspischen Meer, südlich grenzte es an den Euphrat und den Persischen Golf, sodass sich in der Mitte des 6. Jahrhunderts, also Dionysius Areopagites vermutete Lebenszeit, sowie auch zur Zeit Mohammeds im Nordwesten der Arabischen Halbinsel arabische Stämme finden, die mit Ostrom verbündet sind und im Nordosten solche, welche gemeinsame Sache mit dem Sassanidenreich machen. Dazwischen ein Landstreifen, der mehr oder minder neutral blieb und in welchem die Städte Mekka und Medina lagen. Im Süden der Arabischen Halbinsel hatte sich das Königreich Himjar etabliert, welches von christlich orientierten Eroberern aus Ostafrika (Äthiopien) etwa um 525 erobert worden war.[239]

Grob vereinfachend könnte man noch sagen, dass Byzanz im 6./7. Jahrhundert christl­ich orientiert war, das Reich der Sassaniden mehrheitlich der Lehre des Zoro­aster[240] anhing aber auch viele jüdische, christliche und manichäische[241] Ge­meinden, insbesondere in seinen westlichen Gebieten aufwies. Auf der Ara­bischen Halbinsel, durchsetzt oder beeinflusst von zahlreichen jüdischen und christlichen Gemeinden, herrschten poly- und monotheistische Kulte und Riten vor.

Gemeinsames Merkmal aller drei politischen Einflusssphären ist also einerseits eine mehr oder minder starke Multireligiosität, andererseits das gemeinsame Substrat der spätantiken, griechischen Philosophie mit ihren beiden divergie­renden, auf Platon und Aristoteles basierenden, Richtungen.

Was ich oben für die eurozentrisch-abfällige Darstellung des arabischen Lebens­rau­mes berichtete, gilt in einer ähnlichen Weise auch z.B. für die Beschreibung der unmittelbaren historischen und geografischen Umstände, in denen der Pro­phet Mohammed aufwuchs, lebte und predigte: Es ist ein Unterschied, ob ich Mekka als «kleine, oligarchische Handelsrepublik»[242] einführe, welche in einem «un­fruchtbaren Tal» liegt und die Kaaba als einen «von Götzen umringten wür­felförmigen Steinbau»[243] oder meine Beschreibung dieser Stadt so beginne: «Die Bürger von Mekka waren weitgereiste Händler, doch ihr wichtigstes und an­ge­sehenstes Geschäft war die Religion.»[244] Und statt dem abwertenden Ausdruck «Göt­zen» von «Gottheiten»[245] spreche. Ob ich die Einwohner einer Stadt als «Aben­teurer und Flüchtlinge, Wanderhändler und Geldwechsler, … Spielleute und Tän­zerinnen» bezeichne, und von «Karawanenleuten» spreche, welche «in Taver­nen» verkehren.[246] Oder als gebildete Handelsherren, mit allen Religionen der Gegend «vertraut», an den Lebensstil einer «kosmopolitischen Stadt» mit einem «einträchtigen Tourismussektor»[247], gewohnt, in der sich die Handelswege von Nord und Süd, Ost und West kreuzten, eine Drehscheibe z.B. des inter­nationalen Handels: Seide aus Indien oder gar aus China, Weihrauch aus dem Land der Königin von Saba, Waffen, Weizen und Olivenöl aus Syrien und Anatolien.

Man muss sich Mekka wohl ein wenig wie einen grossen Hafen vorstellen, nur dass aus seinen Mauern nicht besegelte Schiffe ablegten zur Weiterfahrt über ein grosses Wassermeer, sondern vierbeinige «Wüstenschiffe», welche in Tausen­derkolonnen, mit Hunderten bewaffneter Reiter zu ihrem Schutz, in die fernen Weiten der Sandmeere aufbrachen. Man stelle sich einmal den Sammelplatz für solch eine Karawane aus zweitausend oder gar dreitausend Kamelen vor, die beladen werden, hoch gescheucht oder heruntergezogen, das seltsame, röhrende Bellen der grossen Tiere, die Wassermassen, die heran getragen werden müssen, um die vielen Tiere auf Vorrat zu tränken, die Träger, Arbeiter und Sklaven, welche die Warenballen herbei schleppen, mit denen die Tiere beladen werden, die zu Hunderten aufgeregt herum fuchtelnden Krieger auf ihren kleinen, ner­vösen Pferden, die Buchhalter und Verwalter mit Schreibbrettern und Rechen­schiebern, die endlosen Listen, die Bargeldbeutel oder Kreditwechsel[248], die arabischen Rufe, das Geschrei vieler Menschen aus allen Ecken der damals bekannten Welt.

Welche Bedeutung der Handel für diese Stadt und ihre Umgebung hatte, kann man daraus ersehen, dass es jährlich eine dreimonatige Friedenspause gab, in der alle Händel und Streitereien dieser Clangesellschaft zu ruhen hatten. Sakralität und Handel bedingten und förderten sich gegenseitig und allen gemeinsam war eine hoch entwickelte, bilder- und klangreiche Sprache, das Arabische, welches von polytheistischen, zoroastrischen, jüdischen, christlichen und wem auch immer sonst gleichermassen gesprochen wurde. Nicht nur die Gottheiten wurden in Mekka verehrt, sondern ein alljährlich statt findender Dichterwettbewerb feierte diese Sprache selber, in der im Jahr 612 Gott selber zu den Menschen sprechen sollte.

Sucht man nach einer Parallele für die Bedeutung der arabischen Sprache, könnte man vielleicht das Deutsche etwa im 18. Jahrhundert her nehmen: Auch hier gab es ein in X Territorien geteiltes Gebiet mit X kleinen und kleinsten Herrschern, Fürstentümern, Nepoten, zwei christliche Konfessionen, die sich knapp hundert­fünfzig Jahre zuvor noch einen Krieg geliefert hatten, der beinahe der Hälfte der Bevölkerung das Leben kostete und weite Landstriche auf Jahre hinaus verödete und verwüstete. Das einigende Band dieser disparaten Kultur war die Sprache, weshalb sich Deutschland auch als «Kulturnation» definierte, als in viele Herrschaften geteilt aber mit einer Kultur und Dichtern, die, wie beispielsweise Johann Wolfgang von Goethe, auch als «Dichterfürsten» bezeichnet wurden. Die Identität Deutschlands wurde erst einmal nicht durch politische Strukturen geschaffen sondern durch sprachlich-kulturelle.

Neben den bekannten Religionen Judentum, Christentum, Lehre des Zarathustra, Manichäismus war auch der Polytheismus noch sehr virulent auf der Arabischen Halbinsel und der aufgerichtete Stein der Kaaba ein zentrales Heiligtum, zu dem von überall her die Pilgermassen strömten.

Durch den rigorosen Monotheismus Mohammeds aber auch der anderen Religio­nen, ist die schriftliche Quellenlage zu den vorislamischen Religionen auf der Arabischen Halbinsel eben letztlich doch tendenziös, archäologische Quellen sind kaum erhalten.

Versucht man, sich ein Bild aus diesen wenigen Beschreibungen und Aufzäh­lungen zu machen, so hat man einerseits einen Götterhimmel, wie er auch aus Griechenland, Rom, den keltischen und slawischen Besiedlungsräumen oder Indien bekannt ist. Aber ähnlich, wie man die keltischen Gottheiten nur durch die «römische» Brille, also die Deutungsmuster der römischen Geschichtsschreiber kennt, kennt man die arabischen Gottheiten ebenfalls einerseits nur durch die «Brille» griechischer und syrischer Darstellungen und andererseits durch die eher ablehnenden Darstellungen islamischer Geschichtsschreibung.

Auf jeden Fall gab es, neben den Göttinnen und Göttern einen obersten Gott, Allah genannt, in dessen Darstellung wohl auch bereits Tendenzen zur Abstra­hierung und «Unsichtbar-Machung» einflossen.

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