Sternengeflüster

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Sternengeflüster
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Mara Janisch

Sternengeflüster

Roman

- epubli -

Impressum

2014 Mara Janisch

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Verlag:

epubli GmbH Berlin www.epubli.de

Abdruck Brief von Goethe an Lavater aus:

Rüdiger Safranski:

Goethe Kunstwerk des Lebens.

Carl Hanser Verlag, München 2013.

ISBN: 978-3-8442-8647-2

Covergestaltung: Mara Janisch

Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kaum augenblickliches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor, und vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte und der babylonische Turm bleibt stumpf unvollendet. Wenigstens soll man sagen es war kühn entworfen.

Goethe an Lavater

Etwa 20. September 1780

Kapitelübersicht

Helftorgasse

Hietzinger Tor

Zeitgeist

Die Leere

Umberto und Orpheus

Hymnus an das Ohr

Musentempel

Hörreise

Schönheit

Das tiefere Ohr

Fischbassin

Abschied

Schon wieder Abschied

Im Dunkelrestaurant

Sternengeflüster

Helftorgasse

Jetzt sind sie gleich weg!

Die Schlüssel von der Wohnung in der Helftorgasse.

Nein, ich bin nicht unterstandslos!

Ich bin nur etwas los – die Wohnung in der Helftorgasse.

Helftorgasse! Ein seltsamer Name.

Ja, das Wohnen hier war eine große Hilfe, wenngleich es nicht danach ausgeschaut hat.

Ich wohne jetzt nicht mehr in der Helftorgasse, weil mir größere Hilfe zuteil geworden ist. Von wem, ja von wem?

Jetzt wohne ich im Grünen, weg vom Straßenlärm, im Vogelgezwitscher.

Ist das wichtig? Ja, es ist wichtig.

„Manchmal gibt es Abkürzungen“, höre ich jemanden sprechen. In diesem Moment biegt ein Mann um die Ecke des Stiegenhauses, er dreht sich um und spricht weiter zu einem jüngeren Mann, der ihm die Stiegen herauf folgt.

„Ja manchmal gibt es diese Abkürzungen, mit dem Lift brauche ich immer dreimal so lang in den dritten Stock.“

Und schon sind sie hinter der nächsten Ecke verschwunden.

„Manchmal gibt es Abkürzungen“, wiederhole ich gedankenverloren.

Ja, wie richtig! Nur gehen muss man sie selbst! ergänze ich.

Das Wohnen in der Helftorgasse – ein Abkürzer? Was wäre denn der längere Weg gewesen? Ein gelebtes Leben mehr – sinniere ich. Na ja, wer glaubt schon an mehrere Leben!

„Ich, ich“, sage ich zu mir selbst!

„Oh entschuldigen Sie, jetzt bin ich in das Nasse hinein gestiegen, Sie waschen gerade das Stiegenhaus auf“, sage ich zur Hausmeisterin.

„Das macht nichts, es ist ja kein Fettnäpfchen“, antwortet sie und wir lachen beide.

Ich sperre die Wohnungstüre auf und stehe in einer leeren Wohnung. Jetzt ist nichts mehr von mir hier, oder doch? Was bleibt ist die Leere, oder?

Großzügige Zimmer, lichtdurchflutete Parkettböden. Wie seltsam, leere Räume, meine Stimme hallt wider „Was hast du hier zurückgelassen?“

„Hier habe ich...“ - plötzlich läutet es an der Türe.

Umberto steht draußen.

„Ich habe Licht gesehen und wollte mich auch noch von der Wohnung verabschieden“, sagt er.

„Komm herein.“

„Ich würde so gerne noch einmal gemeinsam ein Lied in dieser Wohnung singen.“

Ich lache - dann sage ich „das ist eine sehr hübsche Idee, und was willst du singen?“

„Ist es schwer, das zu erraten?“

„Nein, ich kann es mir schon vorstellen.“

„Gewonnen.“

„Schon wieder dieser alte Schinken? Na gut.“

Ich stimme an und Umberto improvisiert gleich die zweite Stimme dazu.

When I was just a little boy

I asked my father what shall I be.

Will I be famous, will I be rich.

This was he said to me:

Que serat, serat,

Whatever will be, will be

The future's n't ours to see

Que serat, serat

What will be, will be.

„What will be, will be“, wiederhole ich mit einem Lächeln.

„Vor sieben Jahren bin ich hierher zurückgekehrt, ja warum? Wie es ausschaut, um dem Engel des Singens zu begegnen! Nein, ich meine damit nicht dich, sondern einen wirklichen Engel, meinen Schutzengel.“

Umberto lacht hell auf. „Ob ich an Engel glaube muss ich mir erst überlegen. Na ja.“ Er lächelt verschmitzt. „Manche Frauen sind schon Engel“, und wir lachen beide.

„Allen Ernstes, das mit dem Zurückkehren in die Wohnung und dem Schutzengel hast du mir noch nie erzählt, das interessiert mich sehr.“ In dem Moment läutet es schon wieder an der Wohnungstüre!

„Ich bin ja mit Frau Six von der Hausverwaltung verabredet, ich übergebe ihr ja die Schlüssel, fällt mir ein. Das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Diese Männer!“

„Umberto, ich erzähle dir alles einmal, für heute ciao!“

„Ja ciao, Liebe.“

Hietzinger Tor

Heute ist Dienstag, der 6. Juni. Es ist 17 Uhr 26. Autostau, Unruhe und Hektik umgibt mich. Ich gehe gerade über die Kennedybrücke in Wien Hietzing. Die Ampel zeigt rot, ich bleibe stehen und gebe mir meine Ohrenstöpsel in die Ohren. Es ist laut. Die Ampelphase ist lang und die Autos rasen vorbei. Alles ist Schwingung habe ich doch gerade irgendwo gelesen, die ganze Welt ist Klang. Im Moment höre ich nur Missklang, Lärm! Die Ampel steht noch immer auf rot. Da rast er dahin im Auto, das Handy am Ohr, betäubt vom Lärm – der Mensch im Jahr 2012. In allen Städten der Welt ein ähnliches Bild: Das Gehirn heiß gekocht vom Handy, das Ohr abgestumpft, das Auge mit Eindrücken überreizt. Eingespannt in den Elektrosmog und in die künstliche Hochfrequenzstrahlung. „Bella, heute siehst du die Welt zu düster“, sage ich zu mir. Ich will zu einem Lächeln ansetzen, in dem Moment erreicht mich gerade eine Abgaslawine. Mit eingefrorenem Lächeln stehe ich noch immer an der Kreuzung, die Autokolonne kommt gerade am Fußgängerweg zum Stehen. Stau! Hoffentlich sehe ich wenigstens einen hübschen Mann im Auto, der mir zulächelt, dann wäre der Tag schon gerettet. Aber nein, nichts, mein Lächeln bleibt eingefroren. Könnte ja auch ein weniger hübscher Mann heraus lächeln. Aber auch nichts.

Jetzt wird es grün für uns Fußgänger, wir schlängeln uns durch die Autos auf die andere Straßenseite. Wenigstens dieses Erfolgserlebnis. Laute Musik dröhnt mir aus den Autos entgegen. Wenn es doch schöne Musik wäre. Die Ohrenstöpsel sind den Bässen nicht gewachsen und es stinkt nach Abgasen. Ein feiner Tag! Da hilft nur schneller gehen.

Oh, what a wunderful world. Wem gefällt denn das?

Ich gehe noch schneller zum Eingang nach Schönbrunn beim Hietzinger Platz. Dort erreiche ich mein Refugium. „Schönbrunn.“ Um 18 Uhr treffe ich mich mit Susi beim Palmenhaus.

Susi und ich sind in der Mittelschule jahrelang nebeneinander gesessen. Im Gegensatz zu mir war sie immer eine gute Schülerin gewesen und ich habe von ihr abgeschrieben. Ich wusste in der Schule schon, dass es für mich etwas Wichtigeres als die Schule gibt, nämlich meine Visionen und Träume. Dementsprechend war das Ergebnis. Knapp vor der Matura wechselte ich in die Maturaschule, die mir genug Freiraum gab, um die Matura zu bestehen.

Jetzt stehe ich vor dem Eingang in den herrlichen Schlosspark von Schönbrunn. Ich kann es nicht lassen und drehe mich noch einmal zum Parkhotel auf der vis à vis Seite um. Wie ein Fluss umrundet die Autoschlange das schöne gelbe Parkhotel. Stilvolle Architektur gegen die Blechlawine mit den freudlosen und aggressiven Gesichtern in den Autos. Immer wieder frage ich mich, wem das einen Nutzen bringt? Nur den Konzernen?

Ich drehe mich wieder zum Eingang in den Park, hier tauche ich in eine Besonderheit ein. Beim Eingang empfängt mich eine Lindenallee, die ihren balsamischen Duft und ihre heilende Wirkungsweise der Welt vor dem schwarzen großen Eingangsgittertor entgegenhält. Zwei Welten durch Eisenstäbe voneinander getrennt.

Zehn Meter nach dem Durchgang durch das Tor biege ich nach rechts ab und das Palmenhaus glänzt mir mit theatralischer Pracht entgegen. Gleichgewicht zwischen Mensch, Architektur und Natur strömt zu mir. Wie wohl ich mich hier fühle. Mildes Frühlingswetter gestaltet den Anblick noch reizvoller, alles ist belebt von blühenden Beeten.

 

Ich setze mich auf eine Bank und schaue einfach in die Atmosphäre. Ich trinke die Bilder in mich hinein. Meine Augen werden sanft, der Bauch locker. Die Welt, aus der wir alle geschaffen sind, fließt in mich ein. Hingegeben an die durchseelte Umgebung – nur sitzen in der Sonne, keinen Lärm hörend. Sich spüren. Ist das schön. Stille.

Plötzlich knallt sich jemand neben mich auf die Bank.

„Hallo Bella!“

Ich fühle mich wie aus einem schönen Traum gerissen.

„Hallo Susi“ bringe ich stammelnd hervor.

„Jetzt haben wir uns zehn Jahre nicht gesehen“, euphorisiert Susi vor sich hin. „Ist das schön, dich wiederzusehen.“

„Ja, ja, ich freue mich auch“, gebe ich zurück. Es ist erst viertel vor 18 Uhr. Ich wollte mich ja ein wenig einstimmen auf Susi, aber daraus wird wohl nichts, sie ist ja schon hier.

Wir sitzen auf der Bank in der milden Sonne. Ich erinnere mich, dass wir uns vor dem letzten Treffen sogar 20 Jahre lang aus den Augen verloren hatten. Ich fühle diesmal noch eine große Distanz zwischen uns.

„Susi, wie geht es dir?“, frage ich.

„Ja weißt du“, antwortet sie, in dem Moment läutet ihr Handy; sie bespricht sich kurz mit jemandem und fährt fort „weißt du, es war eine sehr schwere Zeit in den letzten drei Jahren“, und wieder läutet ihr Handy.

„Entschuldige mich bitte ganz kurz“, und sie entfernt sich einige Meter von der Bank. Nachdem 5 Minuten vergangen sind, lehne ich mich auf der Bank zurück und entspanne mich. Zumindest tue ich vor mir selbst so, weil eigentlich bin ich verärgert.

Dann kommt Susi freudestrahlend zurück. Ein ehemaliger Arbeitskollege hat mich angerufen.

„Das freut mich“, kontere ich ärgerlich. Da sie ihr Handy nicht ausschaltet, frage ich sie:

„Kannst du den Quälgeist nicht ausschalten – ich meine ausschalten, nicht nur abschalten auf lautlos.“

„Wie meinst du denn das?“, fragt Susi.

„So wie ich es sagte, bitte schalte das Handy aus.“

„Ganz ausschalten kann ich es nicht.“

„Warum“, frage ich „du bist doch in Pension?“

„Ja, aber ich möchte schon persönlich erreichbar sein“, und wieder läutet das Handy. „So viele Anrufe bekomme ich sonst nie, wirklich nicht“, sagt sie und stellt das Handy freundlicherweise auf lautlos. Ich frage sie:

„Ich würde gerne verstehen, warum du das Handy nicht ganz ausschalten kannst?“

„Das möchte ich auch wissen“, scherzt sie. „Aber“ - und ihr Gesicht wird sehr ernst „ich möchte mich auch nicht rechtfertigen müssen, warum ich das Handy nicht ausschalte.“

„Es fehlt dir offensichtlich an Informationen über die Auswirkungen der Handytechnologie“, kontere ich.

„Ich zerbreche mir nicht groß den Kopf darüber. Ich finde es positiv, überall erreichbar zu sein und davon mache ich Gebrauch. Das ist alles“, sagt sie. Ich lache!

„Hat es einen Sinn, ein weiteres Gespräch in Gang zu bringen?“, denke ich. Im Zweifelsfall ist es förderlich nichts zu tun – fällt mir ein. Also, ich tue nichts. Ich schaue Susi in die Augen – sie begegnet meinem Blick. Pause. Ich lehne mich auf der Bank zurück und warte. Pause. Wir schweigen beide.

„Zwischen zwei Handys kann man ein Ei kochen; falls du einmal einen Gasausfall hast, ist es vielleicht eine Hilfe!“, fahre ich fort.

„Na siehst du, ich bin für Notfälle gerüstet, ich habe nämlich sogar vier Handys“, entgegnet sie.

„Und mit welchem der Handys kochst du das Ei und mit welchem telefonierst du dann?“, frage ich.

„Wahrscheinlich werde ich verhungern, weil ich mich nicht entscheiden werde können“, hält sie mir entgegen.

„Ich habe eine Idee, am besten komme ich im Notfall zu dir und du kochst für dich und für mich jeweils ein Ei, dann musst du dich nicht entscheiden“, sage ich. Wir lachen beide auf.

„Bella, das war jetzt aber ein guter Scherz mit dem Ei kochen?“, fragt sie.

„Nein, das ist eine Tatsache“, antworte ich.

Susi glaubt es noch immer nicht.

„In der Schule warst du ja nicht gerade ein technisches Genie, glaubst du nicht, dass du jetzt etwas verwechselst?“, sagt sie.

„Nein, sicher nicht, lese es doch im Internet nach!“, antworte ich. „Und wie lange muss ich auf das Ei warten?“, fragt sie.

„Sieben Stunden“, antworte ich.

„Hm“, Susi wirkt nachdenklich. „naja, ich werde im Internet nachschlagen. Dann reden wir weiter darüber.“

Ich kann es nicht lassen und frage Susi: „Beim Telefonieren mit dem Handy kochst du dein Gehirn hart oder weich?“ Susi schaut mich an, dann versteht sie.

„Weich“, antwortet sie mit einem genervten Blick. Wir lachen etwas gekünstelt.

„Bella“, fährt sie fort „ich werde nachdenken darüber, aber ich sage dir gleich, ich bin und bleibe ein Handyfan.“

„Ja, das ist deine Entscheidung, nur wie komme ich dazu, dass ich mit verstrahlt werde in deiner Nähe?“, halte ich ihr entgegen.

„Wer A sagt muss auch B sagen, du lebst nun einmal in dieser Welt“, fährt sie fort. „Wer sagt denn das, dass ich auch B sagen muss. Ich kann doch entscheiden. Zum Beispiel, dass ich mich aus deiner Strahlenatmosphäre wegbegebe. Ich kann auch aufstehen und gehen“, antworte ich.

„Natürlich kannst du das. Aber sind wir uns ehrlich, wer tut das schon?“, fragt sie.

„Das klingt wie eine Provokation“, füge ich hinzu; und ich stehe auf und schaue sie an, dann sage ich:

„Komm, gehen wir ein Stück weiter bis zum Palmenhaus.“

Die Uhr der Kirche am Hietzinger Platz schlägt 18 Uhr 15. Die Sonne ist angenehm, das uns umgebende Grün tut wohl. Der Springbrunnen im Teich singt vor sich hin und Enten schlängeln sich zwischen den aufblühenden Seerosen. Eine Idylle.

„Ich nehme wahr, dass zu der etablierten Welt sich eine zweite Welt heranbildet“, sage ich.

„Das hat es immer gegeben“, antwortet Susi „Querdenker gegen das Etablierte, das ist nichts Neues.“

„Da hast du recht, doch die Nuance ist eine andere, immer mehr Menschen, und es sind schon sehr viele, sind hier, die eine Welt gründen wollen, die auf einer neuen Ordnung steht“, füge ich hinzu.

„Ohne Handy“, wirft Susi ein.

„Zum Beispiel“, sage ich. Womit wir wieder beim Thema wären.

„Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du gegen das Handy hast?“, hält sie mir entgegen.

„Die Hochfrequenzstrahlung in diesem Ausmaß erzeugt künstliche Magnetfelder, die sich mit den natürlichen Magnetfeldern des Menschen nicht vertragen und den Menschen gesundheitliche Schäden zufügen“, sage ich entschieden.

„Das ist nicht wirklich erwiesen.“

„Oh ja, und diese Informationen werden systematisch zurückgehalten. Jemand muss über den finanziellen Nutzen hinaus interessiert daran sein, dass die Menschheit ihr Gehirn kocht. Weißt du nicht, dass der Gehörnerv mit dem Gehirn verbunden ist?“, entgegne ich.

„Das klingt ja nach einer Verschwörungstheorie“, hält sie mir entgegen.

Ich gebe für heute auf und zucke mit den Achseln.

Jetzt sind wir beim japanischen Garten angelangt. Über die Stufen hinweg bewegt sich das ruhig fließende, strömende Wasser. Wie ein ewiger Strom rinnt es dahin, fast lautlos, entschieden in jede Ritze eindringend. Kühle kommt mir entgegen. Plötzlich, vom Tiergarten, der gleich dahinter liegt, hören wir das Trompeten der Elefanten und das Brüllen der Löwen. Der beruhigende Anblick des Wassers ist wieder dahin.

Das Schweigen zwischen uns tut gut und wir konzentrieren uns wieder auf die Bewegung des Wassers. Doch hoch oben in den Lüften orten wir ein Störgeräusch; ein Flugzeug und nach einigen Minuten ein zweites in Richtung Schwechater Flughafen. Ein mir bekanntes Phänomen: an mehreren Tagen in der Woche fliegen den ganzen Tag im Rhythmus von ca. einer Minute Flugzeuge hörbar über den Westen von Wien.

Ein sogenannter chemischer Dauerregen. Die Idylle lässt sich nur immer kurz aufrechterhalten. Harmloses Handy, harmlose Lärmbelästigung, harmlose Hochfrequenzstrahlung, harmloser Elektrosmog, harmlose Flugzeuge…

Zeitgeist

Unbarmherzig diktierst du dein Wollen. Der ganze Erdball muss dir gehorchen: man joggt auf der ganzen Welt vor sich hin. Vom Schulkind bis zum Generaldirektor.

Joggend und laufend wird die Welt erobert. Im Schlosspark Schönbrunn falle ich als Spaziergängerin unangenehm auf. Ich störe den Fluss der Leistung nach Arbeitsschluss mit meinem betrachtenden, meditativen Gehen und wirke damit negativ auf die Arbeitsmoral der laufenden Räder – ich meine der laufenden Menschen. Groß und klein, dick und dünn, krank und gesund, alt und jung, alles quält sich durch die Lindenalleen.

„Mein Körper ist leistungsfähig, ich fordere ihn bis zum Umfallen. Besser ein Lauftod als lebendig tot vor dem Computer.“ „Du Zeitgeist befiehlst, ob wir wollen oder nicht.“

„Ich will nicht vom Handy verstrahlt werden.“

„Du musst, sonst hast du keinen Job.“

„Ich will meinen eigenen Rhythmus in der Arbeit leben.“

„Gerne arbeite ich, aber ohne Dauerstress.“

„Du musst, sonst hast du eben keine Arbeit.“

Der Zeitgeist will alles schnell; das Ticken der Zeit gilt auf der ganzen Welt, also füge dich ein, auch wenn du davon krank wirst. Diene dem Geist des Jahrhunderts. Wen interessiert schon dein Wesen, deine Individualität. Das Zeitliche arbeite heraus, trage es, gestalte es, nicht das Ewige. Den Zeitgeist gibt es immer nur ein Mal, das Ewige ist immer hier.

Reize dich mit dem Computer, reize dich mit dem Handy, reize dich bis zum Umfallen, reize dich zu dem, was du nicht bist: Ein Sklave der Zeit.

Aber das Sklaventum stirbt nie aus.

„Ich will ein Mensch sein, der die Spuren des Zeitlichen an sich trägt, dankbar die Anregungen des Zeitgeistes aufnimmt und damit an sich selbst arbeitet, gehüllt in das Wesen des Ewigen, meiner Individualität. Nur Spuren des Zeitgeistes bitte. Ich weiß mich zu wehren gegen die Aufdringlichkeit des Zeitlichen. Ich lasse mich nicht verschlingen.“

Geist der Zeit, warum bist du so fordernd?

„Das bin ich nicht. Ich werde von den Menschen ausgesaugt. Sie wollen immer mehr von mir. Ich kann nicht mehr. Sie bringen mich um.

5 ½ Milliarden Handys auf dem Erdball habe ich nicht gewollt. Den gläsernen Menschen durch den Computer – ich habe es nicht gewollt. Die Gier nach immer mehr Profit und Geld – ich habe es nicht gewollt. Mensch lass nach. Lass los! Lass locker, sonst bringst du dich und mich noch um.“

Die Leere

Es ist Nacht. Ich möchte noch einmal in die Wohnung in der Helftorgasse gehen. Wozu? Die Schlüssel habe ich doch schon zurückgegeben! Es zieht mich einfach in diese Wohnung zurück, obwohl ich froh bin, dass ich nicht mehr dort wohne. Duplikate von den Schlüsseln habe ich ja genug!

Natürlich mache ich jetzt etwas Verbotenes. Ich tue es trotzdem. Was ist, wenn dir der Nachbar entgegenkommt? Du hast dich doch von allen verabschiedet. Es wäre eine komische Situation. Du hättest dir wenigstens eine Perücke und eine Sonnenbrille aufsetzen können.

„Aber es ist 2 Uhr 20 am Morgen, normalerweise schlafen Menschen um diese Zeit, und Nachmieter sind noch keine hier, weil die Wohnung erst renoviert wird“, beruhige ich mich. Ich stehe ja schon vor der Wohnungstüre und bin niemand begegnet. Ich sperre auf – langsam und leise, plötzlich schaltet sich das Ganglicht ein. Naja, ich bin ja schon in der Wohnung. Glück gehabt. Ich spähe durch das kleine Guckloch hinaus und ich sehe: Es kommen doch tatsächlich der Nachbar und seine Frau nachhause. Da muss ich aufpassen und sehr leise sein. Wie dunkel es ohne Licht in der Wohnung ist. Üblicherweise gibt die Straßenbeleuchtung ein wenig Licht. Ah, nach dem Gewitter – sie ist ausgefallen. Warum tue ich mir das eigentlich an und komme in der Nacht hierher?

„Du bist doch froh, dass du diesen Ort verlassen konntest“, sage ich zu mir selbst. „Warum zieht es dich hierher?“ „Ich möchte die Dunkelheit befragen, ihr lauschen, was sie mir erzählt über meinen siebenjährigen Aufenthalt hier. Im Dunkeln müssen die Augen schweigen, sie können nicht ständig plappern und ihre Urteile von sich geben. Die Ohren – sie lauschen, sie empfangen, sie haben weniger Vorurteile, von ihnen erwarte ich einen neuen Gesichtspunkt, weil ich auf der Suche nach einer neuen Art der Wahrnehmung meiner Erlebnisse bin.“

 

So taste ich mich mit meinen Fußsohlen über den Holzboden. Welch neue Wahrnehmung, die Fußsohlen so genau zu spüren, den Bodenkontakt zu fühlen.

Aua, was war das jetzt? Es fühlt sich weich an. Ich bücke mich und hebe es auf, ein Stück Taschentuch, nein! Ich taste das weiche Stück ab: Zwei kleine Knöpfe – etwas Spitzes, ein Schwänzchen. Ach so, es kann nur eine Stoffmaus von meiner Katze sein! Ich nehme sie an mich. Mittlerweile bin ich im Musikzimmer angelangt, wo ein schwarzer Flügel in der Mitte stand und viele Menschen hier ein- und ausgegangen sind. Sie sind um das Klavier im Kreis gestanden und haben gesungen. Ein großer Zweifel hat sie hierher geführt. Sie wollten es zu Recht nicht glauben, dass sie kein einfaches Lied nachsingen können.

„Ich treffe den Ton nicht, ich kann den Ton nicht richtig nachsingen, ich schäme mich dafür, dass ich falsch singe. Meine Eltern haben immer gesagt, sei still und singe nicht mit, du störst mit deinem falschen Singen“, war zu hören.

Es ist dunkel hier. Am Boden setze ich mich nieder und ich lausche in die Finsternis: Sind die Ängste der Menschen noch hier?

Ich sitze am Boden und lausche dem Unsichtbaren und Unhörbaren. Ich sitze gerne in der Dunkelheit. Weit entfernt höre ich Bässe einer Stereoanlage und Autogeräusche von der Straße. Dann wieder Stille! Ich mache es mir bequem und lehne mich an die Wand, hoffentlich schlafe ich nicht ein.

„Gibt es nicht sinnvollere Dinge, als Menschen unbedingt singen beizubringen?“, höre ich eine Stimme sagen. Habe ich das jetzt geträumt, bin ich eingeschlafen? Stille!

„Gibt es nicht sinnvollere Dinge, als Menschen unbedingt Singen beizubringen?“, tönt es jetzt noch einmal eindeutig aus der Stille wie mit tiefen Stimmen gesprochen.

Ich denke kurz nach und dann muss ich über diese dumme Frage laut lachen. Da fällt mir ein, dass ich darüber nicht lachen brauche, zumal ich dieses Argument von vielen Menschen hier immer wieder gehört habe, dass Singen etwas völlig „Nutzloses“ ist, das sie sich aber jetzt einmal gönnen möchten.

Zu meinen unsichtbaren Gesprächspartnern spreche ich laut:

„Oh ja, es ist etwas höchst Sinnvolles, wenn ein Mensch entdeckt, dass er singen kann. Singen gibt Mut, dass jeder Mensch ein Recht auf seinen eigenen Klang hat. Aus einem Lied von zwei verschiedenen Menschen gesungen, werden plötzlich zwei verschiedene Lieder. Es gibt kein stärkeres Bekenntnis zur eigenen Individualität, zum eigenen Wesen, als die Erfahrung der eigenen Stimme.“

„Wir brauchen keine Individuen, wir brauchen Menschen, die sich in das Gute wie in das Schlechte der Gesellschaft einfügen und eine Leistung für die Gemeinschaft erbringen“, raunen mir chorische Stimmen entgegen.

„Ihr seid also noch hier, ihr Gedanken der Täuschung. Ihr leitet die Sinnsuche der Menschen in die Irre. Ihr leugnet vor allem das individuelle Wesen der Menschen“, entgegne ich.

„Das wollen alle, etwas Besonderes sein. Zeigt eure Besonderheit in der Leistung“, tönt es zurück.

„Wir sind etwas Besonderes, jeder von uns. Das müssen wir nicht durch eine besondere Leistung beweisen“, erwidere ich bestimmt. Ich warte. Nichts ist zu hören.

Vom langen Sitzen ein wenig steif geworden gehe ich erregt herum. „Leise“, fällt mir ein! Dann taste ich mich wieder zum Musikzimmer, um meine Tasche zu holen. Wo ist sie denn? Mit dem Fuß suche ich den Boden ab. Sie war doch eben noch hier, sie muss ja hier sein!

„Hoffentlich mache ich keinen Fehler“, höre ich unvermittelt. „Hoffentlich singe ich nicht falsch, ich habe Angst etwas falsch zu machen“, höre ich weiter.

„Ja, jetzt zeigt ihr euch“, denke ich mir, „früher habt ihr euch versteckt! Ihr Kräfte der Angst.“

„Und wie schafft ihr es in den Menschen hineinzukriechen?“, frage ich.

„Das geht ganz einfach. Wenn der Mensch überfordert ist, zu wenig Ruhe sich gönnt, Probleme hat, wenn er nicht bei sich ist und sich nicht mehr spürt, dann kommen die Selbstzweifel und dann schlüpfen wir durch dieses Tor des Zweifelns in ihn hinein. So einfach ist das. Wenn wir einmal hier sind, dann haben wir schon gewonnen, so schnell seid ihr uns dann nicht mehr los“, triumphieren sie.

„Ja, das habe ich bemerkt, ihr seid noch immer hier.“

„Wir sind leider weniger geworden, aber es reicht noch immer um Menschen zu überzeugen, dass Fehler machen eine Schande ist“, fügen sie selbstbewusst hinzu.

„Danke, für heute reicht es mir.“

Wie durch Zufall ertaste ich meine Tasche und steuere den Ausgang an. Außerdem ist es höchste Zeit zu gehen, es beginnt zu dämmern. Fehler machen ist eine Schande? stößt es mir auf, in welchem Jahrhundert lebe ich denn eigentlich?