Die Frau aus einem Guss

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Die Frau aus einem Guss
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Martha Neuer

Die Frau aus einem Guss

Roman


Impressum

Texte: © Copyright by Martha Neuer

Umschlag: © Copyright by Martha Neuer

Verlag: Martha Neuer/Henriette Neuser

Kolmarer Str. 16

44137 Dortmund

martha.neuer@gmx.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-****-***-*

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für meine Mutter


Mut ist Angst, auszuhalten

Alwina

Inhaltsverzeichnis

1 Die Kommunion S.7

2 Sehnsucht S.32

3 Hinter Glas S.71

4 Risse S.99

5 Die Reise S.129

6 Ein göttliches Geschenk S.153

Die Kommunion

1971 – 1974

A-b-g-e-t-r-i-e-b-e-n? buchstabierte Alwina. Ab-ge- trie-ben? Abgetrieben?! Was sollte das heißen? Da waren viele Frauen auf dem Titelblatt des Sterns: Die eine blond, die andere braun, eine hatte ein ganz schmales Gesicht, die nächste Pausbacken und die übernächste Pickel ... Aber alle guckten Alwina fest in die Augen! Was hatten sie getan? Alwina fing an, mit dem Zeigefinger ihre langen nassen Haare einzudrehen. Gleichzeitig wühlte sie mit den Zehen im Sand und ließ die Sandkörner durch ihre Zehenzwischenräume wieder auf den Strand rieseln.

Sie drehte ihre Haare immer schneller ein. Die Zehen ließ sie jetzt tief in den Sand eintauchen. Unter der Oberfläche fühlte sich der Sand feucht und kühl an. Was auch immer es heißen sollte, es war verboten! Da war Alwina sich sicher. Verbotener als die Küsse, die ihr älterer Bruder seiner Freundin gab. Manchmal standen die beiden voreinander an die Hauswand gelehnt und knutschten. Alwina schrie dann laut: „Ih, die küssen sich!“, rannte ein Stück die Straße hinunter, drehte sich nochmal um, warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. Der Bruder lachte auch.

Sie war zum ersten Mal am Meer. Vor der Abreise hatte sie vor Aufregung drei Nächte nicht richtig geschlafen. Dann hatte sie sehr frühmorgens in Lünen vor dem Auto gestanden und war von einem Bein auf das andere gehüpft, bis die Mutter sie auf die Rückbank gescheucht hatte. Am Vormittag war die Familie in Hohwacht angekommen. Der Vater hatte kurz am Strand gehalten, bevor es zur Unterkunft weiterging.

Da lag sie: die Ostsee. Still, graublau und weit. Alwina blieb einen Moment stehen, bewegte sich nicht und schaute auf die Ebene aus Wasser. Sie sog den Geruch nach Tang und Salz tief in die Nase ein. Es ging kein Hauch. Die Luft war schwer, feucht und heiß. Von einem Moment auf den anderen fiel die Spannung von ihr ab, sie schüttelte sich. Alwina rannte los, den Strand entlang, bis sie sich schließlich keuchend in den Sand warf und nach Luft schnappte. Es war der erste Familienurlaub. Der Vater betonte immer wieder, welch Geschenk das für die Familie war.

Alwina starrte weiter auf das Titelblatt des Sterns. Die Frauen darauf starrten zurück. Die sind so mutig! Bestimmt! Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an ihr Abenteuer mit Peter.

„Ich kann dir richtige Tropfsteine zeigen, wie in der Dechenhöhle!“, hatte er behauptet. Schließlich waren sie in die Kanalisation eingestiegen. Als Alwina die Steigleiter hinunter kletterte, stieg ihr ein feucht modriger Geruch in die Nase. Die einzelnen Sprossen waren glitschig. Vorsichtig tasteten sie sich von Sprosse zu Sprosse abwärts, wobei Alwina sich jedes Mal an der oberen Sprosse festkrallte. Unten angekommen konnte sie die Hand vor Augen nicht sehen. Ein leichter Luftzug ging. Überall hörte man Plätschern und Tropfen im Wasser. Es pfiff und quiekte. Sind das Ratten? Alwinas Herz klopfte. Plötzlich sah sie einen Lichtkegel die Rohrwände rauf- und runterjagen.

„Peter, bist du das?“

„Ja“, kam es dumpf zurück.

„Guck mal da!“

Alwina folgte dem Lichtstrahl. Tatsächlich! Oben von der feuchten Decke wuchsen weißlich-gelbe Tropfsteine nach unten. Auch an den Nähten des Rohrs bildete sich ein Belag aus Tropfsteinen. Peter hatte nicht gelogen. Sonst wollte Alwina nichts von Jungen wissen.

„Die sind doch doof, wollen immer nur Fußball spielen, dir an den Haaren ziehen und deinen Rock hochheben!“

„Mir hat Peter ins Poesiealbum geschrieben Bleibe lustig, bleibe froh wie der Mops im Paletot. Unsere Freundschaft endet nicht, eh der Mops Französisch spricht!“ Alwina traute ihren Ohren nicht, so ein Kinderkram gefiel Rita?

„Der Spruch ist doch so alt wie meine Omma!“

„Ich finde ihn töfte. Ich habe Peter hinten am Toilettenhäuschen auch schon Küsschen gegeben.“ Wie ein Blitz durchfuhr es Alwina. Rita schielte sie mit großen runden Augen durch ihre dicken Brillengläser an.

„Das ist doch langweilig!“ Alwina wurde heiß.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Rita. Alwina rannte weg, Rita sollte nicht noch mehr Fragen stellen.

Ein paar Minuten später kam Peter über den Schulhof gelaufen, direkt auf Rita zu und zog sie fest an beiden Zöpfen. Rita weinte. Peter lief lachend weg: „Heulsuse, Heulsuse!“ Alwina machte auf dem Absatz kehrt und setzte schnell hinter Peter her. Als sie auf seiner Höhe war, warf sie ihn mit einem Hechtsprung zu Boden. Sie drehte Peter schnell auf den Rücken, setzte sich auf seinen Bauch und drücke seine Oberarme rücklings nach oben auf den Asphalt. Einen Moment fixierte sie Peter mit den Augen.

„Mach das ja nicht nochmal, hörst du? Rita ist meine Freundin, du Blödmann!“ Sie stand auf und rannte zu Rita zurück. Rita schniefte. Alwina legte den Arm um die schmalen Schultern der Freundin und pustete die Tränenreste vorsichtig weg.

Ihre Aufmerksamkeit kehrte an den Strand zurück. Was die Frauen auf dem Stern getan hatten war etwas anderes als Peter verhauen oder mit ihm in den Gully steigen. Alwina seufzte und blickte auf das Meer hinaus. Heute zeigte das Thermometer über dreißig Grad. Selbst im Liegen liefen ihr Schweißperlen über den Körper. Eine frische Brise schlug ihr entgegen. Alwinas Gesicht fühlte sich nun kühl an. Wenn sie groß wäre, wäre sie auch so mutig! Dann dürfte sie Rita streicheln und ihr Küsschen geben. Huch, was war das für ein Gedanke? Schnell blickte sie zur Mutter hinüber, die ein Stück weiter auf einer Luftmatratze in der Sonne lag.

Die Mutter schien zu dösen. Sie lag regungslos da unter ihrer Sonnenbrille. Puh, die hatte nichts gemerkt! Alwina kippte mit dem Kopf nach vorn. Ihre Stirn landete auf dem Stern, ihr Mund im Sand. Bah, der Sand schmeckte fad. Die Sandkörner rieben ihre Lippen auf und es knirschte zwischen den Zähnen. Alwina spuckte. Die Mutter träumte immer noch in der Sonne. G-o-t-t s-e-i D-a-n-k!

Die Mutter konnte so böse werden. Wie an dem Tag als Alwina sie gefragt hatte:

„Was ist Geschlechtsverkehr?“

„Woher kennst du dieses Wort?“

„Äh, weiß ich nicht mehr so genau.“ Alwina trat von einem Bein auf das andere.

„Lüg mich nicht an!“ Der Blick der Mutter hielt sie gefangen. Alwina musste ihr in die Augen sehen. „Hm, hab es irgendwo gehört!“

„Fräuleinchen! Ich glaube dir kein Wort!“ Klatsch und klatsch machten die Ohrfeigen. Alwinas Wangen brannten. Die Tränen standen ihr in den Augen. Jetzt nur nicht heulen! Schnell weglaufen! Schon beim ersten Schritt wurde Alwina unsanft von der Mutter am Arm gepackt und geschüttelt:

„Woher du dieses Wort kennst?“

„Äh, hm … habe es von Rita!“

„Die hat ja auch eine ältere Schwester! Nimm dich in Acht!“ Es setzte Schläge.

Alwina duckte sich und versuchte ihren Kopf mit den Armen zu schützen, doch die Mutter war schneller und riss die Arme weg.

„Werd nicht frech!“ Von einem Moment auf den anderen hörte die Mutter auf. Alwina verharrte.

„Du wirst nochmal anecken! Kannst du nicht einfach ein liebes Mädchen sein?“, klagte die Mutter.

Bei der Erinnerung fröstelte Alwina. Schnell nahm sie das Handtuch, schlang es sich um die Schultern und setzte sich auf. Die Wellen hatten jetzt weiße Schaumkronen obenauf. Der Wind nahm zu. Nur das Rauschen des Meeres war zu hören. Ab und zu kreischte eine Möwe. Jetzt da draußen sein! Am Horizont zogen Schiffe vorbei. Mit der Stenaline nach Schweden fahren oder auf der Gorch Fock einfach dahin segeln! Abenteuer bestehen! Das wäre töfte!

„Das ist nichts für dich!“ Alwina schreckte hoch. Die Mutter stand hinter ihr und riss den Stern weg. Sie sah die Mutter an. Deren Mundwinkel zuckten. Seufzend stand Alwina auf und überließ der Mutter die Zeitung. Sie schlenderte auf die Brandung zu. „Sei nicht so waghalsig!“, tönte es ihr hinterher.

Am Wasser streckte Alwina zunächst einen Zeh hinein. Das Meer leckte an ihren Knöcheln. Sie kreischte, rannte lachend in die Wellen, spritzte mit den Armen. Als sie nicht mehr stehen konnte, begann Alwina zu schwimmen. Das Wasser war so stark. Es trug sie.

Ich schaffe das nie! Bäuchlings hatte Alwina auf dem Boden des Schwimmbades gelegen und den Geruch von Chlor, abgestandenem Wasser und Speik eingeatmet. Das ganze Bad hallte vom Schreien, Juchen und Quieken ihrer Mitschüler. Der harte Boden scheuerte an ihren Hüftknochen. Die Sportlehrerin zwang sie, sich am Beckenrand auf den Boden zu legen.

 

„Jetzt winkel doch die Beine an! Sei nicht so steif!“ Mit einem Ruck hatte die Lehrerin ihre Beine hochgerissen und sie geführt. Der Chlorgeruch nahm zu. Gleich würde Alwina sich übergeben. Ihr war speiübel. Da ließ die Lehrerin ihre Beine los und pfiff die Stunde ab.

Ein. Aus. Hier draußen, umgeben von den Wassermassen, erschien ihr die letzte Schwimmstunde wie ein längst vergangener Albtraum. Bei Aus tauchte Alwina den Kopf unter Wasser, bei Ein nahm sie ihn wieder hoch. Ihre Beine und Arme folgten dem Rhythmus. Es war babyleicht. Zwischendurch ließ Alwina sich einfach treiben, bis sie fror. Dann begann sie erneut mit dem Ein, Aus. Ab und zu streiften ihre Füße Algen oder Quallen. Erst schrie sie. Später wurden diese Berührungen ein freundliches Streicheln. Ein, Aus. Sie schwamm ein Stück dem Horizont entgegen. Alles war so leicht! Irgendwann kehrte Alwina wieder um. Zu Hause würde sie den Fahrtenschwimmer machen. Die Lehrerin würde staunen! Leicht keuchend kam Alwina aus dem Wasser. Sie klapperte mit den Zähnen. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Alwina nahm ihre Schaufel und begann einen Graben für eine Sandburg auszuheben.

Plötzlich sah sie wieder ihre ältere Schwester und ihre Freundinnen auf ihrem letzten Geburtstag vor sich.

„Wir spielen jetzt Plumpsack!“, hatte die Schwester den kleinen Mädchen zugerufen.

„Juchhu! Wie toll!“ Einige klatschten in die Hände und liefen im Kreis. Die Schwester spielte auf Geheiß der Mutter mit ihnen.

„Du bist aber schön!“ Rita streichelte die langen Haare der Schwester und Alwina brannte vor Zorn. Am liebsten hätte sie Ritas Hand einfach weggeschlagen. Alle ihre Freundinnen schwärmten für die Schwester.

„Hat sie schon einen Freund?“

„Wie viele Freundinnen hat sie?“

„Geht deine Schwester in die Disco?“ Alwina hätte am liebsten gebrüllt:

„Haltet doch alle mal die Klappe!“ Aber sie traute sich nicht. Ihre Antworten waren knapp und tonlos gewesen.

„Alwina, wir gehen jetzt! Zieh dich an und komm!“ Die Mutter riss sie aus ihrer Erinnerung. Alwina schulterte ihre Schaufel und marschierte hinter der Mutter her. Am nächsten Tag fuhr die Familie zurück nach Lünen. Alwina warf einen letzten Blick auf die Ostsee. Heute lag sie wieder einfach still da. Das Meer lächelte ihr zum Abschied zu. Alwina winkte heftig zurück:

„Tschüss, Ostsee!“

Ein paar Monate später …

Die Schneeglöckchen waren verblüht. Ihre Köpfchen hingen schlaff an den Stängeln. Die ersten Krokusse lugten bereits vorsichtig aus den Beeten der Vorgärtenhervor, in lila, gelb und weiß. Dicke, schwere Regentropfen fielen auf die Blumen, die sich darunter immer mehr zum Erdboden neigten. Einige, vor allem die Schneeglöckchen, lagen schon platt am Boden. Alwina stand am Fenster in Ritas Zimmer und sah hinaus in den dichten Regen.

Ein Mann mit Hund eilte über die Straße. Beide, Mann und Tier, glänzten dunkel von der Nässe. An ihren Körpern liefen kleine Rinnsale herunter. Trau dich! Los, jetzt!, schoss es Alwina durch den Kopf.

Sie drehte sich ruckartig zu Rita um:

„Sollen wir mal was anderes spielen? Wir ziehen uns nackend aus und streicheln uns?“ Rita gab keine Antwort. Alwinas Herz klopfte. Sie spürte die Schläge bis in den Hals. Mit einem Mal nahm Rita ihre Hand. Alwinas Herz pochte wild. Sie tat den ersten Schritt weg vom Fenster in den dunkleren Teil des Zimmers, wo Ritas Schlafsofa stand. Rita folgte. Alwinas Herz schien aus ihrem Brustkorb springen zu wollen. Sie hüstelte. Danach schlug das Herz etwas langsamer.

Am Schlafsofa blieb Alwina stehen. Rita ließ ihre Hand los. Sie standen voreinander. Alwina zog ihren Pullover aus. Rita tat es ihr gleich und zog auch ihre Hose aus. Alwina atmete schwer. Jetzt das Höschen. „Was macht ihr da?!“

Die Mädchen hatten nicht bemerkt, wie sich die Tür zu Ritas Zimmer geöffnet hatte. Ritas Vater kam näher.

„Verdammt nochmal! Was macht ihr da? Ich glaube, ich traue meinen Augen nicht!“, schrie er. Alwina schwieg, Rita ebenfalls. Mit starren Gliedern stand Alwina da. Sie blickte in das puterrote Gesicht von Ritas Vater, folgte mit den Augen dem Gefuchtel seiner Arme und brachte keinen Ton raus. Alwina begann zu zittern.

„Hört ihr schlecht? Jetzt raus hier!“ Ritas Vater stand jetzt vor den halbnackten Mädchen. Er stellte sich zwischen sie und wies Alwina mit ausgestrecktem Arm die Tür. Schnell, zieh dich an! Was zuerst: Unterhemd, Bluse oder Pullover? Alwina nestelte an ihren Sachen herum.

„Sag mal, verstehst du eigentlich kein Deutsch? Raus hier, aber ein bisschen dalli!“ Alwina sammelte ihre Sachen ein und hastete zur Tür hinaus. Unten im Flur schlüpfte sie in ihre restliche Kleidung. Dann lief sie los, mitten in den dichten Regen hinein. Wo bin ich? Alwina kannte die Straße nicht. Sie sah an sich runter: klitschnass. Wo ist mein zweiter Schuh? Bei Rita. Dahin konnte sie jetzt auf keinen Fall zurück! Alwina humpelte die Straße entlang. Sie wusste immer noch nicht, wo sie war. Da vorn, das ist doch der Schulhof? Sie lief darauf zu. Sie setzte sich auf die Schaukel, ließ den Kopf hängen und spürte, wie ihre Wangen feucht wurden.

Hätte sie doch nie Rita gefragt! Es fühlte sich an wie damals, als sie Hautausschlag hatte und kein anderes Kind sie anfassen wollte. Alwina weinte noch mehr. Irgendwann waren die Tränen versiegt. Sie wischte sich die Wangen ab, stand auf und ging nach Hause. Es war bereits dunkel.

„Wo warst du denn? Weißt du eigentlich wie spät es ist?“, fragte die Mutter. Alwina sah ihr nicht in die Augen.

„Äh, da waren so böse Jungs, ähm, da bin ich weggelaufen. Dann wusste ich nicht mehr, wo ich war …“

„Hm, und dein linker Schuh? Kannst du nicht auf deine Sachen Acht geben? Das kostet doch alles Geld!“

„Äh, der ist im Schlamm steckengeblieben, als ich weggelaufen bin!“

„Papperlapapp! Du bist ja völlig durchnässt! Jetzt zieh erstmal die Sachen aus! Dann bleibst du auf deinem Zimmer!“

Alwina rannte in ihr Zimmer. Sie zog sich aus, brachte die nassen Sachen ins Bad und zog einen Schlafanzug an. Dann legte sie sich aufs Bett und löschte das Licht. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf, drehte sich auf die Seite und nahm ihren großen Teddy in den Arm. Ganz still lag Alwina da, mit offenen Augen. Sie nahm ihren Daumen in den Mund und lutschte daran. Ich soll das doch nicht! Ab und zu streifte der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos die Zimmerdecke. Unter der Decke konnte sie das erkennen. Irgendwann schlief sie ein.

Was die Erwachsenen wirklich redeten, erfuhr Alwina nicht. Jedenfalls durfte sie Rita längere Zeit nicht sehen. Die Mutter war sehr abweisend und sprach nur das Nötigste mit ihr, mehrere Tage lang. Vor kurzem hatte die Familie eine neue Waschmaschine bekommen. Alwina hatte sich den großen Karton geholt und in ihr Zimmer gestellt. Statt raus zu gehen und zu spielen, wie sie es sonst so gern tat, lag sie viele Nachmittage eingerollt wie eine Katze in dem Karton. Innen war es dunkel. Es roch nach Pappe und Waschmittel. Sie hatte eine karierte Decke auf den Kartonboden gelegt. Dort lag sie nun, hielt ihren Teddy im Arm und aß eine gemischte Tüte. Die weißen Schnuller schmeckten süß und sauer zugleich. Die mochte Alwina am liebsten.

Vorgestern hatte sie Rita auf der Straße getroffen.

„Hallo!“, grüßte Alwina.

„Hallo!“, wiederholte sie.Rita schwieg und blickte zu Boden. Alwina ließ den Kopf hängen. Sie steckte die Hände in ihren Anorak. Schließlich drehte Alwina sich um und trottete nach Hause. Will Rita nicht mehr meine Freundin sein? Alwina wurde kalt bei der Erinnerung. Sie kuschelte sich tiefer in ihre Decke.

Letzten Sonntag war sie, wie so oft, mit ihrem Vater in die Kirche gegangen.

„Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“, flüsterte der Vater. Alwina wurde ganz warm und es kribbelte auf den Unterarmen. Zum Mittagessen gab es Sauerbraten, Alwinas Lieblingsgericht.

„Wir hatten nix zu freten, aber Kippen! Tagelang hatten wir nix zu freten! Da hamm we Rüben geklaut! Das war gefährlich! Der Bauer stand nachts mit der Schrotflinte am Feld. Dem Rudi hat er `ne Ladung in den Arsch gejagt! Der hat geschrien!“ „Wilhelm!“ sagte die Mutter.

„Ihr solltet Gott auf Knien danken! So viel zu essen habt ihr! Gott auf Knien danken!“ Langsam wurde das Geschrei des Vaters leiser. Alwina stocherte in ihrem Essen herum und rutschte auf der Küchenbank hin und her.

„Jetzt ess doch, Kind!“, forderte die Mutter. Bei der Erinnerung an das immer gleiche Geschrei des Vaters am Sonntag wurde Alwina ganz steif, selbst hier im Karton.

Ein anderes Mal hatte der Vater geweint:

„Sie haben sie gepackt und in die Wagons gestoßen wie Vieh. Ich habe das gesehen in Rotterdam, die Nazzis haben sie geschlagen und getreten, die Juden. Da waren Frauen und Kinder, die bluteten!“ Der Vater weinte noch mehr. Alwina saß auf der Küchenbank und starrte auf den Sonntagsbraten.

Schweinebraten. Sie machte sich ganz klein und traute sich nicht mehr zu atmen. Hoffentlich ist es bald Zeit für die Kinderstunde im Fernsehen.

Sonntags in der Kirche fühlte sich der Vater ganz fest an. Manchmal schaute Alwina nach links und rechts: Alle waren ins Gebet vertieft. Sie rückte ein Stück näher an ihren Vater heran. So nah es eben ging während der Heiligen Messe. Er roch gut, nach Rasierwasser und Zigarren. Sein dicker Bauch lugte aus dem Wintermantel hervor. In diesen Momenten war er ihr Pappa.

Dann war da noch der Kommunionunterricht.

„Bei der ersten heiligen Kommunion empfangt ihr den Leib Christi. Jesus Christus ist am Kreuz für die Sünden der Menschen gestorben. Er ist auch für euch gestorben!“ Alle Kinder im Kommunionunterricht hatten geschwiegen bei den Worten des Pfarrers. Niemand machte auch nur einen Mucks, trat unter der Bank oder kicherte. Es war vollkommen still.

Hier in ihrem Karton hörte Alwina den Pfarrer wieder ganz deutlich sprechen. Sie faltete ihre Hände. Der liebe Gott war für sie da! Immer, wenn sie an die erste Heilige Kommunion dachte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Danach prickelte es überall. Alwina beschloss, einfach schon jetzt zur Kommunion zu gehen.

Es war frühmorgens an einem kalten Sonntag. Alwina schaute aus dem Fenster. Auf den Ginsterbüschen im Garten lag Raureif. Das Gelb war mit weißem Zuckerguss überzogen. Die Pfützen waren über Nacht zugefroren. Darin spiegelte sich der Ginster. Sie zog sich schnell an, nahm, was sie gerade fand: die alte braune Hose und den roten Pullover, von dem die Mutter sagte, er sei ihr zu klein. Dann noch Anorak und Stiefel. Hunger hatte sie keinen. Aber vielleicht Fieber?

Ihr war ganz heiß und schwindelig. Sie öffnete ganz leise ihre Zimmertür und schlich den Flur entlang. Vor der Schlafzimmertür ihrer Eltern hielt Alwina den Atem an. Es war nur das Schnarchen des Vaters zu hören. Sie ging vorsichtig ins Bad und öffnete das Fenster. Es quietschte.

Oh je! Sie drehte sich um und lauschte. Das Schnarchen des Vaters war nicht mehr zu hören. Alwinas Herz klopfte. Da! Das Schnarchen hatte wieder begonnen. Sie unterdrückte den Seufzer, stieg in den Fensterrahmen und sprang in den Hof.

Alwina landete auf Händen und Füßen. Sie richtete sich auf und ging los. Den Weg zur Kirche kannte sie auswendig. Erst an der Schule vorbei, bei Ritas Omma abbiegen, dann immer geradeaus bis zur Bude. Von da konnte Alwina die Kirche schon sehen. Sie war allein auf der Straße. Alle anderen schliefen noch. Es war so still. Und so kalt. Ihr Atem sah aus wie kleine Wolken. Die Glocken hörten auf zu läuten. Alwina rannte. Außer Atem erreichte sie die schwere Kirchentür, kurz bevor sie geschlossen wurde.

Alwina schlüpfte hinein. Sie versuchte nicht zu keuchen und musste husten. Schnell kniete sie nieder, bekreuzigte sich und setzte sich in die letzte Bank. Die Bank war leer. Nur am anderen Ende kniete eine alte Frau mit Kopftuch und betete.

„Großer Gott, wir loben dich!“, sang die Gemeinde. Alwina rutschte unruhig hin und her. Die alte Frau schaute zu ihr. Alwina hielt inne. Warum dauert das so lange? Lesung, Fürbitte, Predigt ... Alwina rutschte erneut hin und her. Die alte Frau guckte nun böse. Alwina zwang sich, still zu sitzen.

Alles in ihr drängte danach, einfach nach vorn zu laufen. Wann ist es endlich soweit? Alwina begann langsam bis tausend zu zählen. Neunhundertachtundachtzig, in der ersten Reihe stand eine Frau auf. Neunhundertneunundachtzig, es standen weitere Erwachsene auf und bildeten eine Schlange vor dem Altar. Juchhu! Schnell schaute sie sich nach der alten Frau um. Die erhob sich langsam, um sich anzustellen. Alwina folgte ihr.

 

Ganz langsam ging es nach vorn. Schritt für Schritt. Geflüster und Wispern. Im Kommunionunterricht hatte Alwina gelernt, dass man vor der Kommunion beichten musste. Dazu war es jetzt zu spät! Was tun? Ich habe Strichmännchen auf Peters Hausaufgaben gekritzelt und die Zigaretten meiner Schwester weggeworfen, sagte sie schnell und leise zum lieben Gott. Der Pfarrer hatte gesagt, in der Not dürfe man kurz vor der Kommunion beichten.

Alwina blickte auf. Sie stand vor dem Pfarrer. Wenn er mich jetzt wegschickt? Der Pfarrer sagte nichts. Alwina schloss die Augen und öffnete den Mund. „Dies ist mein Leib.“ Der Pfarrer legte ihr die Hostie auf die Zunge. Sie schmeckte nach Papier und war ein bisschen klebrig. Alwina schluckte. Ihre Knie wurden weich, ihr wurde schummerig. Sie ging zu ihrem Platz zurück. Dort kniete sie nieder und faltete die Hände. Du musst jetzt beten! Danke, lieber Gott, danke! Alwina betete lieber noch ein Vaterunser.

Der Vater riss die Haustür auf.

„Das ist eine Todsünde! O Herr, meine Tochter hat eine Todsünde begangen!“ Er stand wutentbrannt vor ihr. Alwina erstarrte. Sie ließ den Kopf hängen und schaute auf die Fußmatte. Die Matte war beige und geflochten, wie ihre Zöpfe.

„Jetzt kommt erst mal rein! Die Leute hören doch alles!“ Die Mutter schob den Vater ins Wohnzimmer. Alwina nahm sie bei der Hand und führte sie ebenfalls ins Wohnzimmer.

„Das ist eine Todsünde!“ Der Vater brüllte und brüllte. Woher nur wusste er, was sie getan hatte? Alwina stand mitten im Wohnzimmer. Ihre Ohren klingelten. Dann sah sie den ersten Speicheltropfen fliegen. Sie folgte seinem Flug mit den Augen. Er machte einen großen Bogen und landete auf der Armlehne des braunen Ledersofas. Dort versickerte er im Leder. Es folgte der zweite Tropfen. Er flog viel flacher als der erste. Im geraden Flug prallte der Tropfen gegen die Wohnzimmerscheibe. Der dritte Tropfen sank zu Boden. Der Teppich war sein Landeplatz.

Sie war einmal mit dem Vater zum Frankfurter Flughafen gefahren. Die Tante flog nach Ibiza. Die Maschinen dröhnten so laut wie das Schreien des Vaters. Auf einmal war es still. Niemand sagte etwas. Draußen bellte ein Hund. Alwina bemerkte, wie es ganz warm zwischen ihren Beinen wurde. Sie blickte nach unten und sah den dunklen Fleck auf ihrer Hose.

„Kind, du kannst doch nicht in diesen Alltagsklamotten am Sonntag in die Kirche gehen! Der rote Pullover ist dir doch zu klein. Wenn dich nun jemand gesehen hat ...“ Die Mutter sah sie traurig an. Alwina schwieg. Der Hund bellte nochmal.

„Geh jetzt auf dein Zimmer!“

Alwina ging über den Flur. Auf einmal tat ihr der Bauch ganz schrecklich weh. Sie rannte schnell ins Bad, kniete sich vor die Toilette und erbrach sich. Sie setzte sich neben die Toilette und legte die rechte Hand auf den Bauch. Die Hand kreiste. Irgendwann tat der Bauch nicht mehr ganz so weh. Sie stand auf und ging in ihr Zimmer. Zog die nasse Hose und den Schlüpfer aus. Nahm einen trockenen Schlüpfer aus dem Schrank und zog ihn an. Setzte sich auf ihr Bett.

Ob sich das Mädchen mit den Zündhölzern so gefühlt hat, als es im Schnee lag und erfror? Alwina war ganz steif. Alles war taub. Sie kniff sich in den Arm, in die Beine und in den großen Zeh. Nichts! Es tat nicht weh! Dann saß sie wieder einfach da. Später stand Alwina auf, nahm ihren Teddy und schüttelte ihn:

„Du bist doof! Du hättest dich nie trauen sollen! Alle finden dich saudoof! Rita, Mama, Papa und alle anderen auch!“ Sie stampfte mit dem rechten Fuß und schnaubte. Alwina pfefferte den Teddy in den Karton. Dann setzte sie sich wieder hin und starrte auf den Boden. Sprang wieder auf. Trat vor den Karton. Mit einem Knistern gab dieser nach und knickte ein. Sie trat fester zu. Der Karton knickte weiter ein und wurde flacher. Mit Anlauf sprang Alwina nun auf den Karton. Mit einem leisen Knall war der Karton endgültig kaputt. Der Teddy war darin begraben. Alwina warf sich auf ihr Bett und weinte. Irgendwann schlief sie ein.

Die Kastanien vorm Haus trugen dicke hellbraune Knospen, aus denen hellgrüne Blätter herausragten. Die Blüten der Magnolie gegenüber sahen aus wie dicke schmale Ostereier in rosa. Die Vögel sangen schon viele Stunden. Die Luft war warm und duftete nach Marzipan. Heute sollte Alwina zur Beichte gehen. Morgen war die Kommunion. Sie hatte ein weißes Kleid und einen Kranz aus weißen Plastikblumen bekommen. Eine Kerze gab es auch. Alwina saß in der Kirchenbank und baumelte langsam mit den Beinen. Hier drinnen war es kühl, und es roch nach Weihrauch. Was soll ich nur beichten? Alwina fiel keine Sünde ein. Sie fing an, ihre Hände zu kneten. In der letzten Woche vor den Osterferien gab es unter den Kommunionkindern kein anderes Thema als die Beichte.

„Mein Bruder hat gebeichtet, wie er einen Frosch aufgeblasen hat. Das ist Tierquälerei!“

„Meine Schwester hat gebeichtet, wie sie Sabine an den Haaren gezogen hat. Das ist auch eine Sünde.“ „Mein Kommunionkleid ist weiß und hat am Saum eine Rose.“

„Ha! Mein Haarkranz ist ganz rosa.“

Unter den Mädchen war ein Wettbewerb um das schönste Kommunionkleid ausgebrochen. Während sie vor dem Raum auf den Pfarrer warteten, wurde geprahlt, bewundert und gestritten. Alwina hatte ganz hinten gestanden und geschwiegen.

Nur noch ein Mädchen war vor ihr. Alwina wurde heiß und kalt. Das Mädchen kniete im Beichtstuhl und flüsterte:

„Ich habe mein Weihnachtsgeschenk im Kleiderschrank meiner Eltern gesucht. Als ich es gefunden habe, habe ich es ausgepackt. Es war eine Puppe.“ Das war es! Alwina würde einfach dasselbe beichten! Sie stand auf, ging zum Beichtstuhl, kniete nieder und beichtete mit klopfenden Herzen ihr Vergehen.

„Drei Ave Maria und ein Vaterunser! Deine Sünde soll dir vergeben sein!“ Das hatten die anderen auch bekommen. Schon den ganzen Samstagnachmittag hörte Alwina diese zwei Gebete. Zurück in der Kirchenbank kniete sie nieder und betete:

„Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.“

Am Sonntag trug Alwina ihr Kleid und den Blumenkranz. Die Mutter hatte sie gekämmt. Dann nochmal gebürstet. Der Blumenkranz wurde drei Mal aufgesteckt und wieder abgenommen, bis die Mutter mit dem Ergebnis zufrieden war. Alwina hielt still. Sie hasste es, gebürstet zu werden. Das ziepte immer so! Und kämmen konnte sie sich schon lange allein.

An diesem Morgen war sie aufgewacht und hatte sich wieder wie das Mädchen mit den Zündhölzern gefühlt. Tanten und Onkel waren gekommen. Das Haus war erfüllt mit Juchen und Schnattern. Alwina hatte im Sessel gesessen und mit den Beinen gebaumelt. Schon wieder saß sie in der Kirchenbank. Heute roch es viel mehr nach Weihrauch als gestern. Als sie an die Reihe kam, ging sie zum Altar und ließ sich die Hostie auf die Zunge legen. Anschließend kniete Alwina nieder und tat so, als ob sie beten würde. Sie unterdrückte ein Gähnen.

Weder der Vater noch die Mutter hatten nochmal mit ihr über den Tag ihrer Erstkommunion vor ein paar Wochen gesprochen.

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