Read the book: «Katakomben»
Mark Prayon
Katakomben
Der Brüssel-Thriller
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Inhalt
Prolog
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Epilog
Impressum neobooks
Inhalt
KatakombenThriller
Prolog
Ihre Augenlider waren wie Blei, die Neonröhren tauchten die Umgebung in ein rotstichiges Weiß. Der Versuch, einen Schritt zur Seite zu machen, scheiterte. Jetzt spürte sie, wie sich die Riemen in ihr Fleisch bohrten. Sie brauchte nicht einmal eine Sekunde, um zu begreifen, in was für einer ausweglosen Lage sie war. Ein noch nie dagewesener Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper. Ihre Glieder fühlten sich taub an. Wer waren die Schweine, die ihr das angetan hatten? Sie versuchte sich zu erinnern, an irgendetwas, das ihr helfen konnte, zu begreifen. Aber ihr fiel nichts ein. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das widerliche Licht. Als sie den Kopf zur Seite drehte, spürte sie ein höllisches Stechen im Nacken. Sie war dankbar dafür, dass ihre Hände ein wenig Spiel hatten, aber das Geräusch der Handschellen war unerträglich.
Ihr Blick wanderte unsicher durch den nackten Raum. Sie suchte nach Orientierung, aber sie fand nichts, was ihr helfen konnte – alles um sie herum schien beliebig und austauschbar.
Das Mädchen schwitzte am ganzen Körper, plötzlich ergoss sich ein warmer Harnstrahl über ihre straffen, leicht gebräunten Schenkel. Sie erschrak. Da war ein Klopfen, ein hohles gleichmäßiges Klacken. Kam es vom Fußboden? Sie war nicht sicher. Kam es näher? Ihr Mund war jetzt so trocken, dass sie nicht mehr schlucken konnte. Jetzt war es still. Sie drehte ihren Kopf so weit nach hinten, wie es ging. Ihren Schmerz ignorierte sie. Aber da war nichts außer einer weißen nackten Wand. Ihr Blick fiel auf die Röhren.
Nein, daher kam es nicht, definitiv. Jetzt kam das stakkatohafte Tack-Tack zurück, nur viel schneller! Schlagartig wurde ihr klar, was es bedeutete. Sie war nicht allein.
Eine mächtige Gestalt bäumte sich vor dem Mädchen auf, abwartend, bewegungslos. Das, was jetzt kam, steigerte die Erregung des Mannes ins Unermessliche. Er musterte das weiße Nachthemd, das so dünn war, dass er einen ungetrübten Blick auf ihre schweißnassen straffen Brüste hatte. Der Jäger musterte die weiche Haut ihrer gebräunten Schenkel ganz genau, dann ließ er seine Fingerrücken an ihnen entlang gleiten. Er presste seine dünnen rissigen Lippen zusammen, starrte in ihre verheulten Augen und fuhr herum. Dann riss er ein glühendes Brandeisen aus dem Feuer und drückte es dem Twen ins Fleisch. Das Mädchen schrie wie von Sinnen, sie konnte ihre verbrannte Haut riechen. Das Gesicht des Jägers verwandelte sich in eine lustvolle Grimasse. Eine schier endlose Sekunde war das Eisen in ihr. Das reichte, um den Mann in Ekstase zu versetzen. Der Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, mit einer schnellen Handbewegung strich sich er über das nasse Kinn. Als er das glühende Metall aus ihr herauszog, brach das Schreien ab.
Das Mädchen wurde ohnmächtig, der Jäger stöhnte laut auf und drang in sie ein. Niemals hätte ein anderer das Begrüßungsritual übernehmen dürfen. Das Mädchen zu markieren, das waren sein Privileg und seine Leidenschaft. Jetzt gehörte sie ihm, wie die anderen auch.
Der Jäger schaute mit weit aufgerissenen Augen auf den großen Monitor. Es war Zeit Abschied zu nehmen, so hatte er es vor fünf Jahren bestimmt. Alles würde so kommen, wie er es sich gewünscht hatte. Leben und Tod – nur er allein hatte darüber zu entscheiden. Alles war genau geregelt. Dieses Jahr würde er das erste Kapitel schließen und ein neues beginnen.
1
Marc van den Berg hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Langsam musste er sich wohl daran gewöhnen. Er fühlte sich, als hätte er vor ein paar Stunden eine halbe Kiste Stella Artois geleert, was vorkam. Aber das war lange her. Zwei Wochen waren vergangen, seit sich Marie von ihm getrennt hatte. Waren es wirklich erst zwei Wochen? Für ihn war es eher eine Ewigkeit.
Es war das erste Mal, dass nicht er den Schlussstrich gezogen hatte. Sie hatte es gewagt, ihm den Laufpass zu geben, was ihn rasend machte. Es ließ sich schlecht mit seiner Eitelkeit vereinbaren, dass sie ihn in die Wüste geschickt hatte. Er würde nicht lange allein bleiben, soviel war sicher. Aber diese Aussicht konnte seine miese Laune nicht aufhellen, nicht jetzt. Van den Berg kannte seine Neigung zu unkontrollierten Ausrastern selbst am besten. Jetzt war es wieder soweit, er hätte platzen können vor Wut. Der Versuch, ruhig zu bleiben, scheiterte. Ein Bierglas, das halbvoll auf der Spüle klebte, landete mit Karacho auf den Kacheln. Grimmig und doch ein wenig abgekühlt betrachtete er die kleinen Glassplitter, die sich größtenteils um den Abfluss versammelten.
Beinahe zwei Jahre waren sie ein Paar gewesen. Länger als mit Marie hatte er es nie mit einer Frau ausgehalten und das, obwohl er schon 45 war. Er wusste im Grunde, dass er eigentlich zu keiner Beziehung fähig war.
Van den Berg schaute angriffslustig in den Spiegel und fuhr mit seinen kräftigen Händen durch sein dichtes mittellanges blondes Haar, dann über seine Bartstoppeln. Hatte er zugenommen? Wenn, dann nur ein wenig. Sein Sixpack war, zumindest ansatzweise, noch vorhanden.
Die Kathedrale St. Michel war in ein mattes Licht getaucht. Nichts deutete darauf hin, dass irgendwas anders war, als an jedem anderen Tag. Der kleine, mit dünnen Bäumen bepflanzte Park, der vor der Kirche lag, war beinahe menschenleer. Nur ein Clochard hielt sich in der Nähe des Gotteshauses auf, drei Stunden hatte er auf einer Bank gelegen. Es war der 25. November, der erste Advent kündigte sich an. Seit Tagen regnete es in der Stadt, die Temperaturen hatten stark angezogen.
Der Stadtstreicher hatte vor einer Weile damit begonnen, eine Flasche mit billigem Wodka zu leeren und war dabei eingeschlafen. Der Nieselregen wurde jetzt stärker. Der Alte hatte sich in eine dicke zu große Tarnjacke gewickelt, wie man sie beim Militär hat, dazu trug er eine schmutzige lilafarbene Hose, die grotesk aussah. Die dünne Decke, die er bis ins Gesicht gezogen hatte, war längst zu einem kalten nassen Lappen geworden. Plötzlich drang ein Knall durch die ruhige Nacht, so, als hätte jemand eine Autotüre zugeschlagen, aber es klang heftiger. Es war ein blechernes Geräusch, auf das sich der Penner keinen Reim machen konnte. Er hörte, wie ein Wagen beschleunigte. Das war kein gängiger Benzinmotor, eher schon ein Diesel. Der Alte wunderte sich über den Lärm, denn er wusste, dass der Bereich vor der Kirche für Autos gesperrt war. Dann wurde es still. Mit seiner zittrigen Hand riss der Obdachlose den wasserdurchtränkten Fetzen beiseite, stand auf und taumelte ein paar Meter durch den Regen.
Es dauerte eine Weile, bis er es schaffte, sich zu orientieren. Der Mann hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, stolperte mehr in Richtung der Kirchentreppen, als dass er lief. Es ärgerte ihn, dass die Beine nicht gehorchen wollten. Nun stand er vor den schmalen Stufen, die ihm unendlich vorkamen. Er hatte noch immer Probleme, die Balance zu halten, immer wieder kippte er nach vorn. Sein Magen fing an zu rebellieren. Der Mann stützte sich mit seinen erfrorenen Händen auf einer Stufe ab, dann kotzte er den Wodka und das bisschen Linsensuppe auf seine rissigen Hände, die von der Kälte bläulich schimmerten.
Der Clochard war zäh, und an den Gestank von Erbrochenem hatte er sich in den Jahren auf der Straße gewöhnt. Langsam aber zielstrebig tapste er die Stufen hinauf. Auf der Hälfte verließen ihn die Kräfte, die Knie zitterten auf dem kalten Stein. Dieses Scheiß Rheuma, dachte er. Er richtete seinen Blick nach oben und sah durch die Bindfäden, dass etwas vor dem Eingang der Kirche lag. Was es war, blieb ihm verborgen - seine müden Augen kämpften mühsam gegen das künstliche Licht und die feinen Tropfen. Der Mann holte tief Luft und schaffte es auf allen Vieren bis an die Pforte. Mit dem Ärmel wischte er sich das Nass aus den brennenden Augen und blickte auf ein Mädchen, das hilflos auf dem Rücken lag. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Miene ein einziger Hilfeschrei.
Der Clochard erhob sich, während er das Mädchen fixierte. „Was ist mit ihnen?“, lallte er. Keine Reaktion. Der Alte schüttelte sich, in der Hoffnung so seine betäubten Sinne schärfen zu können. Er legte seine kräftigen Arme um den Körper der jungen Frau und rüttelte sie so heftig er konnte. Der Vagabund war auf einmal wieder ganz klar. Sein Magen zog sich zusammen, als er begriff, dass das Mädchen tot war.
Das blasse, ungeschminkte Gesicht der jungen Frau war zu einer schiefen Grimasse verzerrt, aber der Clochard sah, dass sie unglaublich schön war. Er fixierte ihre braunen sanften Augen und die makellose weiche Haut. Er schätzte sie auf achtzehn oder neunzehn Jahre. Was sie anhatte, erschien ihm merkwürdig, nicht nur, weil es viel zu dünn war für die Jahreszeit. Die junge Frau trug einen weißen Umhang, der einem Nachthemd ähnelte, sonst nichts. Ihre dunklen Haare waren streng zu einem Zopf zusammengebunden. Ihm wurde speiübel, er kotzte die Reste, die er noch im Magen hatte, neben die Pforte.
Keine Menschenseele verlor sich auf dem Boulevard de Berlaimont, der direkt an der Kathedrale vorbeiführte. Der patschnasse Alte ging langsam die Stufen herunter. Er vernahm den Dieselmotor eines Autos, das sich mit zügiger Geschwindigkeit näherte. Es war ein Taxi, das in Richtung De Brouckére unterwegs war. Der Clochard sprang auf die Straße, ruderte wild mit den Armen und stellte sich dem heranbrausenden Fahrzeug beschwörend in den Weg. Der Fahrer stieg kräftig in die Eisen und stoppte wenige Zentimeter vor den zittrigen Knien des Hilfesuchenden. Der Chauffeur, ein fast kahler Türke in den Dreißigern, riss die Türe auf und trat auf den nassen Asphalt. Der Fahrer brüllte die traurige Gestalt an, schrie etwas von irre und bescheuert. Der Penner deutete wortlos zur Kirche.
Van den Berg zuckte kurz zusammen, als sein Handy schellte - jetzt wurde ihm klar, wie übernächtigt er war. Am Klingelton erkannte er, dass der Anruf aus dem Präsidium kam. Wenn die Kollegen dran waren, warnte ihn die Titelmelodie der „Bourne“-Reihe, bei allen anderen Anrufern erklang ein beruhigender altmodischer Ring-Ring.
Eric Deflandre war dran. „Was gibt’s denn?“, fragte van den Berg gereizt. „Ein totes Mädchen“, antwortete der junge Polizist gehetzt. „Na, klasse!“ Van den Berg sparte sich langes Nachfragen und beeilte sich. Im Bad bearbeitete er seinen kräftigen Schopf mit einem Spezialwachs, das dafür garantierte, dass seine Haare ein wenig abstanden. Er zog ein eng sitzendes schwarzes T-Shirt aus dem Schrank und nahm eine dazu passende Lederjacke vom Sofa, die einen leichten Biker-Touch hatte. Keine fünf Minuten später saß der Polizist in seinem MG Cabrio, Typ MGB, Baujahr 84, und raste die Rue de la Loi hinauf zur Kathedrale St. Michel.
Zur gleichen Zeit bahnte sich ein schwarzer BMW den Weg durch den Wald. Andere hätten Mühe gehabt, das Anwesen zu entdecken, uralte Eichen und Tannen reichten dicht an die imposante Villa heran. Die schmalen kurvigen Wege waren schlecht asphaltiert und erschwerten die Orientierung, zumal sie immer nur ein Stück weit einzusehen waren. Der Fahrer, der sich in dieser Nacht auf das dunkle Haus zu bewegte, kannte die Strecke. Zielstrebig raste er den Weg bis zum Hauptportal des alten Bauwerks.
Als der Mann aus seinem Fahrzeug stieg, wurde es hell. Selbst aus der Nähe waren die Konturen des Gebäudes nur schemenhaft zu erkennen, so dicht standen die Bäume. Der Besucher war Mitte 30 und wirkte gediegen in seinem dunkelgrauen Kaschmirmantel. Die schwere schmiedeeiserne Tür öffnete sich und fiel überraschend leise ins Schloss, nachdem der Besucher eingetreten war.
„Sie werden erwartet, Monsieur Hugo“, sagte der kleine unscheinbare Mann, der im Entree gewartet hatte, mit ausgesuchter Höflichkeit.
Hugo verzichtete darauf, seinen Mantel abzulegen und eilte am Butler vorbei die breite Holztreppe hinauf. Im ersten Stock befand sich ein weitläufiger Raum, der sich fast über die gesamte Etage erstreckte. An den Wänden hingen alte Ölbilder und Zeichnungen. Einige von ihnen zeigten Wappen, die auf Papier oder Stoff geprägt waren. Im Raum standen schwere Eichenmöbel und herrschaftliche alte Sofas. In der Mitte des ovalen Zimmers wartete ein Mann, der Anfang 60 war. Er machte ein paar Schritte auf den Besucher zu. „Es gibt ein Problem“, sagte Hugo. Dabei wanderten seine Augen unruhig hin und her. Er bemerkte sofort, dass sich der Blick des anderen verfinsterte.
Van den Berg nahm seine coole schwarze Beanie vom Beifahrersitz, zog sie über sein Haar und trabte den kurzen Weg zur Kathedrale. Es regnete noch immer. Deflandre kniete völlig durchnässt bei dem toten Mädchen.
Van den Berg beugte sich zu der Leiche herunter. Sein Blick fiel auf das Nachthemd, das die grazile Figur des Mädchens betonte. „Ein schönes Mädchen“, flüsterte er wie in Trance. Der Kommissar wandte seinen Blick von der Toten ab und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Sexualverbrechen, soviel war wohl klar. „Der Penner da drüben hat sie gefunden“, unterbrach ihn Deflandre und deutete auf den Clochard, der zerstreut in seinen Plastiktüten kramte.
Van den Berg hatte in seiner Polizeilaufbahn schon viele Leichen gesehen, die meisten ließen ihn kalt. Aber dieses tote Mädchen hier rührte ihn von der ersten Sekunde an, so sehr, dass es ihm schwerfiel, klar zu denken. Der Anblick dieses toten Engels schnürte seinen Hals zu, er zwang sich, tief Luft zu holen. Ein paar Meter weiter hockte Thomas Verschacht mit einem Notizblock in der Hand. Der Polizeiarzt winkte van den Berg zu sich. „Ich kann dir noch nichts sagen“, sagte er ernst. Das faltige Gesicht des Mediziners schien eingefroren. „Eine schöne Scheiße ist das. Äußerlich ist sie unversehrt, jedenfalls soweit ich das bis jetzt sehen kann.“ Das Mädchen lag noch immer auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, so wie sie der Clochard gefunden hatte. „Beeil dich, ich brauche Informationen“, fuhr van den Berg den Mediziner an. „Sehe ich aus, als mache ich hier ein Picknick?“ Van den Berg fasste dem Doc entschuldigend an die Schulter – ihm war klar, dass er sich wieder mal im Ton vergriffen hatte.
Das Mädchen war ungewöhnlich schön. Van den Berg betrachtete ihre weichen Gesichtszüge, die rehbraunen Augen, die zarte Figur. Er konnte jetzt nicht viel tun, erstmal waren die Pathologen dran. Und die Kollegen mussten herausfinden, wer die Tote war. Er fühlte sich wie ein Wasserkühler, der zu heiß gelaufen war. Es war definitiv das Beste, nach Hause zu fahren.
„Da ist noch etwas“, rief ihm Verschacht zu, als er auf dem Weg zum Wagen war. „Sie ist sozusagen tätowiert.“ Der Mediziner hob den Arm des Mädchens an und drehte ihn so, dass van den Berg das Zeichen sehen konnte. Auf der Innenseite war ein Kreis eingebrannt. Exakt in dessen Mitte befand sich eine Zahl: die Acht. „Ein eigenwilliges Motiv für ein Mädchen“, bemerkte van den Berg fragend. „Was ist heute schon noch eigenwillig? Manche lassen sich einen Totenkopf stechen oder die Schamlippen piercen“, erwiderte Deflandre grinsend. „Da ist so was doch ziemlich normal.“ „Normal ist das hier sicher nicht - das ist keine Tätowierung, das ist ein Brandmal“, widersprach der Arzt entschieden.
Van den Berg war das Teil gleich komisch vorgekommen. „Ein Brandmal also, so was verpasst man doch normalerweise nur Tieren …“ „Bei Pferden werden Brandzeichen gesetzt, zum Beispiel, um die Rasse zu markieren“, erklärte Verschacht. Van den Berg konnte sich keinen Reim darauf machen. In seinem Gesicht spiegelten sich gleichermaßen Ekel und Ratlosigkeit wider - er wollte nur noch weg.
Der Kommissar verabschiedete sich eilig von seinen Kollegen, aber nicht ohne ihm vorher noch einmal einzubläuen, schnell Ergebnisse zu liefern. Als er die Chaussée d´Ixelles entlangfuhr, schossen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Als er an Marie dachte, war er wieder auf 180.
Es war kurz nach Mitternacht. Vor den meisten Fenstern in der Rue de la Prairie am Gare du Nord waren die Rollläden bereits heruntergelassen. Nur wenige Huren warteten noch auf Kundschaft. Wenn um diese Zeit Freier in die schmuddeligen Straßen hinter dem Bahnhof kamen, dann waren es meist Männer, die aus den Kneipen am belebten „De Brouckére“ herüber schlenderten.
Die Gegend war ziemlich heruntergekommen, auf den Bürgersteigen waren Kondome und Bierdosen verstreut. An der Ecke standen zwei Gestalten, denen man von weitem ansehen konnte, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Ein älteres Touristenpaar aus Dänemark, das in der Gegend ziemlich fehl am Platz wirkte, winkte hektisch nach einem Taxi. An einem der Fenster hing die Jalousie auf halber Höhe, das Zimmer war leer. An der Scheibe klebte ein alter Zettel mit einem Foto: „Vermisst! Dorothee Lerisse.“
Der schwarze BMW bahnte sich zügig den Weg zurück durch den Wald. Hugo warf einen Blick auf das Stück Papier, das ihm der Mann gegeben hatte. Auf dem Blatt fanden sich handschriftliche Notizen, die in einer Art Tabelle geordnet waren.
Hugo schloss die Wohnungstür auf, warf den Mantel über das italienische Ledersofa, nahm sich einen Martini Bianco aus der Bar und gab zwei Eiswürfel dazu. Er lächelte, als er sich auf einen der schweren Sessel fallen ließ. Der elegante Mann ließ seinen Zeigefinger zärtlich über den goldenen Ring kreisen, der eine dezente Gravur trug, die eine Flamme darstellte. Hugos Wohnung war beinahe steril, die Regale leer und die strahlend weißen Wände völlig nackt. Die Einrichtung entsprach der eines repräsentativen Büros, modern und auf das Wesentliche reduziert. Während Hugo an seinem Glas nippte, studierte er aufmerksam die Liste, in der ein Dutzend Mädchennamen aufgeführt waren.
Wie immer sah er aus wie aus dem Ei gepellt: olivfarbener eleganter Anzug, graues Seidenhemd, teure Schuhe – alles nach Maß gefertigt. Entschlossen griff er nach seinem Notebook. Eigentlich hatte er für moderne Kommunikationsmittel nicht viel übrig, aber man konnte halt nur schlecht auf sie verzichten. Der Computer stand neben einem ultraflachen Smartphone auf dem frisch polierten Glastisch. Wichtige Dinge besprach Hugo nicht am Telefon. Seine Angst, abgehört zu werden, war zu groß, auch wenn es keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, dass man ihn schon einmal angezapft hatte. Hugos E-Mail bestand aus nur einem einzigen Satz. „Morgen, 20 Uhr.“
Van den Berg hatte in der Nacht wieder nicht viel geschlafen. Um acht Uhr saß er in seiner großen, geschmackvoll eingerichteten Altbauküche und schob zwei Scheiben Weißbrot in den schicken Toaster. Er hatte die Elektrogeräte vor ein paar Jahren günstig bei einem Lagerverkauf erworben. Die modernen weißen Einbauelemente hatte er geschickt mit alten provenzalischen Schränken und einem massiven Holztisch kombiniert.
Er überlegte, ob er rausgehen und sein Frühstück bei Renard holen sollte. Das Traditionsgeschäft an der Chaussee d`Ixelles hatte den Ruf, die besten Torten und das feinste Gebäck in Ixelles herzustellen. An diesem Morgen konnte sich der Kommissar nicht dazu aufraffen. Verbissen knabberte er an trockenen Toastscheiben und spülte sie mit Kaffee herunter, den er schwarz mit ein wenig Zucker trank. Der Polizist ließ sich auf das alte Chesterfieldsofa fallen und legte die Smiths auf: „Bigmouth Strikes Again“.
Er dachte zurück an die wilden Achtziger, in denen er mit seinen Freunden durch die Straßen Gents gezogen war. Nie im Leben hätte er damals daran gedacht, Polizist zu werden. Auf Gesetze hatten er und seine Kumpels gepfiffen. Sie kifften so oft es ging und sie sprühten Graffiti mit den Namen ihrer Lieblingsbands an graue Fabrikmauern. Nachts fuhren sie zugedröhnt und ziellos durch die Gegend.
Der Dienst bei der Armee hatte van den Berg gründlich umgekrempelt. Da hatte er sich vorgenommen, sein Leben zu ändern, Gas zu geben. Und er wollte Macht haben. Als Polizist konnte er die Hebel bewegen, wie es ihm beliebte, wenn er böse Jungs jagte. Aber er musste sich unterordnen, was er hasste. In seinen ersten Jahren bei der Polizei war er regelmäßig mit seinen Vorgesetzten aneinandergeraten. Aber er hatte mächtige Fürsprecher im Präsidium, die sein kriminalistisches Talent erkannten und ihn förderten.
Vor allem Henk Wouters, ein Kommissar der alten Schule, hatte van den Berg nach Kräften gefördert, auch wenn der ihm immer eine Spur zu eitel war. Keiner der anderen jungen Polizisten hatte van den Bergs Spürnase und schon gar nicht dessen Willen. Mittlerweile ließ sich van den Berg nicht mehr herumkommandieren. Er fand immer irgendeinen Weg, seinen Kopf durchzusetzen. Was hatten ihn die Schreiberlinge von den bluttriefenden Boulevardblättern genervt, die keine Gelegenheit ungenutzt ließen, ihn zu einem Versager zu stempeln. Denn er weigerte sich, mit ihnen zu kooperieren. Die langatmigen Diskussionen mit Kollegen und Staatsanwälten hatten ihn beinahe zermürbt. Doch inzwischen kannte er die Spielregeln. Er wusste, wie er alle nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte.
Vor drei Jahren hatte van den Berg zum letzten Mal großen Ärger bekommen, als er bei einem Verhör nach einer sehr speziellen Methode vorging. Eine ganze Nacht lang hatte er den Mordverdächtigen mit grellen Scheinwerfern geblendet. Das so erreichte Geständnis hatte das Gericht nicht zugelassen und der Kommissar musste es sich gefallen lassen, dass ihn der Polizeipräsident verbal in den Boden rammte. Seitdem war er wachsam und überschritt die hausinternen Grenzen nur noch dann, wenn man ihm nichts nachweisen konnte.
Das tote Mädchen weckte seine Kampfeslust, während er auf die Straße herunterschaute. Amüsiert beobachtete er eine junge Frau, die versuchte, ihren alten VW-Golf in eine Parklücke zu manövrieren und nach fünf Versuchen entnervt aufgab. Van den Berg schlüpfte in ein khakifarbenes T-Shirt, nahm seine braune Kapuzenlederjacke vom Sofa und sprang in seinen MG. Er trug fast immer Bluejeans, seine 44er-Füße steckten wahlweise in schwarzen Sneakers oder rustikalen braunen Lederschuhen.