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Marie Malcovati

Nach allem, was ich beinahe für dich getan hätte

Roman

Edition Nautilus


Edition Nautilus

Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de Alle Rechte vorbehalten © Edition Nautilus 2015 Originalveröffentlichung Erstausgabe Februar 2016 Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg www.majabechert.de CPI books · 1. Auflage ISBN 978-3-89401-827-6

M

Die Kantonspolizei Basel-Stadt hatte Beat Marotti für die Überwachung der Schalterhalle eingeteilt. Niemand wusste, ob der bunt illustrierte Drohbrief überhaupt ernst zu nehmen war, aber man konnte es nicht darauf ankommen lassen. Die Aktivisten waren mittlerweile bekannt, sie traten oft in exzentrischer Verkleidung auf und hatten bei ihrer letzten Demonstration ein großes Kaufhaus verwüstet. Es hatte sich immer nur um Sachbeschädigungen gehandelt, aber auch solche waren schließlich zu verhindern. Da sie nur das Datum und nicht den Ort ihres Auftritts spezifiziert hatten, musste in der gesamten Stadt mit Ausschreitungen gerechnet werden. Sobald Marotti Anzeichen politisch motivierter Rüpelei auf dem Monitor entdeckte, sollte er per Knopfdruck die Kollegen benachrichtigen, die darauf warteten, jemanden festnehmen zu können. Weil er sich kürzlich den Fuß verletzt hatte, war die Ansicht der Live-Übertragung aus dem Bahnhofsgebäude die einzige Art von Einsatz, die für ihn in Frage kam. Krankmelden wollte er sich auf keinen Fall, denn dann hätte er zu Hause bleiben müssen. Marotti drückte eine Schmerztablette aus der golden schimmernden Packung, spülte sie mit nach Chlor riechendem Leitungswasser herunter und wünschte sich einen herausfordernden Arbeitstag, der ihn ablenken würde. Es sah schlecht aus. Seit Stunden passierte nichts. Die Bewegungslosigkeit, zu der er durch die Verletzung gezwungen wurde, machte ihn unruhig. Seine Gedanken begannen, sich gewittrig zusammenzuballen. Selbst im abgedunkelten Raum des Polizeipostens war er vor ihnen nicht sicher. Er nahm noch eine Tablette und genoss den Schwindel, der sich nach wenigen Minuten einstellte. Sein Kopf wurde watteweich, und er vergaß immer wieder, die Augen offen zu halten. Gegen Mittag weckte ihn eine Kollegin aus seinem Dämmerzustand. Sie hatte Eis und Popcorn mitgebracht.

»Fürs Kino!«, sagte sie lachend und streichelte mit noch sommerbraunen Fingern gedankenverloren über ihre Dienstwaffe. Das Eis drückte er einen Moment lang an seinen verletzten Fuß. Dann schüttelte er sich und wandte sich wieder der Arbeit zu. Er bereute seinen Halbschlaf und suchte jetzt umso angestrengter auf allen sechs Monitoren nach gewaltbereiten Demonstranten. Er sah die Schalterhalle aus vier Winkeln, weitere Kameras waren auf der Passerelle und am Übergang von der Halle zum Ausgang angebracht. Man konnte bis weit über den Platz schauen, auf dem die Tramlinien sich überschnitten, und wenn er nahe genug heranfuhr, erkannte er sogar die Schlagzeilen der Zeitungen. Die Reisenden bewegten sich entschlossen, selbst wenn sie im Kreis liefen, zögerten sie nicht. Manche schienen den sanft klappernden Nachhall ihrer Schuhe zu genießen, den Marotti natürlich nicht hörte. Die Bilder, die er vor sich hatte, waren wie das ungeschnittene Rohmaterial eines quälend langweiligen Experimentalfilms, dessen Regisseur jegliche dramaturgische Vorausplanung für eine unzumutbare Einschränkung hielt und deshalb prinzipiell ablehnte. In einer letzten Anwandlung von Großzügigkeit goss die Septembersonne ihre warmen Strahlen über die, die, je nach Ziel und Herkunft, ermattet oder erfrischt wirkten. Nur dass das Licht, das durch die verglasten Decken auf die Gleise geflutet wurde, auf Marottis Monitor nicht golden, sondern hellgrau schimmerte, anthrazitsilbern, wie das Innenfutter seines feinsten, kaum je getragenen Anzugs. Normalerweise funktionierte die Übertragung in Farbe, aber ausgerechnet heute gab es einen technischen Defekt, dessen Behebung zu lange gedauert hätte. Marotti störte es nicht, er fühlte sich schwarzweiß. Sein Blick blieb an einer Frau hängen, die schon seit einer ganzen Weile auf die Holzvertäfelung an der Wand ihr gegenüber starrte. Darauf befand sich die mäßig gelungene Abbildung eines Alpenpanoramas. Es war kaum vorstellbar, dass sie es derart interessant fand. Mit kerzengeradem Rücken saß sie auf einer glänzenden Metallbank, ohne die Lehne zu berühren, als traue sie ihr nicht. Neben ihr stand eine große Tasche, in der sie eine Hand verschwinden ließ. Sie umklammerte ihren vermutlich Kaffee beinhaltenden Pappbehälter mit der anderen Hand so fest, als sei er ein Haltegriff in einem notbremsenden Zug. Die ganze Zeit ruhte ihr Blick in absoluter Konzentration auf dem Alpenkitsch. Der Hosenanzug sah teuer aus, war ihr aber um die Hüften viel zu weit, sie wirkte darin irgendwie verkleidet. Marotti ermahnte sich. Er wurde nicht dafür bezahlt, grundlos irgendwelche Damen aus der Nähe zu betrachten. Und diese hier war nicht einmal besonders hübsch. Auf einem anderen Monitor konnte er ganz oben links ein Stück der Anzeigetafel erkennen. Die Buchstaben drehten sich schwungvoll, da der zuletzt angezeigte Zug soeben abgefahren war. Die Namen der neuen Stationen klangen bis zur Grenze spitz und einsilbig: Bern, Thun, Spiez, Visp, Brig. Dann aber: Domodossola. Auf der anderen Seite gönnte man sich, wie zum Ausgleich, fünf Silben für eine einzige Station. Marotti kannte die Strecke auswendig. Unzählige Male war er auf ihr hin- und hergefahren, um Verwandte zu besuchen, die auf der Alpensüdseite in geradezu absurden Mengen vorhanden waren und die er beschlossen hatte zu meiden, da sie Fragen stellten, die er nicht jetzt und vielleicht nie würde beantworten können. Schon fuhr auch dieser Zug wieder ab und die Buchstaben ratterten in neue Konstellationen. Marotti nahm noch eine Schmerztablette und wandte sich den anderen Bildausschnitten zu.

L

Sie hatte Genf abgesagt. Es war das erste Mal in ihrer gesamten Berufslaufbahn, dass sie sich krankmeldete, und es würde nicht leicht werden, noch am selben Tag jemanden zu finden, der völlig unvorbereitet für sie einsprang. Dabei war sie überhaupt nicht krank. Der Regionalzug hatte sie zum Badischen Bahnhof gebracht, von dort war sie umgestiegen und gerannt, um den Anschlusszug am Schweizer Bahnhof nicht zu verpassen. Plötzlich, mitten in einem Schritt, hatte ein wogender Schwindel sie mit einer solchen Wucht überrascht, dass sie sich auf eine Bank setzen und ausruhen musste. Die neue Möglichkeit lag in Form einer kurzen Nachricht zementblockschwer in ihrer Tasche. Sie befühlte ihren Ausweis mit den Fingerspitzen, als sei er ein Gegengift, durch das sie sich ihrer selbst wieder sicher werden könnte. Während der Aufräumarbeiten hatte sie auch einen Pass ihrer Schwester entdeckt und mitgenommen, obwohl es ganz und gar nicht ihrer Art entsprach, unbrauchbar Gewordenes nicht sofort zu entsorgen.

Ihren Namen verdankte sie einem humanoiden Fossilfund, dem über drei Millionen Jahre alten Skelett eines weiblichen Australopithecus afarensis. Ihr Vater, der Archäologe, hatte sich eine Weile damit beschäftigt. Das Skelett wiederum verdankte seine Bezeichnung einem Lied der Beatles. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, eine französische Version für die Geburtsurkunde zu wählen. Nicht nur, weil sie selbst Französin war, sondern auch, weil der Name ihr in dieser Form seriöser erschien und das Kind schließlich einmal erwachsen wäre und ernst genommen werden sollte. Ihre Zwillingsschwester Laure kam zehn Minuten später zur Welt. Sie waren keine eineiigen Zwillinge, zum Glück nicht, fand sie. Der einzige Vorteil von genetischer Übereinstimmung bestand ihrer Meinung nach in den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man daraus ziehen konnte. Aber abgesehen davon zeugte es von übertriebenem Geiz, ein und denselben Bauplan gleich für mehrere Personen zu verwenden. Geiz war eine der wenigen schlechten Eigenschaften, die sie nicht besaß. Sie hob sich nichts für später auf. Sie konnte es sich nicht leisten, sich etwas für später aufzuheben. Zumindest hatte sie das bisher geglaubt. Mittlerweile waren es mehrere Bankberater, die gleichzeitig auf sie einredeten, sobald sie eine Filiale betrat. Sie sprachen leise und eindringlich, als sei sie kurz davor, sich von einer Brücke zu stürzen.

»Vertrauen Sie uns!«, flüsterten sie mit schlecht verborgener Panik in den Augen.

»Wir können Ihnen helfen!« Man beschwor sie, man murmelte Formeln, die sich ständig wiederholten, manchmal erinnerte es fast an einen Exorzismus. Sie musste besessen sein. Woran sonst konnte es liegen, dass sich jemand, der so gut verdiente wie sie, in diesen unsicheren Zeiten absichtlich gegen eine Altersvorsorge entschied? Diese Person ließ entweder einen Dämon in ihrer Seele hausen oder sie hatte überzeugende Beweise dafür, dass sie niemals älter werden würde als vierzig.

Neben ihr hatte ein Mann in einem albernen Kostüm Platz genommen. Sie rechnete damit, dass er ihr gleich einen Werbeprospekt in die Hand drücken würde, und nahm Abstand. Er starrte sie an, und sie warf ihm einen Blick zu, der – so hoffte sie – dazu führen würde, dass er gar nicht erst auf die Idee käme, Worte an sie zu richten. Sie wollte allein sein und zuschauen, wie Menschen Bahntickets kauften. Über den historisch holzvertäfelten Billetschaltern befand sich das Panorama irgendeiner Alpenkette. Das Weiß der Gletscher hatte längst seine Unschuld verloren und die Berge sahen müde aus, aber die in langen Schlangen stehenden Kofferträger an den Schaltern darunter wimmelten und drückten sich voran. Es gab nichts Beruhigenderes als Bewegung, als Menschen, die unterwegs waren zu Orten, an denen man sie erwartete, ob mit Freude oder nicht war nebensächlich, aber sie liefen, sie stürmten, sie schleppten sich vorwärts, um sich über Gleise, über Autobahnen oder durch die Luft ziehen zu lassen, und sie genossen es heimlich, auch wenn sie über die Hektik schimpften und jammerten, dass sie nie zur Ruhe kämen. Sie glaubte niemandem, der sich darüber beschwerte. Immer mehr Leute verschlangen neuerdings ihre Beine auf fliederfarbenen Matten, um still sitzen zu lernen, aber sie hatte nie verstanden, warum man nicht weiterging, solange man konnte. Sie versprach sich, gleich wieder aufzustehen, sie wollte nur eine Runde aussetzen, mehr nicht, und dann weiterfahren, wohin auch immer. Das Stück Papier mit den Worten darauf, das sie heute Morgen auf dem Küchentisch ihrer Großmutter gefunden hatte, würde sie einfach wegwerfen und vergessen. Sie konnte damit nicht herumlaufen. Niemand, egal ob tot oder lebendig, hatte das Recht, ihr eine derartige Last aufzuzwingen. Sie reiste mit federleichtem Gepäck, denn sie kaufte, was sie brauchte, und was sie nicht mehr brauchte, ließ sie liegen, wie eine sich häutende Schlange. Sie hatte sich auf der Welt verteilt. Überall befanden sich Spuren ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Dingen, die vorübergehend nutzlos geworden waren. Es war ihre Art zu sagen: »Ich war hier.«

S

Vor Jahren hatte der sogenannte Careers Service motivierte, gut gelaunte Menschen geschickt, um Simon und den anderen Studenten beizubringen, wie man die Stationen seines Werdegangs bewerbungstauglich zu Papier brachte. Kinoleinwandgroß präsentierte jeder Orientierungshelfer sein eigenes Curriculum Vitae, aus welchem klar und deutlich hervorging, dass die Leidenschaft für den Beruf des Berufsberaters bereits im Kindergarten begonnen hatte. Auch Simons Brüder hatten wunderschöne Lebensläufe: nachvollziehbar, ineinandergreifend, sauber und lückenlos, wie das blendend weiße Modellgebiss, mit dessen Hilfe der Zahnarzt die richtige Putztechnik demonstrierte. Bei ihm dagegen wackelte alles, und zwar von Anfang an. Es gab mehr Löcher als Zahnsubstanz, und selbst diese war längst keiner einheitlichen Spezies mehr zuzuordnen. Das DIN-A4-Blatt seines Lebens musste jedem Arbeitgeber wie eine Aneinanderreihung idiotischer Anwandlungen erscheinen, wie eine unordentliche, zusammenhangslose Liste merkwürdiger Situationen, von denen er meistens selbst nicht mehr genau sagen konnte, wie er in sie hineingeraten war.

Er wusste immerhin noch, dass er sich für die nordenglische Stadt als Studienort entschieden hatte, weil sie Zürich so dermaßen unähnlich war, und dass er geglaubt hatte, Altphilologie müsse das Richtige für ihn sein, weil seine Eltern ihre Stirn so tief runzelten, als er laut darüber nachdachte.

»Wovon willst du dich ernähren?«, fragten sie besorgt.

»Von meinem Millionenerbe«, hatte er etwas zögernd erwidert, woraufhin sein Vater ihm empört den Rücken kehrte und seine Mutter drohte: »Das werden wir sehen!«

Simons Großvater hatte ein Zahnpastaimperium gegründet, das sich nach und nach auch in andere Bereiche ausgedehnt hatte, bis ihnen die Körperteile ausgingen, die man noch mit irgendetwas hätte behandeln, reinigen und pflegen können. Sein Vater hatte eine Möglichkeit gefunden, die Reichweite zu vergrößern, indem er Schmerzmittel und Produkte für die Wiederherstellung der ins Wanken geratenen Psyche mit ins Sortiment nahm. Mittlerweile besaß er einen der größten Pharmakonzerne des Landes, der auch weltweit noch unter den ersten zehn rangierte. Simon dagegen würde aller Wahrscheinlichkeit nach niemals zu den Top Ten von irgendetwas gehören, das man in seiner Familie für erstrebenswert hielt.

In der Arbeiterstadt, die keine mehr war, hatte er gehofft, vor dem Einfluss seiner durch goldene Blisterpackungen geadelten Familie sicher zu sein. Schon immer hatte er sich im toten Winkel ihrer Gruppenfotos am wohlsten gefühlt. An unglamourösen Orten zu leben hieß, seine Verwandten auf Abstand zu halten. Jeder, der die wohlgenährten Ratten bemerkt hatte, die ungestört zwischen den klebrigen Küchen der Studentensiedlung herumliefen, kam so schnell nicht mehr auf die Idee, ihn zu besuchen. Als er mit drei Kommilitonen in ein Haus umzog, gab es immerhin nur noch Nacktschnecken, deren regenbogenfarbige Schleimspuren man morgens auf den modrigen Teppichböden fand. Heizungen funktionierten in diesen Häusern grundsätzlich nicht, so dass es immer feuchtkalt war und alle leicht nach dem Schimmel rochen, der sich in ihrer Kleidung festgesetzt hatte. Simon hatte seine Ruhe. Aber die Ruhe hatte einen Preis. Es war eine große Herausforderung, sich erst bei Einbruch der Dunkelheit die erste alkoholische Erleichterung zu verschaffen, die einen die feuchte Kälte vergessen ließ und die fünfzehnjährigen Ureinwohnerinnen, die ihre Kleinkinder durch das trostlose Stadtzentrum schoben, immer im Kreis. Simon kaufte sich regelmäßig eine Wochenkarte für das Busunternehmen Magic Rider, wartete aber vergeblich auf einen magischen Moment während der Fahrt. Die Strecke von seiner Behausung über den Universitätscampus bis zum Zentrum verlief immer geradeaus, es war möglich, hier zu leben und kein einziges Mal nach links oder rechts abzubiegen. Hinter dem Campus lag Moss Side mit seinen Bandenkriegen, Helikopterrazzien und Messerstechereien, die nur noch die unmittelbar Betroffenen zu interessieren schienen. Das alles nahm Simon in Kauf, solange er glaubte, dem Einflussbereich seiner Familie endgültig entkommen zu sein. Aber kurze Zeit später lief er an einem Zeitungsstand vorbei, und sein großer Bruder lächelte vom Titelblatt eines Wirtschaftsmagazins. Im Hintergrund flatterten die Segel seines gerade erworbenen Bootes.

Einmal hatte Simon im Bus versucht, eine junge Frau zu zeichnen. Sie war bezaubernd gewesen, solange sie verschlafen aus dem Fenster gesehen hatte, ihr zerzauster Kopf kippte immer wieder zur Seite, suchte Halt am eiskalten Glas. Weil sie so müde aussah, machte er sich nicht die Mühe, sich besonders unauffällig zu verhalten, weshalb sie seinen Blick irgendwann wahrnahm und sofort damit begann, eine Verführungsartillerie abzufeuern, die alles, was ihn gereizt hatte, ins Lächerliche zog. Sie fuhr sich übertrieben oft durchs Haar, als habe sie irgendwo gelesen, dass eine solche Fummelei die richtigen Signale sendete, dann wechselte sie die Neigung ihres Kopfes und die Verschlingung ihrer Beine, mal links unten, mal rechts, zerrte an ihrer Strumpfhose und rüttelte ihre Brüste zurecht, während sie ununterbrochen ein fettig glänzendes Zeug auf ihre Lippen schmierte. Als er ausstieg, warf er die Zeichnung zusammen mit der Nummer, die sie ihm zugesteckt hatte, in den nächstgelegenen Mülleimer. Danach hatte er noch mehr darauf geachtet, so wenig wie möglich ins Blickfeld zu geraten. Für einen Mantel, der unsichtbar machte, hätte er einiges getan. Aber auch ein paar Gläser mit Inhalt konnten manchmal helfen, um sich weniger ausgesetzt, weniger außerirdisch zu fühlen. Wenn er abends mit dem Bus nach Hause zurückfuhr und noch nüchtern war, hätte er die Luft anhalten müssen, um es zu bleiben. Auf beiden Decks stiegen hochprozentige Fahnen aus den Mündern derer, die es geschafft hatten, rechtzeitig vor den last orders den angestrebten Pegel zu erreichen. Es gab meist keinen Platz mehr zum Festhalten, was aber nicht schlimm war, da man auch bei scharfen Bremsmanövern von fettgepolsterten, beinahe unbekleideten Körpern weich aufgefangen wurde. Simon fand es merkwürdig, dass dieses Manchester, das einmal für seine Textilien weltberühmt gewesen war, mittlerweile selbst im Winter so äußerst sparsam mit ihnen umging. Aber vielleicht wollten die kaum bedeckten Oberweiten an Agricolas Militärlager erinnern, an den Ursprung der Stadt. Die Römer hatten es schließlich Mamucium genannt, brustförmiger Hügel.

Es war eine graue Zeit, die er teilweise in diversen Pubs und zum anderen Teil in der Bibliothek verbrachte, nicht zuletzt deshalb, weil es dort warm war, und weil das Versinken in den antiken Schriften ihm eine kleine Tür zu sonnigeren Orten bot. Nach Abschluss seines Studiums bekam er durch einen Dozenten und mehr zufällig als durch eigenes Bemühen die Möglichkeit, den Sommer über in Athen zu arbeiten. Er blieb zwei Jahre lang, und was er in dieser Zeit genau tat, war schwer zu beschreiben. Da er sehr sparsam lebte, reichte ihm der magere, zum familiären Wohlstand vollkommen unproportionale Betrag, der von seinem Vater monatlich überwiesen wurde, in der Annahme, sein Sohn arbeite an einer Doktorarbeit über die Einflüsse panathenäischer Preisamphoren auf die römische Vasenmalerei. Nichts dergleichen hatte Simon jemals vorgehabt. Aber er langweilte sich nicht. Langeweile war ihm ein Rätsel. Die Zeit, die sich morgens ausrollte wie ein wallender Teppich, schrumpfte in solch rasender Geschwindigkeit zu einem winzigen Fußabtreter zusammen. Auf dem Markt konnte er Ewigkeiten damit verbringen, zwischen verschiedenen Olivensorten herumzustehen und zu überlegen, wie viele er von welcher Sorte nehmen würde. Oft kam es vor, dass er überhaupt keine nahm, das lange Ansehen stimmte ihn bereits zufrieden. Es ging nicht ums Geld, denn der Markt war ohnehin außerordentlich billig. Er genoss es nur zutiefst, dass niemand ihn zu einer Entscheidung drängte. Das Trinken hatte er hinter sich. Hier brauchte er es nicht zum Warmwerden, und den griechischen Wein fand er ungenießbar. Kurz nach seiner Tätigkeit als Touristenherumführer hatte er sich noch einige Male nach weiteren Arbeitsmöglichkeiten erkundigt. Aber es gab so viele andere, noch viel besser qualifizierte Universitätsabsolventen, mit Lebensläufen, die vor praktischer Erfahrung aus allen Nähten platzten, Leute, die sich darum rissen, vor gelangweilten Menschenmassen ihre Stimmbänder zu strapazieren, und Simon sah einfach kein großes Vergehen darin, nicht mit ihnen mithalten zu können und es noch nicht einmal zu wollen. Er wohnte in Piräus, in einem winzigen, dunklen Zimmer, durch das er aber Zugang zu einer Dachterrasse hatte, die er sich mit den Nachbarn teilte. Simon kam ihnen mehr als seltsam vor, besonders am Anfang, als sein noch kaum vorhandenes Neugriechisch immer wieder durchsetzt war mit antiken Vokabeln, die niemand verstand. Manchmal saß er stundenlang auf der Terrasse und beobachtete, wie um ihn herum Pflanzen bewässert, Kinder ausgeschimpft und Thermosiphonanlagen gewartet wurden. Die wummernden Bässe aus den Autos von der Straße übertönten ab und zu das Dröhnen eines Radios auf dem gegenüberliegenden Balkon, das nur beim Wechseln der Batterien manchmal kurzzeitig verstummte. Simon saß da und freute sich an der staubtrockenen Luft, den strengen, wüstenkargen Hügeln, dem abends sanft abklingenden, tagsüber beinahe brutalen Blau des Himmels. Die Leute holten ihre Wäsche, in deren Fasern noch die Hitze des Tages hing, sahen ihn und schüttelten den Kopf.

»Du bist jung!«, stellten sie fest, und es war eindeutig ein Vorwurf, dem er, in Ermangelung ausreichender Sprachkenntnisse, nichts entgegenhalten konnte. Möglicherweise lag es aber nicht nur an der Sprache. Überall auf der Welt gab es ähnliche Vorstellungen davon, wie junge Menschen zu sein hatten, nämlich übermütig, wild und abenteuerlustig, getrieben von Ehrgeiz und Arbeitseifer oder wenigstens ständig auf der Suche nach der besten Party der Welt. Auf einem Stuhl zu sitzen, hatte nichts damit zu tun. Selbst dann nicht, wenn er auf seinem Block herumkritzelte und so tat, als würde er zeichnen. Um auszusehen wie jemand, der ein gesellschaftlich gebilligtes Leben führte, begann er nach einer Weile morgens die Linie Eins in Richtung Kifissia zu nehmen. Manchmal blieb er einfach sitzen, manchmal stieg er um, am verwesenden Omonia-Platz oder in Monastiraki, wo Touristenmassen Abbildungen der Athene erstanden, die gleichzeitig als Radiergummi verwendet werden konnten, auch wenn keiner von ihnen mehr einen Bleistift besaß. Nach einer Weile lernte Simon immer besser zu verstehen, worüber sich die Leute um ihn herum unterhielten. Als er beinahe alles verstand, spürte er eine gewisse Enttäuschung darüber, dass es Gespräche waren, die genauso gut in der Tram in Zürich oder im Manchester Magic Bus hätten geführt werden können. Als hätte er heimlich erwartet, dass man sich hier über den Duft der Rosmarinsträucher am Akropolishügel austauschte. Er hatte wohl noch nicht aufgehört zu hoffen, dass es einen Ort auf der Welt gab, an dem die Mehrheit aller Einwohner genauso seltsam war wie er selbst. Es war ein lächerlicher, kindischer Wunsch, aber die Einsicht darüber machte die Enttäuschung nicht leichter. Wenn er in einem Café saß, passierte es nicht selten, dass man ihn anstarrte. Oft waren es Frauen, manchmal auch welche, die er durchaus interessant gefunden hätte. Aber gerade diese erwiesen sich fast immer als unerreichbar. Das Versprechen, das sein Aussehen gab, konnte er nicht halten. Die durch genetischen Zufall entstandene harmonische Anordnung seiner Körperteile verschaffte ihm, der sich von innen heraus beurteilte, keinerlei Selbstsicherheit. Seine Anstrengungen, normal zu erscheinen, erwiesen sich so gut wie immer als vergeblich. Während er umständlich seine Worte abwog, verloren besonders die Frauen oft ihr schnell entflammtes Interesse. Es dauerte einfach viel zu lange, bis er seinen wild ratternden Gehirnmechanismus übersetzen konnte in eine tatsächliche Handlung oder wenigstens in einen ausgesprochenen Satz. Dass er überhaupt schon mit Frauen geschlafen hatte, war hauptsächlich der weiblichen Initiative zu verdanken. Schüchternheit war nicht das richtige Wort dafür, er hatte keine Angst vor Menschen. Aber es war, als sei sein Kopf viel zu oft nicht simultan mit allem anderen. Er dachte zu viel und zu ineffizient. Er war zu langsam.

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