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Maria Meyer

Mandoria - Das magische Erbe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Cynthia knurrte, als sie die Hufschläge auf dem Gang hörte. Ein Gesicht erschien hinter den Gitterstäben. Es war keiner der beiden Soldaten, die sie hierher gebracht hatten. Sie bewegte sich keinen Millimeter, saß nur im Schneidersitz da, den Rücken kerzengerade, und starrte den Zentauren an. Sie wusste, dass dieser Blick vielen Leuten Angst machte. Auch in den Augen des Wachmanns vor ihrer Tür flackerte Unbehagen auf, wie sie zufrieden bemerkte.

„Eine Vampirin“, stellte er fest, machte jedoch keine Anstalten die schwere Tür zu öffnen. Sie reagierte nicht. Sie hatte sich bewusst direkt auf den Steinboden gesetzt, nicht auf das Stroh oder die Decke. Sicher würden andere Wesen auf den Steinen frieren, doch das letzte Mal als sie Kälte gespürt hatte war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnerte wie es sich anfühlte. Wer sie sah, sollte ruhig wissen, dass sie diese menschliche Schwäche nicht mehr hatte. Vampire wurden verachtet – doch sie wurden auch gefürchtet. Niemand sollte sie für eine wehrlose Gefangene halten.

„Zalador wird heute Abend noch zu unserem neuen König gekrönt“, verkündete der Zentaur. Cynthia lachte bitter. Sie konnte fast spüren wo sich das Seil, das der Zauberer heraufbeschworen hatte, um ihren Körper zusammengezogen hatte. Wenigstens hatte man ihr das wieder abgenommen. „Was?“, fragte sie spöttisch, „diese Absurdität? Ein Mensch, der zu etwas Unnormalem geworden ist? Das kommt mir so bekannt vor... Ach nein, es ist doch etwas ganz anderes. Die magische Ausbildung macht man nämlich freiwillig!“

„Du bist nicht hier, weil du ein dreckiger Halbdämon bist. Niemand hat dir und deinen Artgenossen den Krieg erklärt“, schnaubte der Zentaur. „Habt ihr etwa nicht freiwillig für Ramos gekämpft?“ Cynthia dachte an Tim, der ihr Freund gewesen war und sie dann als Bestie beschimpft hatte. Sie dachte an ihre Eltern, die mitten in der Nacht das Dorf verlassen hatten, wahrscheinlich um irgendwo hinzuziehen, wo niemand wusste, dass das Kind, das sie zurückließen einen streunenden Wolpertinger getötet hatte um sein Blut zu trinken. „Mir wurde hundertmal der Krieg erklärt“, sagte sie. „War’s das jetzt?“

Der Zentaur runzelte wütend die Stirn. „Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu unterhalten. Der neue König lässt allen Gefangenen ausrichten, dass diejenigen, die einwilligen seine Fragen zu beantworten, sofort zu ihm geschickt und noch heute freigelassen werden. Cynthia musste fast lachen. „Und, wie viele haben bis jetzt eingewilligt?“ Der Zentaur schluckte. „Niemand“, antwortete er. „Die anderen Gefangenen haben sich in ihren Zellen umgebracht.“ Natürlich hatten sie das. Es waren Dämonen und zwar nicht gerade mächtige. Es würde nicht lange dauern, bis die Unterwelt sie wieder ausspuckte.

Sie hatte allerdings nur ein Leben zu verlieren. „Und was passiert wenn man sich verweigert?“, verlangte sie zu wissen. Der Zentaur schüttelte den Kopf. „Du hast keine Angst, weil du weißt, dass Zalador immer gegen Folter plädiert hat, was? Glaub mir, ein Zauberer hat andere Mittel und Wege aus dir herauszukriegen was er wissen will. Wenn du mitkommst, bist du noch heute frei – wenn du hier bleibst gewinnst du am Ende gar nichts.“

Cynthia bleckte ihre Fangzähne. Sie hatte seit zwei Tagen kein Blut getrunken. Nur zu gerne würde sie sich auf diesen arroganten Wärter stürzen. „Eine Sache werde ich dir verraten“, meinte sie. „Arkaros ist am Leben.“ Der Gedanke an ihn brachte sie selbst zum Schaudern und sie hoffte er würde auch dem Zentauren Angst machen. „Ihr könnt euch weiterhin in Sicherheit wiegen, aber er lebt und er wird dich töten. Und weißt du warum? Weil du anders bist als er. Kommt dir das bekannt vor?“

Sie lächelte, als sie den Schrecken in seinen Augen sah.

1.

„Verehrte Anwesende, bitte erheben sie sich!“ Eine laute Fanfare ertönte und das Tor des Thronsaals wurde von zwei Zentauren mit wallenden roten Umhängen aufgerissen. Ruckartig erhob ich mich von dem aufwendig verzierten Stuhl. Gleichzeitig sprangen überall im vollbesetzten Saal Leute auf und wandten ihre Gesichter dem Tor zu. Während die Trompeten eine majestätische Melodie spielten, die den ganzen Saal erfüllte, begann eine Prozession langsam ihren Weg, zwischen den beiden Blöcken von Stuhlreihen hindurch, auf uns zu.

Vorneweg schritt ein Soldat in reich geschmückter, goldener Rüstung und mit einer Vielzahl von glänzenden Orden an der Brust. Ihm folgte ein alter Feenmann mit gütigem Gesicht und einem schlichten, schwarzen Anzug, in dem am Rücken zwei Spalte für seine schmetterlingsähnlichen Flügel waren. Beide wurden von Elfen mit einer roten Kappe über den spitzen Ohren und einem purpurfarbenen Kissen in den Händen begleitet.

Überall im Saal wurden die Köpfe gereckt. Auch ich lehnte mich nach rechts und schob Danny ein Stück zur Seite, um einen Blick auf die goldene Krone und das reichverzierte Schwert zu erhaschen, die auf den Kissen thronten.

Aber dann wurde die Aufmerksamkeit der Gäste auf etwas anderes gelenkt. Hinter dem Feenmann und dem Elf folgte ein weiteres Paar: Tom, der einen schwarzen Anzug mit dunkelbraunem Einstecktuch trug, das zu seiner dunklen Haut und dem braunen Edelstein in seinem goldenen Amulett passte, und neben ihm ein weiterer Elf mit roter Kappe. Mein Herz machte einen kleinen Freudensprung, als ich Finn erkannte. Er hielt den Kopf hoch erhoben und schaute sowohl aufgeregt, als auch ziemlich selbstzufrieden drein. Auf dem Kissen, das er trug, lag ein goldenes Amulett mit einem makellosen, funkelnden Diamanten, der den ganzen Saal in matten Glanz tauchte – das Amulett des Lebens.

Ich schaffte es nicht, das Lächeln von meinem Gesicht zu wischen. Finn sah so stolz aus. Und er hatte es wirklich verdient. Ich wusste, dass so sein Mut und seine Aufopferungsbereitschaft geehrt wurden. Auch Lucy neben mir hatte den Elfen erkannt. Sie fing meinen Blick auf und lächelte.

Lucy sah wunderschön aus. Sie trug ihre schwarzen Haare in einer lockeren Hochsteckfrisur und das blassblaue, knielange Kleid passte perfekt zu ihren Augen. Eigentlich sahen alle Amulettträgerinnen unglaublich aus. Während die männlichen Amulettträger schwarze Anzüge mit unterschiedlichen Einstecktüchern trugen, hatte man uns in extra für diesen Anlass gefertigte Kleider gesteckt. Hier im Palast waren wir eingekleidet worden. Als ich mich danach im Spiegel gesehen hatte, hatte ich mich selbst kaum wiedererkannt. Ich trug ein bodenlanges Kleid aus silbrig-weißem, unglaublich leichtem Stoff, in dem sich das Licht in den Regenbogenfarben brach, genau wie in dem Edelstein auf meiner Brust. Meine hellbraunen Haare, die von Natur aus ein wenig lockig waren, waren mit silbernen Spangen verziert. Selbst die hässliche Wunde an meinem Arm war dank der Heilkunst der Elfen und Feen inzwischen nicht mehr als eine feine, weiße Narbe. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl atemberaubend schön zu sein.

Eine weitere Fanfare ertönte und hinter Tom und Finn erschien Zalador, flankiert von der königlichen Leibwache, vier Männern mit dunklen edelsteinbesetzten Brustpanzern. Seine weißen Gewänder waren mit goldenen Mustern verziert. Ein Edelstein – ein Diamant – wiederholte sich hier immer wieder. Das Symbol für das Amulett des Lebens – das Symbol des Königs von Mandoria.

Zalador nickte freundlich lächelnd nach rechts und links, während die kleine Prozession den Gang durchquerte und schließlich vor dem Thron stand. Der Zauberer hielt vor der Plattform auf der der Thron stand an und wandte sich der Menge zu. Der Rest der Prozession verteilte sich rechts und links von ihm.

Finn hatte mich entdeckt und zwinkerte mir zu. Er schwebte zwischen dem Thron und uns, den Amulettträgern, in der Luft. Auf der anderen Seite des Thrones saßen die Mitglieder des Rates auf Stühlen, die ebenso kunstvoll verziert waren wie unsere. Oder zumindest hatten sie gesessen. Denn jetzt standen alle aufrecht und beobachteten, wie ein Satyr mit einem silbernen Stock und einer Schriftrolle in der Hand vortrat. Zur Feier des Tages hatte er seinen schwarzen Umhang gegen einen weißen eingetauscht. Es war nämlich genau der Satyr, der noch heute Morgen mein Todesurteil verlesen hatte. Aber als ich sah, dass ihm von der Schlacht mit den Dämonen ein dicker Verband um den Kopf geblieben war, konnte ich ihm das schnell verzeihen.

Der Satyr klopfte zweimal mit dem Stock auf den Boden, dessen Mosaike an manchen Stellen noch aufgebrochen waren, und begann, die Schriftrolle vorzulesen. Sie erzählte die Geschichte Mandorias: Wie die alten Zauberer aus zwölf Edelsteinen die Amulette geschmiedet und mit dem Amulett des Lebens den ersten König von Mandoria gekrönt hatten. „Heute“, sagte der Satyr, „wird unser neuer König gekrönt, als der rechtmäßige Nachfolger von König Grimor dem Dritten.“

Noch einmal stieß er seinen Stock auf den Boden und die Gäste im Saal applaudierten. Dann trat der Soldat vor und wandte sich Zalador zu. „Als Zweiter Offizier des mandorischen Heeres“, begann er, „und stellvertretend für den Ersten Offizier, übertrage ich euch die Befehlsgewalt über die Streitkräfte Mandorias.“ Ich warf Sam einen kurzen Blick zu und merkte, dass so ziemlich alle Amulettträger das taten. Er sah weiterhin geradeaus und fixierte den zweiten Offizier, als ob ihm das gar nicht auffiel.

Dieser nahm das Schwert mit dem goldenen Griff vom Kissen, ließ sich auf ein Knie nieder und hob es mit beiden Händen hoch. Zalador nahm die kostbare Waffe, hielt sie mit beiden Händen hoch, wie um sie der Menge zu zeigen und sprach die Worte, die zur Krönungszeremonie gehörten: „Ich nehme diese Ehre an und schwöre, die Feinde Mandorias mit all meiner Macht zu bekämpfen.“

Ich wollte applaudieren, aber ließ die Hände schnell wieder sinken, als ich sah, dass noch niemand klatschte. Stattdessen schwebten der alte Feenmann und der Elf mit der Krone nach vorn. „Im Namen des Rates der Weisen“, sagte der Feenmann und hob vorsichtig die Krone von dem roten Kissen, „kröne ich euch und mache euch neben dem Rat zum obersten Richter und Gesetzgeber.“

Jetzt kniete Zalador nieder und der Feenmann hob die goldene Krone auf seinen Kopf. „Ich nehme diese Ehre an“, sagte Zalador, als er sich wieder erhob, „und schwöre, in Krieg und Frieden ein weiser und gerechter König zu sein.“

Auch der Feenmann zog sich zurück und stellte sich auf die linke Seite des Thrones, zu den anderen Mitgliedern des Rates. Jetzt wandten Tom und Finn sich Zalador zu. Toms tiefe Stimme wurde durch den ganzen Saal getragen: „Im Namen der Amulettträger überreiche ich euch das Amulett des Lebens und mache euch zum König von Mandoria.“ Er nahm das Amulett von Finns Kissen und legte es Zalador um. Als es seine Brust berührte, verströmte es weißen Glanz. „Ich nehme diese Ehre an“, sagte Zalador, „und schwöre, dass mein Herz rein ist, wie der Diamant, der über meinem Herzen ruhen soll, bis zu meinem Tod.“

Jetzt brach die Menge in Applaus und Jubel aus. Ich selber klatschte so laut, dass meine Hände wehtaten. Unter einer erneuten, ohrenbetäubenden Fanfare erklomm der neue König die Stufen und ließ sich auf seinem Thron nieder. Der Satyr mit dem weißen Umhang stieß mit seinem Stock auf den Boden und rief: „Lang lebe Zalador der Erste! Lang lebe der König!“ „Lang lebe der König!“, schrie der ganze Saal, auch ich. Und die Rufe ebbten erst ab, als Zalador sich erhob.

„Bürger von Mandoria“, sagte er mit seiner ruhigen, klaren Stimme, die wie immer alle zum Verstummen brachte, „ich fühle mich geehrt und gerührt, von diesem Thron zu euch sprechen zu dürfen.“ Durch die Glaskuppel des Saales entdeckte ich plötzlich ein farbiges Leuchten vor dem sich bereits verdunkelnden Himmel. Ich reckte den Kopf nach oben und sah genauer hin. Mehr als zwanzig Elfen schwebten in einem Kreis über dem Dach des Palastes. Zwischen ihnen war eine glitzernde Projektion Zaladors zu sehen, die sie anscheinend durch Magie entstehen ließen. Der neue König sprach nicht nur zu den Anwesenden, sondern zu der ganzen Stadt.

Die im Saal versammelten Wesen nahmen wieder Platz und lauschten aufmerksam der Rede. Tom hatte sich zu uns gesetzt, auf den letzten freien Stuhl zur Rechten des Thrones.

Zalador sprach allen Bürgern, die gegen die Dämonen in den Kampf gezogen waren, seinen Respekt aus und versprach, alles zu tun, um Sebulon zu finden und Mandoria wieder sicher zu machen. „Hört nicht auf das, was Sebulon versucht uns weiszumachen!“, beschwor er die Zuhörer. „Arkaros ist tot. Wer etwas anderes behauptet tut das nur um Panik zu stiften. Ich kannte Arkaros und ich würde sein Werk erkennen, wenn ich es sehe. Ich wüsste es, wenn er noch am Leben wäre.“

Während er sprach, kam mir ein schrecklicher Verdacht. In meinen Träumen war immer wieder etwas anderes aufgetaucht, als der ältere Sohn König Grimors. Eine Stimme, die keinen Körper zu haben schien, eine Stimme, der alle anderen gehorchten. Zweimal hatte ich diese Stimme gehört, und beide Male hatte sie zu einem echsenartigen Wesen gesprochen und ihm befohlen: „Tötet sie alle!“ Beim Gedanken daran lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Aber es konnte nicht Arkaros sein. Ich hatte keinen Grund Sebulon oder seinem Verräterbruder mehr zu glauben als Zalador. Doch auch ein anderer, mächtiger Dämon würde gefährlich sein. Ich würde Zalador so schnell wie möglich davon erzählen. Wenn jemand mit diesen Horrorvisionen etwas anfangen konnte, dann wohl er.

Die Menge brach erneut in Jubel aus. Lucy und Danny neben mir klatschten wie verrückt. Während ich meinen Gedanken nachgehangen hatte, hatte Zalador seine Rede offenbar beendet, denn er und die gesamte Prozession verließen den Saal durch den Mittelgang und die versammelten Leute begannen langsam, ihnen zu folgen. „Jetzt wird draußen gefeiert“, meinte Lucy. Sie sprang auf und strich sich die Haare aus der Stirn. „Na los, Komm mit!“

Danny tauchte neben uns auf. „Du wirst so was von begeistert sein“, meinte er grinsend. Ich lächelte. „Ach ja? Wovon?“ „Da ist eine riesige Terrasse!“, erzählte Lucy begeistert. „Und in den Bäumen...“ „Sie wird’s ja gleich selbst sehen“, unterbrach Danny sie. „Mann, pass doch auf!“ Ein Zentaur hatte versucht, sich an ihm vorbei zu quetschen. Natürlich hatte er nicht wissen können, dass um Dannys Brust, die noch heute Vormittag aufgerissen und blutig gewesen war, noch ein dicker Verband lag.

Wir kämpften uns durch die schwatzenden Leute bis zur hohen Flügeltür, die in einen mit rotem Teppich ausgelegten Gang führte. Die Gäste nahmen zunächst den Weg, der zu den Gefängnissen führte, und den ich schon zwei Mal gegangen war, bogen dann aber nach links ab, und plötzlich standen wir vor einer weiteren hohen Tür, die weit geöffnet war. Lucy und Danny grinsten mich von beiden Seiten abwartend an, während wir hindurchtraten. Sie hatten Recht gehabt: Ich war echt beeindruckt. Wir standen auf einer riesigen Terrasse, die wie der Rest des Palastes und der größte Teil der Hauptstadt aus weißem Marmor bestand. Drumherum lag ein gigantischer, perfekt gepflegter Garten, fast wie ein Park. Alle Bäume und Büsche waren fein säuberlich beschnitten. Einige bildeten Formen, wie Kugeln oder Sterne, oder sogar Figuren, wie zum Beispiel eine Fee und einen auf den Hinterbeinen stehenden Zentauren. Aber das war noch nicht das Schönste. In allen Baumkronen und auch über der Terrasse schwebten runde silbrige Lichter und warfen einen matten Schimmer über den Garten.

„Wunderschön, oder?“ Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Nikki neben uns stand. Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit silbernen Stickereien und die Lichter ließen ihre hellen Haare leuchten. Sie lächelte, als sie den Garten betrachtete. „Ich liebe das einfach.“ „General Hedley“, quietschte eine hohe Stimme. Mein Kopf zuckte in ihre Richtung und ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte. Aber als ich sah, wie eine Elfe in einem hübschen grünen Kleid auf Nikki zusteuerte, fiel mir ein, dass sie natürlich den gleichen Nachnamen trug wie ihr Bruder. „Ich wollte mich bei ihnen bedanken!“, rief die Elfe. „Sie haben meine Tochter geheilt!“

„Sie müssen sich nicht bedanken“, wehrte Nikki ab, aber die Elfe ließ sich nicht abwimmeln, sondern flatterte unter eifrigen Dankbarkeitsbezeugungen um ihren Kopf herum.

„Holen wir uns was zu essen?“, fragte Lucy. „Ich verhungere.“ „Klar, okay.“ Ich hatte zwar nicht wirklich Hunger, weil ich schon vor der Krönungsfeier mehrere Sandwiches gefuttert hatte – schließlich hatten wir als Gefangene nichts zu essen bekommen – aber das Buffet war so imposant, dass ich es mir wenigstens ansehen musste. Lucy schnappte sich einen Teller. „Diese Torte ist unglaublich“, sagte sie und schnitt sich vorsichtig ein Stück davon ab. „Die ist sozusagen mit Obstsalat gefüllt. Das da vorne ist Nektar für Feen und Elfen.“ Sie deutete auf etwas, das aussah, wie ein Schokoladenbrunnen, nur dass die Flüssigkeit, die daran herunterfloss, nicht braun, sondern golden war. „Und da hinten ist ein Extratisch für die Riesen.“

„Da ist dies und dort ist jenes. Passt gut auf, ich frage das im nächsten Test ab!“, äffte eine Stimme Lucys etwas belehrenden Tonfall nach. Jake kniff sie freundschaftlich in die Seite und sie ließ vor Schreck fast ihren Teller fallen. „Mein Gott, Jake!“, rief sie lachend. Der lachte nur. „Und, Emily, was hältst du so davon?“ Er sah sich um. „Ziemlich schick, oder?“

„Das stimmt“, meinte ich. „Wer hat denn das alles in einem halben Tag auf die Beine gestellt?“

„Mit ein bisschen Magie geht das schon“, meinte Lucy und nahm sich eine Gabel vom Buffet. „Kommt irgendwer mit, damit ich mich hinsetzen kann?“ „Klar!“, Jake nahm sich ein belegtes Brötchen.

Mir fiel etwas anderes ein: „Apropos Magie: Wisst ihr, ob Viola hier ist? Die Fee, die bei unserem Auftrag dabei war?“ Lucy zuckte mit den Schultern und sah sich ebenfalls um. „Keine Ahnung, kann sein.“

„Ich glaube, ich gehe sie mal suchen“, meinte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um mehr zu sehen, während Jake und Lucy auf einen der kleinen, verzierten Tische zusteuerten.

Es war trotz der schwebenden Lichter nicht leicht, jemanden von Weitem zu erkennen. Statt Viola entdeckte ich Finn, der, umgeben von einer Traube von Elfen, an einem Tisch saß. Da ich ihn nicht von seinen Bewunderern ablenken wollte, sah ich mich schmunzelnd weiter um. Vor der Flügeltür stand eine weitere große Gruppe: Zalador, der sich angeregt mit einigen Ratsmitgliedern, Tom und dem Zweiten Offizier unterhielt. Als ich mich schon umdrehte, um zu Lucy und Jake zurück zu gehen, sah ich Viola plötzlich. Die Fee schwebte über dem Buffet und hielt einen kleinen Kelch unter den Nektarbrunnen. „Hey, Viola!“ Ich schob mich um einen Satyr herum und trat neben sie. „Emily!“, sie lächelte und musterte mich von Kopf bis Fuß. „Schön zu sehen, dass es dir gut geht. Überhaupt keine Verletzungen?“ Ich zeigte ihr meinen rechten Unterarm mit dem bereits erheblich verkleinerten Schnitt. „Das hier, aber das ist ja schon fast verheilt.“ „Das war unglaublich“, meinte sie und schüttelte langsam den Kopf. „Ich dachte wirklich, es wäre vorbei mit uns.“ Ich schluckte. „Ich auch. Zalador hat uns auf die Idee gebracht. Wir haben eine Botschaft von ihm bekommen.“ Viola zog erstaunt die Augenbrauen hoch und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Ach, so ist das. Naja, ich habe zwar noch nie persönlich mit Zalador gesprochen, aber nach allem was man hört,

bin ich ziemlich zufrieden mit ihm als König.“ Ich nickte. Noch vor etwa einer Woche war ich unglaublich wütend auf den Zauberer gewesen, weil er mich in Mandoria festgehalten hatte. Aber Viola hatte Recht. Er hatte uns nicht nur gerettet, er hatte auch sofort nach dem Kampf die Versorgung der Verletzten organisiert, und wer so lange Amulettträger ausgebildet hatte, hatte sicher ziemlich viel Ahnung. Außerdem konnte ich nicht leugnen, dass er und sein herzliches Großvaterlächeln mir sympathisch geworden waren.

„Also, ich glaube, ich hole mir noch ein bisschen Obst“, überlegte Viola. „Bis später, vielleicht.“ Sie lächelte mir zu und schwebte mit ihrem Kelch in der Hand zum Buffet. Ich hatte immer noch keinen Hunger. Statt zu essen wollte ich mich lieber unterhalten.

Ich sah mich um, und suchte nach jemandem, den ich kannte, als mein Blick auf eine hochgewachsene Gestalt fiel, die sich mit zwei Gläsern in der Hand durch die Menge schob. Sam hatte die Jacke seines Anzugs ausgezogen und der weiße Stoff seines Hemdes schien in dem silbrigen Licht zu leuchten. Er sah sich suchend um und kniff ein wenig die Augen zusammen, wie immer wenn er sich konzentrierte. Ich holte tief Luft und versuchte, die Aufregung hinunterzuschlucken. Ich hatte nicht nur Lucy, sondern auch mir selbst versprochen, dass ich mit Sam reden würde. Ich musste wissen, was jetzt eigentlich Sache war. Schließlich küsste man sich nicht einfach und tat dann so als wäre nichts passiert.

Aber gerade, als ich mich in Bewegung setzte, trat eine weitere leuchtende Gestalt an Sam heran. Ich runzelte unwillkürlich die Stirn, als ich erkannte, dass es Kate war. Ihr bodenlanges Kleid war weiß, wie Sams Hemd, und mit einigen silbrigen Pailletten verziert. Sam gab ihr eines der beiden Gläser und sie lächelte kokett zu ihm hoch. Die beiden begannen, sich zu unterhalten. Na gut, vermutlich wusste sie nicht, dass wir uns geküsst hatten... aber trotzdem sollte sie gefälligst von ihm wegbleiben! Ich beschloss, einfach hinüberzugehen und mich mit den beiden zu unterhalten, bis Kate vielleicht endlich verschwinden würde. Vielleicht sollte ich Sams Hand nehmen... aber als ich mich vorsichtig unter einer Gruppe schnatternder Elfen hindurchduckte, traute ich meinen Augen nicht. Sam nahm Kate das Glas aus der Hand und stellte es auf dem Tisch neben sich ab. Dann legte er einen Arm um ihre Hüfte, zog sie an sich und küsste sie.

Mir stand wortwörtlich der Mund offen. Kate schlang elegant die Arme um seinen Hals und die beiden klebten so eng zusammen, dass mir schlecht wurde. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein! Erst küsste er mich, und dann sie? Und das am gleichen Tag? Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde vor Wut.

„Hey, Emily, wir haben dich schon gesucht.“ Ich fuhr herum. Lucy und Jake standen hinter mir und hatten nun offenbar auch entdeckt, was ich hier anstarrte. Jake runzelte die Stirn. „Das muss doch aber echt nicht in der Öffentlichkeit sein“, murmelte er und wandte sich ab. Lucy dagegen starrte die beiden genauso ungläubig an wie ich. Dann wandte sie sich mir zu und griff nach meinem Handgelenk. „Tut mir leid, Jake. Wir sind gleich wieder da“, sagte sie über die Schulter und zog mich zum Rand der Terrasse. Dass es für Jake vermutlich nicht besonders schwer war, daraus abzulesen, dass entweder Lucy oder ich ein Problem mit diesem Kuss hatten, war mir egal.

„Du siehst das Gleiche, was ich sehe, ja?“, fragte ich Lucy aufgebracht und fuchtelte mit dem Finger zu den beiden hinüber. Aber Lucy legte schon los: „Was ist das denn für ein komplettes Arschloch? Das hätte ich nie von Sam gedacht. Nie! Du hast noch nicht mit ihm geredet, richtig? Und jetzt geht er einfach hin und... und...“ Sie gestikulierte wild mit den Armen. „Oh mein Gott!“, zischte ich, unfähig wegzugucken. „So ein... Aaah!“ Und dann sahen sie auch noch gut zusammen aus. Mit ihren strahlend weißen Klamotten unter den Lichtern... widerlich.

Lucy legte ihre Hände auf meine Schultern. „Okay, weißt du, was ich machen würde? Ich würde zu ihm hingehen und eine richtige Szene machen. Und hoffen, dass es ihm verdammt peinlich ist.“ Ich war wütend genug, diesen Rat gerne anzunehmen.

Ich ging hinüber und tippte Sam auf die Schulter. Na gut, vermutlich war es etwas unsanfter als ein normales Tippen. Jedenfalls löste er sich endlich von Kate und wandte sich mir zu. „Ich muss mit dir reden...!“, setzte ich an, aber er unterbrach mich und meinte gut gelaunt. „Ja klar. Wartest du kurz, Kate?“ Sie nickte ihm mit einem Lächeln zu, das jedoch sofort wieder verschwand, als ihr Blick zu mir wanderte.

Sam legte eine Hand auf meinen Rücken und schob mich zum Rand der Terrasse. „Von mir aus können wir auch gerne vor Kate darüber reden“, fauchte ich. Er drehte mich, am Rand angekommen, zu sich herum und sah mich an... mit diesen wunderschönen türkisblauen Augen... die an ihn so was von verschwendet waren.

„Worüber denn?“ Ich schnappte empört nach Luft. „Worüber? Vielleicht darüber, dass du mich geküsst hast. Und jetzt... sie!“ Er sah mich mit gerunzelter Stirn an, als hätte ich überhaupt keinen Grund, mich aufzuregen. „Ja...?“ „Was soll denn ‚Ja?’ jetzt heißen?“, fragte ich wütend, „Findest du das okay?“ Er kniff verwundert die Augen zusammen. „Emily, wir haben uns nur geküsst. Wir sind doch nicht zusammen, oder so.“ Er schmunzelte, als ob er erwartete, dass ich erkannte, wie dumm es doch von mir war, sauer zu sein, und mit ihm darüber lachte, und meinte scherzhaft: „Tut mir leid, wenn du das jetzt als Liebeserklärung verstanden hast.“

Ich öffnete den Mund, aber klappte ihn wieder zu. Das war einfach zu viel. „Mir tut es auch leid“, zischte ich und raffte mein Kleid, um möglichst würdevoll davonschreiten zu können. Leider schaffte ich vielleicht gerade mal zwei halbwegs ruhige Schritte, bevor ich höchst unwürdevoll losstürzte.

Ich stolperte eine kleine Marmortreppe hinunter, die in den Garten führte, der die Terrasse umgab und rannte den sandigen Weg entlang, der sich durch die Bäume schlängelte. Vermutlich wurden meine schönen silbernen Schuhe völlig ruiniert, aber das war mir jetzt egal. Hinter einem Busch, der die Form eines Mannes, mit dem Kopf eines Krokodils hatte, stand eine kleine Bank. Schwer atmend ließ ich mich darauf sinken, und sobald ich saß, begann ich zu weinen. Meine Wut machte langsam der Enttäuschung Platz. Natürlich war es mir schon komisch erschienen, dass er den ganzen Tag so getan hatte, als wäre nichts gewesen, aber das hatte ich nicht erwartet. Zu allem Überfluss taten meine Füße jetzt verdammt weh. Die hochhackigen Schuhe waren eindeutig nicht zum Laufen bestimmt, auch nicht für ein paar Meter.

Ich hörte Lachen und Gerede von der Terrasse. Ein paar Leute wanderten im Garten umher, aber da ich weit genug von dem nächsten schwebenden Licht entfernt war, würde ich hier wohl unentdeckt bleiben. Hinter ein paar Büschen sah ich einen Riesen aufragen und auf dem sandigen Weg ging ein händchenhaltendes Paar. Ich erkannte Alice an ihrem hübschen, roten Kleid. Aaron dagegen sah ohne seine Lederjacke ziemlich verändert aus. Die beiden sprachen leise miteinander und schienen gar nichts um sich herum wahrzunehmen. „Siehst du, Sam, du Idiot: Für Aaron ist ein Mädchen auch genug!“, schimpfte meine gedankliche Stimme. Ich schniefte und spürte, wie noch eine Träne meine Wange hinunterkullerte.

„Hey“, flüsterte jemand. Ich versuchte hastig, mein Gesicht zu trocknen, und wischte dabei vermutlich meine ganze Schminke ab, aber als ich Lucy erkannte, die um den krokodilsköpfigen Busch herumguckte, wusste ich, dass ich nichts vorzuspielen brauchte. „Kann ich mich hinsetzen?“, fragte sie. „Klar“, schniefte ich und rutschte ein Stück zur Seite. Wortlos setzte sie sich neben mich, legte eine Hand auf meine Schulter und sah mich an. Ich starrte nur auf den beschmutzten Saum meines Kleides. „Das war so was von mies von ihm“, sagte Lucy leise. Ich stieß ein kleines Geräusch aus, das irgendwo zwischen Schluchzen und sarkastischem Lachen lag. „Ach, tatsächlich?“ Lucy klopfte mir vorsichtig auf die Schulter. „Aber du zahlst es ihm am Besten heim, wenn du jetzt nicht in Traurigkeit versinkst, sondern ihm zeigst, dass es dir gut geht, egal was er macht.“ „Ich glaube es ist ihm ziemlich egal, wie es mir geht“, murmelte ich. „Außerdem kann ich jetzt nicht zurück auf die Terrasse, ohne wieder loszuheulen.“ Lucy nickte mitleidig und meinte: „Wir können nach Hause gehen. Ich hab sowieso schon viel zu viel Torte gegessen und ich glaube Jake hat auch schon keine Lust mehr. Ich brachte ein kleines Lächeln zustande. Lucy stand auf und lächelte ebenfalls, „Na los, komm mit!“

Sie winkte Jake zu, der bereits mit besorgtem Gesichtsausdruck am Geländer stand und nach uns Ausschau hielt, und bedeutete ihm, von der Terrasse herunterzukommen. Er verkniff sich jeglichen Kommentar, sondern sah uns nur fragend an. „Wollt ihr nach Hause?“ Lucy nickte. „Kommst du mit?“ „Klar, von mir aus.“ Als Lucy sich umdrehte, warf er einen schnellen Blick zur Terasse. Ich schaute ebenfalls zurück und stellte verwundert fest, dass Sam bereits wieder verschwunden war. Kate stand alleine am Geländer, schaute auf den Garten hinunter und nippte an ihrem Glas. Jake legte seine große Hand auf meine Schulter und murmelte kaum hörbar: „Man kann eben niemanden zwingen irgendwas zu empfinden.“ Ich sah ihn ein wenig verwundert an. Ich mochte Jake gerne, aber er machte immer so einen lässigen Eindruck – als wäre ihm alles relativ gleichgültig. So einen einfühlsamen Kommentar hatte ich von ihm gar nicht erwartet. „Ich versteh dich gut, glaub mir“, murmelte er. Verwundert zuckte mein Blick noch einmal zu Kate. Meinte er...? Aber als ich ihn wieder ansah, schaute er schon geradeaus und setzte sich in Bewegung.

Wir gingen schweigend den Weg entlang, der durch den Park um den Palast herum führte, bis wir Musik hörten, die immer lauter wurde. Als wir schließlich bei den Marmorstufen vor dem Eingangstor angekommen waren, sah ich auch, wo sie herkam. Die Straßen der Hauptstadt waren voll von allen möglichen Wesen, die tanzten, aßen und feierten. Als wir die breite Straße vor dem Palast entlanggingen, jubelten uns überall Gruppen von teilweise betrunkenen Feiernden zu.