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Marcel Karrasch, Niklas Karrasch

Das Gegenteil der Wirklichkeit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

Prolog

Marcel & Niklas Karrasch

Das Gegenteil der Wirklichkeit

Marcel & Niklas Karrasch

Das Gegenteil der Wirklichkeit

Ein Kunst-Kriminalroman


Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Marcel & Niklas Karrasch

Umschlag: © 2021 by Marcel Karrasch, Interpretation in Ölkreide von Neon Duplex von Dominic Joyce

Verantwortlich

für den Inhalt: Marcel Karrasch

Brunnenweg 44

61476 Kronberg

karrasch@mkm-consulting.de

Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Es gibt Tage, die sich wie Minuten anfühlen, und Sekunden wie eine unendliche lange Zeit, manchmal wie ein ganzes Leben. Liegt es am eigenen Blickwinkel oder ist es ein Rausch, der unser Gefühl für die Wirklichkeit verschwimmen lässt? Schmeckt der Wein, ist die Frau attraktiv, klingt die Musik angenehm, wird aus einer Idee eine Sensation? Die Imagination schafft Wahrheiten mit individuellem Charakter. Ein scharfes Messer verspricht ein zartes Steak, zumindest bis man es schmeckt. Kann man sich einfach treiben lassen oder hat jede Reise ein vorbestimmtes Ziel? Ist Liebe definierbar oder verliert sie dadurch ihre Echtheit? Wenn einander fremde Menschen das gleiche Ziel verfolgen, können die Wege dorthin oft nicht unterschiedlicher sein. Wann erkennt man sein Ziel, wenn man es sich nicht ausgesucht hat? Die Unverbindlichkeit des Lebens findet mitunter lediglich durch die eigene Vorstellungskraft einen verlässlichen Rahmen.

1

Frank Landweil verstand nicht mehr, was es mit seinem Leben im Großen und Ganzen auf sich hatte. Die Eintönigkeit seines Büros, seines Jobs, des Wetters und schlussendlich seines gesamten bisherigen Vorhandenseins auf der Welt. Als Lieblingsfarbe würde er gelb nennen und grau meinen. Grau wie alles, was um ihn herum geschah. Wie alles, was er bisher geleistet hatte. Das plötzliche Gefühl der Erkenntnis, dass er in den vergangenen Jahren vergessen hatte zu leben, traf ihn direkt nach dem Aufstehen, im seidenen Zustand zwischen Schlaf und Wachheit, auf dem Weg zwischen Bett und Badezimmer. Es schien, als ob ein umgekehrter Amor ihn mit einem Pfeil die Gewissheit in seinen Kopf geschossen hätte. Anschließend hatte ihm jede alltägliche Institution weitere Beweise ins Gesicht geschrien. Beim Frühstück war sein Müsli geschmacksneutral, sein Parfum olfaktorisch blass wie die Luft um ihn herum. Als er seine Wohnung verließ und vor der Haustür Frau Hempel traf, erschien ihm ihr Grüßen mitleidig, auf der Türschwelle stolperte er. Verwirrt von seiner neuen Erkenntnis stieg Frank Landweil in die falsche Tram und der Kontrolleur fragte ihn, ob er ein Tourist sei. Als er eine halbe Stunde später als üblich im Büro ankam, hatte niemand registriert, dass er gefehlt hatte. Die Empfangsdame hatte nicht einmal den Kopf gehoben, als er durch die Drehtür in das Hochhaus geeilt war. Vielleicht war er für seine Umwelt nie bedeutend gewesen. Vielleicht wurde er von ihr nicht einmal wahrgenommen.

Und nun saß er da, in seinem lederbezogenen Bürostuhl und starrte aus dem Fenster, den Computer noch nicht einmal eingeschaltet. Er arbeitete seit zehn Jahren im gleichen Unternehmen. Nach seinem Abitur begann er umgehend mit seinem Studium, nach dem Studium fing er sofort an zu arbeiten. Als andere noch durch die Welt reisten und ihr Studium abbrachen, kletterte er die Karriereleiter hoch. Getrieben von dem Willen, dass sein Familienname auch in Zukunft mit Geld in Verbindung gebracht wurde. Er war genau 33 Jahre und 5 Monate alt an diesem Tag. Das waren ungefähr 288720 Stunden. Was hatte er in diesen Stunden getan? Bevor er sich in weiteren Rechnungen über die Zeit verlieren konnte, klopfte es an der Tür.

Julian Zufer trat ein mit Briefen in der Hand. Er schien sie seiner Sekretärin abgenommen zu haben. Hatte sie überhaupt im Empfangszimmer gesessen? Julian Zufer war die Art Mitarbeiter, die jeder schätzt, aber keiner als unverzichtbar ansieht. Er erledigte seine Aufgaben und kam mit allen gut klar. Er war niemand, der auf den Tisch haute, er war einfach da.

„Frank, Du siehst ja furchtbar aus! Bist Du krank?“, und es war wieder einmal das Duzen, dass ihn am meisten an Zufer störte. Es musste auf einer Firmenfeier passiert sein, an die er sich aufgrund einer Kombination aus Alkohol und anderen Mitteln nicht mehr erinnern konnte.

„Verdacht auf Ebola. Ich war gestern beim Arzt, es ist noch nichts bestätigt“, entgegnete er, ohne eine Regung im Gesicht zu zeigen. Zufer gelang das nicht: Er wurde weiß, die Situation war ihm sichtlich unangenehm. Es war bekannt, dass er als Hypochonder jegliche Seuchen der Welt auf seinen Mikrokosmos bezog und anschließend die Symptome bei seinen Mitmenschen suchte.

„Das war kein Scherz. Gib mir die Scheißbriefe und mach dann die Scheißtür zu!“, blaffte er ihn an und Zufer wusste sich nicht anders zu helfen, als zu gehorchen. Sichtlich irritiert ließ er die Briefe auf seinen Schreibtisch fallen und verschwand beschleunigten Schrittes aus seinem Büro.

Das erste Mal an diesem merkwürdigen Tag bekam Frank Landweil gute Laune. Er war kein emotionaler Mensch, niemand der bei Kleinigkeiten aus der Haut fuhr und schon gar nicht jemand, der in einem Satz zwei Mal das Wort „Scheiße“ verwendete. Eine Welle der Euphorie stieg in ihm auf und er schaltete seinen Computer ein. Neben den üblichen Büroemails hatten zwei Kunden Änderungswünsche zu Designs, die er für Kampagnen für sie erstellt hatte. Er antwortete beide Male mit exakt der gleichen Nachricht: „Wir werden hier überhaupt nichts ändern! Nur, weil ihr kunstbehinderten Vollidioten gerne ein hässlicheres Motiv hättet, heißt das nicht, dass ich sowas mache! Wir sind hier nicht bei „Wünsch dir was“!“. Als er auf SENDEN drückte, kam es wieder, dieses Gefühl alles richtig gemacht zu haben. Die Kunst war für einen zierlichen Moment in sein Leben zurückgekehrt. Und das auf ihre beste Weise, als verstörende Kunst

2

Showtime, noch fünf Minuten und es kann losgehen. Die nötige und gewohnte Nervosität war vorhanden, der Schweiß, der den Rücken herunter rann, hätte bei längerer Vorbereitungszeit, sprich schlicht einem Tag mehr Zeit, nicht die Ausmaße eines Baches bei Hochwasser gehabt. Randolf Metzger suchte nicht nach Ausreden. Mehr Zeit hat man natürlich nur, wenn man morgens auch in einer fremden Wohnung gleich alle seine Kleider findet, auf dem Weg ins Bad nicht Türen aufreißt, deren Bewohner einen nichts angehen, dadurch wiederum überflüssige Entschuldigungen stammelt und dann schließlich auch nicht erst nach drei Blocks ein Taxi findet und den gottverdammten ICE Sprinter in aller Frühe nicht verpasst. Trotzdem fühlte es sich wie immer gut an, es doch wieder geschafft zu haben – just in time. Vielleicht war er auch nur so begehrt, weil er durch seine meist zu kurze Vorbereitung, trotz unterstützendem Personal die kulinarischen Kreationen grober zubereitete, als man es von sehr gehobener Küche, zumindest nach den Bildern in Hochglanzmagazinen, kannte. Die exklusiv bekochten Gäste wiederum, die den teils hektischen Ablauf nicht mitbekamen, lobten das Ergebnis mit oft seltsamen und vollkommen abwegigen Attributen in den Himmel. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Maestro, der mit stilsicherer Attitüde seine Exzentrik auslebte, weil dies das bestimmte Etwas bedeutet, oder so ähnlich. Ihm war es gleich. Ein Auftritt, zwei Tage Arbeit und es reichte wieder für einige Wochen inklusive der Rücklage, die ihn seinen Träumen näherbringen sollte. Es war schon verrückt: Er schnitt die Zwiebeln nicht anders als jeder andere Koch, er nutzte natürlich nur beste Zutaten wie all die anderen auch, was der einladende Gastgeber für die Kohle auch verlangen durfte. Es war aber anscheinend die Mischung aus großer Mann mit Bart, lässigem Auftreten, viel Gefühl in den Würzfingern und dem Mut, guten, klassischen Rezepten verrückte Namen zu verpassen und diese wiederum in lebendige Geschichten zu verpacken.

Sie hörten von draußen, dass die Tischreden sich dem Ende zuneigten und hoffentlich die ersten Gäste der Gastgeber nicht schon eingenickt waren. Meist taxierte er zwischendurch mit einem kurzen Blick den Gastraum, ob die Gäste diesmal auch nur annähernd den Beschreibungen der Gastgeber standhalten konnten. Oft waren die vermeintlich intelligenten Herren in den besten Jahren mit viel Sinn für gutes Essen und anregende Gespräche nichts als bedauernswerte Dompteure zickiger Damen, die sie sich im Anfall männlichen Größenwahns zugelegt hatten, um anderen Gleichgesinnten zu imponieren, und waren allein deshalb schon vor Erschöpfung vor dem ersten Gang angetrunken und nur wenig zugänglich für Metzgers Werbung in eigener Sache, die es immer als Nachtisch des Nachtisches gab.

Heute schienen es ziemlich genau die zu sein, die auch angekündigt waren. Die Gastgeberin kam in die Küche, nickte ihm kurz zu und es ging los. Der kleine Hinweis, dass der Gast am hinteren Ende des Tisches, der mit der Lebensmittelallergie ist und auf keinen Fall dieses oder jenes Gewürz verträgt, löste bei ihm nur eine kurze Irritation aus. Er wusste, dass heute schon fast jeder als Auszeichnung seiner besonderen Persönlichkeit eine Allergie sein Eigen nannte. Über was sollte man denn sonst auch reden. Klar war es schlecht, dass er daran nicht mehr gedacht hatte, aber so schlimm wird es sicher nicht werden und sollte doch etwas in die Hose gehen – über diesen Gedanken musste er wegen dessen Sinnbildlichkeit fast laut lachen – gab es ja sechs Bäder in dieser Villa.

Das charmante Servierteam leistete ab jetzt perfekte Arbeit, doch damit hatte er ab jetzt nicht mehr viel zu tun. Randolf Metzger fühlte sich wohl, jetzt gab es das Bier aus der Flasche für die gesamte Küche, jetzt waren alle Sieger und sie warteten auf den Applaus.

3

Mit einer ungekannten, wenig sorgfältigen und ignoranten Leichtigkeit erledigte Frank Landweil an diesem Tag seine Arbeit. Er war sich sicher, dass er in seinem gesamten Leben noch nie so lange am Stück so ehrlich gewesen war. Beim Mittagessen wies er Zufer noch daraufhin, dass sein Anzug schlecht saß und ohnehin billig wirke. Frau Mischek teilte er mit, dass ihm ihre vorherige Frisur besser gefallen hatte. Die neue Haarfarbe würde sie zudem blass aussehen lassen. Niemand konnte etwas mit dem neuen Frank Landweil anfangen, außer er selbst. Als er gegen sechs Uhr das Büro verließ, hatte er so gute Laune, dass er beschloss zu Fuß zu gehen. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, dass er so früh von der Arbeit ging.

Er bog in die Bichlerstraße ein, eine Fußgängerzone, in der sich Bars und Cafés aneinanderreihten und sich je nach Tageszeit die Gäste übergaben. Er entdeckte einen neuen Laden, der mit futuristisch anmutenden Möbeln versuchte, sich von den anderen Bars abzuheben. An einem der Tische davor saß eine harmlose Gruppe von Jungs, sie mussten um die Anfang 20 sein, die allesamt sehr enge Jeans trugen. Frank Landweil hörte sich ihnen zurufen: „Ich unterstütze Eure Anliegen in allen Bereichen! Homoehe finde ich super!“. Die verdutzten Blicke, eine Mischung aus Irritation und Wut, steigerten seine Laune noch mehr. Er fühlte sich, als würde sich Kokain mit seinem Blut vermischen. Es schien, als wäre er das erste Mal wirklich da. Als er den Laden betrat, kam ein junges Mädchen auf ihn zu und fragte, ob er gesehen hatte, dass heute der „Blue Velvet Extreme“ der Cocktail des Tages sei. Er bejahte und bestellte einen. Extreme war genau das Richtige für so einen Tag.

Er nahm am Tresen Platz und keine fünf Minuten später bekam er einen hellblauen Drink mit Schirmchen und einer Ananasscheibe, die um den Glasrand gedrückt wurde, vor sich gestellt. Die Jungsgruppe von draußen zwinkerte ihm zu und riefen irgendwas, das er nicht verstand. Er umfasste das bauchige Glass, erhob es und statt ihnen zuzuprosten, schickte er einen Luftkuss mit einer ausladenden Geste in ihre Richtung. Wieder schaute er in irritierte Gesichter. Frank Landweil fühlte sich der Situation überlegen. Er kippte das süßliche Getränk runter und gab dem Mädchen ein großzügiges Trinkgeld. Mit den Worten „I can be your sugardaddy!“ tanzte er aus der Bar. Eine kleine, besondere Schrittfolge vor dem Tisch der Jungs inbegriffen. Er fühlte eine ungekannten Energie in seinem Körper, ganz ohne Hilfe.

Trotz aller Euphorie schlug er den Weg Richtung Wohnung an. Sich mit einem seiner besseren Maßanzüge in das Nachtleben zu stürzen, schien ihm selbst in seiner manischen Verfassung unangebracht. Von der Bichlerstraße aus waren es fünfzehn Minuten zu Fuß bis zu seiner für ihn allein viel zu großen Drei-Zimmer-Altbauwohnung in der Zeughausstraße. Im Treppenhaus traf er seine Nachbarin Marie Degen. Marie war Mitte 30, Dauersingle und leicht übergewichtig, aber hübsch. Plötzlich verspürte er tief in sich den Drang, ihr ein Kompliment zu machen. „Marie warst du im Urlaub? Du siehst so erholt und jung aus!“, säuselte er ihr halb im Vorbeigehen und schließlich auf der Treppe stehend zu – Treffer versenkt. Sie strahlte im ganzen Gesicht und gab zurück, dass er immer so höflich sei und wie jemand wie er eigentlich Single sein konnte. „Die Frauen müssten sich doch reihenweise auf ihn stürzen.“ Die ehrliche Antwort darauf wäre gewesen, dass jemand wie er Single ist, weil er zu viel Spaß daran hatte an Wochenenden den immer gleichen Typ Studentinnen aufzureißen und nicht in der Lage war, eine Beziehung zu führen, die länger als zwei Wochen hielt. Er entgegnete jedoch nur, dass die Richtige einfach noch nicht dabei gewesen sei und versenkte damit den zweiten Treffer. Die Hoffnung in Marie Degen weckend, dass sie diese Richtige doch sein könnte.

Als er seine Wohnung betrat, fühlte er sich plötzlich wie am Morgen, als er diese verlassen hatte. Die Schwere der Erkenntnis, dass sich nichts an der Tatsache geändert hatte, dass er Jahre seines Lebens für seine Karriere verschwendet hatte, streckte ihn kurz nach dem Überschreiten der Eingangstür nieder. Er legte sich auf sein Bett, um nach fünf Minuten aufzuspringen, ins Bad zu rennen und sich in die Toilette zu übergeben. Eine Zeit lang betrachtete er die blaue Suppe mit den Spaghettiüberresten vom Mittagessen darin. Als er es schaffte sich aufzurichten, klingelte es an der Tür. Ihm fiel der kleine Flirt mit Marie im Treppenhaus ein und er öffnete. Sie hatte eine Flasche Wein in der einen und eine DVD in der anderen Hand. Notting Hill, sie war ein wandelndes Klischee. Genauso gut hätte sie in Unterwäsche dastehen können mit einer Packung Kondome, so eindeutig waren ihre Absichten. Als sie in sein bleiches Gesicht blickte, schien sie irritiert, seine Augen verheult vom Brechen. Er wiegelte mit einer Lüge ab, dass er gerade von einem Todesfall eines entfernten Verwandten erfahren habe und nicht in der Stimmung sei für Wein. Er wollte zunächst Sex sagen, aber entschied sich für die Metapher. Sie reagierte verständnisvoll und drückte ihm ihr Beileid aus.

Dann legte er sich auf sein Bett, schlief schnell ein und begann wild durcheinander zu träumen. Er sah sich selbst aus der Vogelperspektive wie er auf einen fliegenden Wal blickte, der ihm mit menschenähnlichen Händen den Mittelfinger zeigte. In der nächsten Sequenz konnte er seine Augen nicht ganz öffnen und lief in Zeitlupe durch ein Labyrinth aus riesigen Gemälden von zu engen Jeans.

4

Ein langgezogenes Pfeifen, dann ein nervöses Schnattern und wieder ein Pfeifen ließen ihn zum wiederholten Male den Kopf in den Nacken legen und den Himmel nach den Greifvögeln absuchen. Dieser war stahlblau und keine Wolke oder gar Kondensstreifen eines Flugzeuges störten diesen reinen und erhabenen Anblick. Eine große innere Ruhe durchzog seinen Körper. Der Kies des Pfades knirschte in schöner Regelmäßigkeit unter seinen Sohlen, der Atem ging ruhig und nur diese majestätischen Vögel, die ihn nun schon seit einiger Zeit begleiteten, verursachten kleine Unterbrechungen auf seinem Weg. Wie lange er schon ging und die Gleichmäßigkeit der Schritte, des Atmens und der Gedanken genoss, konnte er nicht mehr sagen, es war einfach herrlich befreiend.

Ein kräftiger Stoß an seine Schulter ließ ihn herumfahren, die Faust geballt und schon in Richtung des vermeintlichen Angreifers beschleunigt, erreichte noch rechtzeitig ein akustischer Reiz sein Gehirn und verhinderte eine blutige Nase, Streit und all das unnötige Zeug. „Randy, bist Du verrückt, hast Du geträumt oder hast Du irgendwas genommen? Du stehst hier mit offenem Mund am Fenster und glotzt, als ob Dir jemand Deine erste Legoeisenbahn weggenommen hat! Man fragt nach dem Maestro. Du weißt schon.“ Aus einem seiner liebsten Tagträume gerissen, straffte er seinen Körper, setzte das Ich-habe-alles-im-Griff-Grinsen auf und ging in das Esszimmer der durchaus geschmackvollen Villa.

Randy meinten ihn Einige nennen zu müssen, weil er auch zeitweise in L. A. gekocht hatte – wenn man seinen Erzählungen glaubte - und wiederum Andere daraus schlossen, dass er dort in Promikreisen unterwegs gewesen war. Er konnte seinen Spitznamen ebenso wenig leiden wie seinen Richtigen, aber ihm war noch kein Wunschname eingefallen, um sich eine besserklingende Vornamensverpackung zuzulegen. Bei den Gerüchten seines Umgangs in L.A. hatte er selbst etwas nachgeholfen und daher wenig gegen die mäandernden Ausschmückungen. Es hob den Preis und eben darum ging es – unter anderem. Was jetzt erwartet wurde, war die Geschichte hinter den einzelnen Gängen, die soeben in den Mägen der Gäste verschwunden waren. Je nach Laune und den ersten Reaktionen verschaffte er den Gästen durch seine Erzählungen weitere imaginäre Geschmackserfahrungen und Wohlbefinden oder auch Unbehagen, sollte er die Entstehungsgeschichte oder die Herkunft der Zutaten in Gegenden verlegen, die diese Klientel ungern bei Tag betreten würde oder allein vor lauter Mitleid meiden würde. Die nackte Wahrheit taugte selten für die eine oder andere Variante, also musste er jeweils sehr, sehr schnell improvisieren. Und wer will bei dem Preis schon die Wahrheit wissen?

Er betrat den geschmackvoll eingerichteten Raum und die Gäste seines Auftraggebers wurden zu seinem Publikum. Der übliche, meist peinlich vorgetragene Dank der Gastgeber an die Küche, die gesamte Crew und schlussendlich an ihn selbst, ließ ihm Zeit sein Publikum zu taxieren. Die Papierform kannte er schon durch die Lobpreisungen seiner Auftraggeber, jetzt galt es diese mit der Realität - seiner Realität - abzugleichen. Wer war der übliche Zotenreißer, wo saß die schon angetrunkene Gattin, der man nicht zu offensiv zulächeln sollte, wer verstand wirklich etwas vom Kochen und hinter wem lauerte der nächste Auftrag. Also, wie immer langsam einsteigen, die Geschichte und die Zutaten mussten irgendwie synchronisiert werden und es durfte alles sein, nur nicht annähernd gewöhnlich. Das war die Herausforderung.

Er war gerade dabei, die Entstehung des Rezeptes in eine abenteuerliche, ausgeschmückte Räuberpistole zu verpacken, als er ein Gesicht wiedererkannte. Diese außerordentlich hübsche junge Frau, leicht verdeckt von einem ebenfalls gut aussehenden, aber knapp zehn Jahre älteren Mann mit Clark Kent-Brille, war die gleiche, die zumindest zur Hälfte für seine verspätete Anreise verantwortlich war. Hatte er ihr seinen richtigen Beruf oder nennen wir es Beschäftigung genannt oder hatte er die Regisseuren-Nummer oder eventuell gar nichts erzählt? Es war ein schöner, sehr lustiger Abend und deshalb hatte er ja auch dort verschlafen. Er musste pokern und vermied lediglich die lange Vorrede, wie schwierig es ist, in Gütersloh diese Wurzel oder jene Kraut oder den wahnsinnig frischen Sankt Petersfisch zu finden. Zutaten, die man innerhalb von vier Stunden in gerade einmal drei unterschiedlichen Läden besorgt, taugen nicht zur Legendenbildung. Er hoffte, dass sie den vorletzten Abend und die darauffolgende Nacht ebenfalls genossen hatte und ihm jetzt die Show nicht verdarb.

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291 p. 2 illustrations
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9783754178584
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