Read the book: «Dr Crime und die Meister der bösen Träume», page 2

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FOLGE 2
WAS BISHER GESCHAH

Eva und Leon stehen in der Nürnberger Margarinefabrik hinter

dem DJ-Pult vor einer Stahltür, auf die eine Neun gemalt ist.

Kurzerhand öffnet Eva die Tür und sie schlüpfen hindurch …

Die Musik macht augenblicklich anderen Geräuschen Platz. Tierlaute, Wasserrauschen, Blätterrascheln. Wir stehen mitten im ecuadorianischen Regenwald. Eine Affenhorde tobt über unsere Köpfe hinweg und stößt schrille Schreie aus. Bunte Papageien hocken auf Ästen und legen ihre Köpfe schräg, um die Eindringlinge anzuglotzen. Uns. Und nach wie vor plärrt die Stimme in meinem Kopf: „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

„Hier lang!“, dirigiert Eva und ich versinke knietief im Matsch am Ufer eines etwa zwei Meter breiten Baches, der flach genug zu sein scheint, dass man ihn durchwaten kann, wenn man sich nur nicht so blöd anstellt wie ich.

„Vorsicht!“ Sie reißt mich am anderen Ufer zur Seite. Ich verrenke meinen Hals und starre direkt in Kaas sich spiralförmig drehende Pupillen.

Soll ich mir Sorgen machen, weil wir in Mittelamerika einer Cartoonschlange begegnen? Soll ich mir Sorgen machen, weil wir auf einmal Tausende von Kilometern von unserem Ausgangspunkt entfernt sind? NEIN! Zugegeben: So was passiert auch mir nicht alle Tage, aber wenn, dann bin ich jemand der zupackt und keine Fragen stellt.

Währenddessen singt der mittlerweile zu einem gewaltigen Männerchor angewachsene Gesangsverein in meinem Ohr: „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

„Dort ist es“, sagt Eva und kriecht unter einer massiven, mit seltsamen Zeichen verzierten Steinplatte in eine dreieckige Öffnung, die in der Höhe knapp einen Meter misst. Links ist der obere Teil einer Säule zu sehen, von der diese Steinplatte abgestützt wird. Irgendwann einmal muss es weiter rechts ein Gegenstück dazu gegeben haben, das einst den Torsturz in der Waagerechten hielt. Doch diese Säule ist verschwunden, irgendwann umgestürzt, ihre Trümmer wurden überwuchert und vom Dschungel verschlungen. Der von ihr bis zu ihrer Zerstörung getragene steinerne Torsturz hat sich deshalb schräg in den schlammigen Dschungelboden gebohrt. Die noch sichtbaren Reste dieses Eingangs sind dermaßen wuchtig, dass er, wie ich mir vorstelle, seinerzeit groß genug gewesen sein muss, um einem Saurier hindurch zu lassen, falls es damals noch Dinos gab.

Ich folge Eva durch die dreieckige Öffnung und gelange ins Innere einer Tempelanlage.

Als ich zurückblicke, sehe ich, wie es draußen schlagartig dunkel wird. „Erstaunlich, wie schnell in den Tropen die Nacht hereinbricht“, sagt sie und greift nach meiner Hand. „Komm!“

Woher sie auf einmal die Fackel hat, weiß ich nicht mehr. Es gibt aber ohnehin nur einen Weg. Vorwärts. Die Wände des Gangs, der rasch so groß wird, dass wir nicht mehr zu kriechen brauchen, sind über und über mit Bildern und Bilderschriften verziert.

„Mayas“, kommentiert Eva knapp und unterbricht damit für eine wohltuende Sekunde: „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

Wir kommen in einen kreisrunden Raum, dessen Decke mit der ausgestreckten Hand nicht mehr zu erreichen ist. In der Mitte der Decke haben die Erbauer der Anlage eine ebenfalls runde Öffnung mit einem Durchmesser von etwa zwei Metern gelassen, durch die die Sterne des nächtlichen Himmels blinken. Unterhalb des Deckenfensters zur Nacht steht ein schlichter Steinkubus von vielleicht einem Meter Kantenlänge.

„Ein Altar“, sage ich, um Eva zuvorzukommen. Sie nickt und hebt den Deckel von der Schale, die in der Mitte auf dem Kubus steht. Im Sternenlicht sehen wir kleine blaue Perlen schimmern, mit denen die Schale bis fast zum Rand gefüllt ist. Ich erkenne, dass sich der Altar nicht exakt im Zentrum unterhalb der kreisförmigen Öffnung in der Kuppel befindet. Diesen Platz nimmt eine flache, kaum einen Fußbreit aus dem Boden ragende, an allen Ecken und Kanten abgerundete Lagerstätte ein, quadratisch und in der Fläche doppelt so groß wie der Altar.

„Irgendwie sieht das Ding aus wie ein Futon“, sage ich, während ich darauf Platz nehme. Die flache Erhebung lädt – obwohl aus Stein – zum Lümmeln ein.

Eva hockt sich mir gegenüber. Sie öffnet mit den Fingern zart meine Lippen und legt eine der Perlen auf meine Zungenspitze. Dann streckt sie mir ihre Zunge entgegen, auf der ebenfalls so ein rundes Ding ruht. Wie mechanisch und ohne dass ich von diesem eigentlich höchst prickelnden Vorgang das Geringste mitbekommen hätte, haben wir uns in einem Affentempo ausgezogen und sind jetzt splitterfasernackt. Ich spüre, dass meine Göttin nicht viel Zeit mit Vorspielen vertrödeln will. Nachträglich finde ich es ungemein schade, dass ich mich partout nicht mehr daran erinnern kann, wie ich Eva die Kleider vom Leib gerissen habe, aber manche Schlüsselmomente versacken im Nebel des Vergessens.

Jetzt dringe ich jedenfalls genau in dem Moment in sie ein, in dem sie mir ihre Zunge samt Perle in den Mund stößt. Wir schlucken beide die kleinen runden Kapseln und unsere Körper bewegen sich im Rhythmus unserer Lust.

Keinen Wimpernschlag später heben wir ab. Wir lassen die Atmosphäre unseres blauen Planeten hinter uns. Wir rasen in einem aberwitzigen Tempo an Mond, Mars und Asteroidengürtel vorbei.

„Bei Jupiter“, stöhne ich, „die Ringe des Saturn!“ und schon taumeln Neptun und der einsam-traurig-degradierte Pluto von uns fort. Die Sonne ist jetzt so winzig, dass ich Mühe habe, sie zu erkennen. Sirius kommt und geht. Wir sehen brennende Schiffe an der Schulter des Orion. Und schließlich wächst uns nach dem Pferdekopfnebel der spektakulärste Ort der ganzen Galaxis entgegen, wird immer größer, immer farbenprächtiger, immer atemberaubender.

Ich kann unmöglich erklären, wie zwei durch die Milchstraße rasende, im Liebestaumel ineinander verschlungene, nackte Körper atmen und zudem nicht augenblicklich zu schockgefrosteten Materieklumpen erstarren können. Muss aber auch gestehen, dass mir dieser Gedanke erst nachträglich in den Sinn kommt. Während unserer überlichtschnellen Schussfahrt durchs Universum sind wir voll und ganz und ausschließlich mit zwei Dingen beschäftigt: bumsen und staunen.

„Lor Els Auge“, flüstert Eva in mein Ohr. „Der jährliche Austragungsort der galaktischen Meisterschaft der besten Space-Surfer von hier bis Andromeda.“

Wir nähern uns der zentralen Raumstation, um die herum, an der vorbei und von der ausgehend die einzelnen Disziplinen ausgetragen werden.

Jetzt ficken wir nicht mehr.

Stattdessen ist der aus der Schwärze geborene Raum vor dieser grandiosen Kulisse mit aggressiven Hiphop-Beats erfüllt und der Männerchor von Wanne-Eickel rapt:

„Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an! Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

Die Station wird langsam größer und dreht sich aus unserer Perspektive zur Seite weg, sodass wir ungehindert auf das größte Naturwunder der Milchstraße glotzen können. Die farbigen Gasnebel erstrahlen in gelben, roten und leuchtend-blauen Farbtönen und sehen wie ein riesiges, Lichtjahre durchmessendes, weit aufgerissenes Auge aus, das gottgleich alles im Kosmos überblickt und unter Beobachtung hält. Selbst die kleinste Kleinigkeit, etwa das Verwehen mikroskopisch kleinsten Blütenstaubs auf einer Wiese am Ufer der Regnitz entgeht diesem allumfassenden Blick nicht.

„Die NSA ist sicher neidisch auf Lor Els Auge“, sage ich und verfalle angesichts der überwältigen Pracht dieses Gebildes in ein andächtig gedämpftes Flüstern. Mir wird, kaum habe ich diese Banalität von mir gegeben, trotz meines gedämpften Tonfalls übel, da ich fürchte, mit meinen Worten den Zauber jäh zu zerstören, der zwischen Eva und mir entstanden ist und der von der gewaltigen Pracht, die das Universum vor uns entfaltet, auf so unbeschreibliche Weise gespiegelt wird.

Gibt es Größeres als Sex in der freien Natur? Ja!

Sex im All und zwar dort, wo der Kosmos am schönsten ist!

„Das schwarze Loch in seinem Zentrum soll das stärkste in der ganzen Galaxis sein“, erwidert Eva in normaler, unbeeindruckt klingender Lautstärke. Ich bin enttäuscht und erleichtert zugleich. Mein mir selbst so unpassend erschienener Kommentar löst zwar keine Abwehr bei ihr aus. Andererseits hat sich auch in ihr eine eher nüchterne Stimmung breit gemacht. „Es erzeugt die besten Gravitationswellen, die man sich als Space-Surfer wünschen kann“, fügt sie hinzu, bevor sie meine Aufmerksamkeit auf ein im wahrsten Sinne des Wortes buntes Treiben an der Station lenkt.

Dort tobt eine Horde mit Spraydosen bewaffneter Äffchen, die allesamt in niedlichen, kleinen, quietschbunten Raumanzügen stecken. Die Köpfchen blicken flink durch die durchsichtigen, kugelförmigen Raumhelme hin und her. Sie hinterlassen auf der tristen grauen Außenwand der Raumstation eine immer größer werdende Spur bunter Tags und riesiger Bilder. Und während wir näher schweben, um die Kunstwerke noch genauer betrachten zu können, singt der Affenchor:

„Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an! Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

„Das muss aufhören!“, denke ich und beschließe, mich wieder auf jene Gemeinsamkeit zwischen Eva und mir zu konzentrieren, die uns hierher gebracht hat. Ich greife nach ihren Brüsten und spüre die apfelgroßen Kugeln in meinen Handflächen, fühle ihre harten Nippel, dringe wieder in sie ein und ein und ein und … gemeinsam kommen wir in einem gewaltigen kosmischen Urknall, zuckend und erschauernd, aller Sinne beraubt.

Beinahe aller Sinne beraubt. Denn aus den Augenwinkeln sehe ich noch das Ur-Grafitti an der Außenwand der Station:

Kilroy was here!

Ich lache und erwachte.

In meinem Bett.

Schlafblind tastete ich neben mir über Kissen und Decke. Niemand da.

Bitte sehr, wer sollte da auch sein?

Bettdecke, Laken, mein Schlafanzug – alles pappte und schien klebrige Fäden zu ziehen. Und während ich schlaftrunken grunzte, „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“ wurde mir bewusst, dass dies der farbigste all meiner feuchten Träume gewesen war. Und der ergiebigste. Ich musste mindestens einen halben Liter meines Safts von mir geschleudert haben.

Aber was ist mit Eva?

Falsche Frage.

Wer zum Teufel ist Eva?

Es sollte wohl besser heißen: Wer um Himmels willen ist Eva?

Ob es darauf in der nächsten Folge eine Antwort gibt?

FOLGE 3
WAS BISHER GESCHAH

Leon fragt sich, wer um alles in der Welt

diese Mondgöttin namens Eva ist …

Ihr Gesicht kam mir vage bekannt vor. Natürlich kenne ich die Mondstraße in Fürth, aber ich kenne niemanden, der dort wohnt, erst recht keine Eva.

Dann fiel mir etwas ein. Eine Ähnlichkeit.

Ihr Gesicht, so dämmerte mir, war eine Version von Frau Professor Dr. Lucia Meltendonck. Hatte ich ihre Titten in meiner Hand gespürt? War es ihr Hintern gewesen, den ich umklammert hatte?

Für ein Traumprotokoll mögen diese Aufzeichnungen ja nicht schlecht sein. Aber falls Frau Professor heute Nachmittag von mir verlangt, meinen letzten Traum aufzuschreiben, werde ich mir wohl was anderes ausdenken müssen. Sonst bin ich den Job schneller los, als ich ihn bekommen habe …

Dr Crıme:

Dieser schamlose Schlagmichtot liebt also auch maßlose Übertreibungen. Dass sich junge testosterongesteuerte männliche Primaten notorisch selbst überschätzen – geschenkt, davon lebt die prosperierende Autotuning-Branche neben vielen anderen, die männliche Eitelkeit streichelnden Geschäftsbereichen. Kann sich noch jemand an die Fuchsschwänze erinnern, die an Auto-Antennen baumelten?

Aber haben Sie schon mal von einem drogeninduzierten Weltraum-Sextrip gehört?

Vielleicht bin ich doch allmählich zu alt für solche Jobs. Jedenfalls hat mir die unappetitliche Schilderung gründlich die ohnehin gewohnt miese Laune verdorben, sodass ich schon befürchten muss, meine von mir sorgsam gepflegte schlechte Stimmung würde sich zusätzlich in einer Weise verfinstern, die dazu angetan wäre, mir tatsächlich den Tag zu verderben.

So jemandem wie Leon will man ja nicht mal in Gedanken die Hand schütteln.

Bevor ich auf meine erste Begegnung mit dem Meister zu sprechen komme, ist es an der Zeit, etwas klarzustellen.

Natürlich ist Dr Crıme – wohlgemerkt ohne Punkte – nicht der Name, der in meiner Geburtsurkunde stand. Punkte mitten im Namen sind wie Einschusslöcher – sollte man also vermeiden! Man gibt sich solche Namen nicht selbst, sondern bekommt sie verliehen. Es handelt sich mithin um eine Auszeichnung, die in meinem Fall auch damit zu tun hat, dass ich vor Jahrzehnten in einer meiner parallelen Existenzen erfolgreich eine Dissertation verteidigt habe. Nicht etwa in naheliegenden Fächern wie Jura oder Kriminologie, sondern – wie eingangs schon angedeutet – in Literaturwissenschaften. Ich bin nicht so dumm und werde hier den Titel verraten, sondern nur das grobe Thema anreißen: Mimesis und Heteroglossie.

Wissenschaftliche Arbeiten zu diesen literaturwissenschaftlichen Themenkomplexen gibt es einige Hunderttausend. Und selbst wenn ich verrate, dass ich mich in meiner Arbeit auf Erich Auerbach, Michail Michailowitsch Bachtin und William Empson bezog, wird ihre Zahl kaum kleiner. Ich erwähne das nicht, weil ich mir auf den akademischen Titel etwas einbilde, sondern weil dieser Umstand unserer Geschichte insofern eine besondere Wendung verleiht, als auch das Objekt meiner Observation ein angehender Literaturwissenschaftler ist. Allerdings keiner, mit dem ich mich unter normalen Umständen fachlich ausgetauscht hätte.

Meine erste persönliche Begegnung mit dem Meister hatte wenige Wochen zuvor stattgefunden.

Nicht, dass wir uns nicht längst kannten. Das bleibt kaum aus in einem Geschäft, das schon lange, bevor alle Welt vom globalen Dorf zu faseln begann, rund um den Erdball aufs Engste vernetzt war. Wir hatten zwangsläufig bereits in den frühen 1970er-Jahren voneinander Kenntnis genommen. Bei erfolgreich im weiten Feld internationaler, krimineller Machenschaften agierenden Akteuren lässt es sich kaum verhindern, dass in der Branche über sie gesprochen wird. Auch wenn dieser Klatsch und diese Gerüchte selten die Kreise derjenigen verlassen, die genau wissen, wem sie was erzählen dürfen und vor allem wem nicht. Nur selten erreichen diese in Umlauf befindlichen Geschichten die Gegenseite – also Polizei und Justiz. Und noch viel seltener bieten sie handfeste Anhaltspunkte, mit denen jemand wirklich festgenagelt werden könnte. Doch auch hier gibt es Ausnahmen und zwar dann, wenn sich eine Seite übervorteilt fühlt.

Unvergessen ist in diesem Zusammenhang der angebliche Coup der britischen Justiz gegen Tommy Adams, der seinerzeit in der Presse als bedeutender Schlag gegen das organisierte Verbrechen bejubelt wurde und der den bösen Buben für ein paar Jahre hinter Gitter brachte. Dabei wollten die übrigen Adams-Brüder ihrem unbotmäßigen Tommy nur einen Denkzettel verpassen, damit er sich künftig an die innerfamiliären Abmachungen hält. (Das stand selbstredend nicht in der Zeitung.)

Derartige Vorkommnisse sind dem Meister und mir nie widerfahren. Abgesehen von der unleugbar schlichten Tatsache, dass dies für den potenziellen Flötenspieler das letzte Konzert gewesen wäre.

Zum Glück ist die Welt des Verbrechens groß genug. Der Meister und ich sind uns nie ins Gehege gekommen. Das ist gut so. Denn bei zwei ausgewiesen durchsetzungsstarken Charakteren kann sich eine derartige Konfrontation rasch zu einem höchst unproduktiven Kräftemessen auswachsen und Situationen provozieren, die letztlich und unweigerlich zur Schwächung beider Seiten führen, wenn nicht ohnehin eine der involvierten Parteien ein unschönes Ende findet. Wobei noch anzumerken ist, dass selbst in diesem Fall der Überlebende keineswegs der Sieger ist.

Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.

Schließlich war auch ich einmal jung, leistungsstark und mit aller Macht darauf erpicht, meinen Ruf auszubauen, zu festigen und an meiner eigenen Legende zu stricken. Ich denke da an jene unschöne Begebenheit mit Roberto 1974 auf Lanzarote.

Der Auftrag damals war ebenso simpel wie lukrativ.

Die gelangweilte Gattin – nennen wir sie Mrs. X – eines erfolgreichen Industriellen der britischen Energiebranche – ein gewisser Mr. X – wünschte sich nichts sehnlicher als das baldige Ableben ihres Mannes.

Sie besaß eigenes Vermögen und war bereit, ein stattliches Sümmchen zu investieren, um ihr Anliegen zu realisieren.

Im Verlauf ihrer Ehe waren viele Gründe zusammengekommen, von denen jeder einzelne ihrer Ansicht nach ausgereicht hätte, dem ungeliebten Gatten ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Da gab es beispielsweise seine zahlreichen Affären mit kostspieligen Geliebten, die das gemeinsame Vermögen in einer Weise belasteten, die Mrs. X schlicht unerträglich fand.

„Über irgendwelche billigen Nutten aus Soho hätte ich hinweg gesehen“, sagte sie mir, als wir uns zu einem ersten Gespräch trafen, „aber diese Luxus- kann ich nicht tolerieren.“ Ich muss wohl, als ich ihr Schimpfwort hörte, eine Augenbraue hochgezogen haben, denn sie fuhr fort: „Entschuldigen Sie meine verbale Entgleisung, aber diese gierigen Schlampen habe keine bessere Bezeichnung verdient, jedenfalls nicht, wenn er sie mit meinem Geld stopft!“

Doch auch sie hatte sich längst anderweitig umgesehen. Sie hatte sich auf Lanzarote mit einem jungen, feurigen Conejero eingelassen, Sohn einer alteingesessenen Familie von Vulkanweinbauern, die weniger wegen des Weinhandels als vielmehr dank küstennahen Landbesitzes im Verlauf der touristischen Entwicklung der Insel zu einem gewissen Wohlstand gekommen war.

Außerdem hätte sich Mrs. X gerne dauerhaft auf Lanzarote niedergelassen und damit getan, was so viele ihrer Freundinnen bereits vor ihr getan hatten. Doch Mr. X weigerte sich, seine Frau allein in ihrem gemeinsamen Ferienhaus in Puerto del Carmen zurückzulassen, während er der Geschäfte wegen den größten Teil des Jahres auf anderen Inseln verbringen musste, die ohne Frage auch über landschaftliche Reize verfügen, wenngleich sie klimatisch weniger bevorzugt sind. Gemeint sind natürlich die britischen Inseln.

Wie bei solchen Geschäften üblich, gab es die Hälfte des vereinbarten Honorars im Voraus, die zweite Hälfte sollte nach erfolgreicher Erledigung des Auftrags ausgezahlt werden.

Während Mrs. X zur vereinbarten Zeit in Teguise, der früheren Hauptstadt Lanzarotes, die im Inselinnern liegt, zusammen mit ihrer besten Freundin eine kleine Töpferei besuchen sollte, um dort ihrer Leidenschaft, dem Erwerb bunt bemalter Teller und Krüge zu frönen und sich somit ein wasserdichtes Alibi zu verschaffen, erschoss ich Mr. X und als leider unvermeidlichen Kollateralschaden – heute sagt man Beifang dazu – zwei seiner Freunde in einem kleinen Fischrestaurant am Jachthafen von Puerto del Carmen.

Zur Tarnung trug ich eine Langhaarperücke, eine rot umrandete Sonnenbrille mit handtellergroßen Gläsern, einen breitkrempigen Strohhut sowie einen kessen Minirock. Selbstverständlich hatte ich nicht nur mein Gesicht, sondern auch meine Beine sorgfältig rasiert. Der Push-up-BH unter der Bluse war mit Abstand das unbequemste Kleidungsstück, das ich je getragen hatte. Kajal brauchte ich wegen der dunklen Sonnengläser nicht, aber ein farblich sorgfältig auf Hutband und Brillengestell abgestimmter Lippenstift verwandelte meinen Mund zum zentralen Punkt in einem pure Sinnlichkeit ausstrahlenden Gesicht. Ich gab mir jedenfalls alle Mühe, wie eine echte Frau und nicht wie eine abgewrackte Transe zu wirken. Das kann sich, wer mich heute kennt, kaum jemand vorstellen. Doch damals war mein Körper noch wesentlich anpassungsfähiger.

Außerdem waren die siebziger Jahre eine Zeit, in der in aller Öffentlichkeit mordende Frauen zum Alltag gehörten.

Wann immer es mir möglich war, habe ich meinen Opfern zur Erbauung ein paar schöne Zeilen mit auf ihren letzten Weg gegeben. Mr. X flüsterte ich, nachdem ich ihm und seinen Begleitern ins Herz geschossen hatte, zwei Verse des unglücklichen Theodor Däubler ins Ohr, darauf bedacht, dass nur er meine Stimme hören konnte:

„Und diese wird die Schranken brechen,

Sie reißt die Klammern jäh entzwei,

Wenn Flammen den Granit durchstechen,

Durchdonnert ihn ein Lebensschrei!

Ein Glutstrom stürzt nach der Verwundung

Der Rippen aus dem finsteren Ball,

Denn unterwühlt ward seine Rundung

Durch seinen inneren Flammenschwall!“

Wie viel Mr. X von meinem Vortrag noch mitbekommen hat, weiß ich nicht. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass während eines Mordes oftmals die Zeit für einige Augenblicke stehenbleibt. Dieses zeitlupenartige Sich-wie-durch-Sirup-Bewegen ereignete sich auch damals und gab mir so die Gelegenheit, mein Sprüchlein aufzusagen und unbehelligt wieder aus dem Lokal zu verschwinden.

Nachdem ich mich wenig später wieder in einen gepflegten jungen Mann mit kurzen Haaren und Schnauzbart zurückverwandelt hatte, hörte ich im Autoradio meines Mietwagens die Meldung, das fast auf die Minute zur gleichen Zeit in Teguise eine Mrs. X, die sich mit einem jungen Einheimischen in einer billigen Pension eingemietet hatte, nackt und stranguliert auf dem Bett liegend aufgefunden worden war. Den Conejero fand man bleich, ausgeblutet und ebenso tot wie seine Geliebte im ansonsten leeren Kleiderschrank. Es hieß, dass es noch unklar sei, ob er letztlich am Blutverlust gestorben oder an seinen bis tief in die Luftröhre gestopften Geschlechtsteilen erstickt war.

Mrs. X hatte sich also nicht an unsere Absprache gehalten. Warum sie derart leichtsinnig gewesen war, darüber konnte sie mir jetzt nichts mehr erzählen und ich nur spekulieren.

Soweit, so unschön.

Dennoch möchte ich aus heutiger Sicht dazu anmerken: Sie und auch ihr Liebhaber könnten noch am Leben sein, hätte sie sich – wie verabredet – mit ihrer Freundin getroffen. Der Killer, den offensichtlich ihr Mann umgekehrt auf seine untreue Gattin angesetzt hatte, hätte Mrs. X möglicherweise nicht in einem Töpferladen umgebracht. Schließlich erledigt nicht jeder Auftragsmörder seine Arbeit gerne vor mehr oder weniger großem Publikum. Ich vermute zudem, dass er die Frau zusammen mit ihrem Stecher umbringen sollte, wozu er in der Pension ja auch die passende Gelegenheit gefunden hatte. Deshalb ist es durchaus wahrscheinlich, dass der Mörder, sobald er vom plötzlichen Versiegen seiner Geldquelle, sprich dem gewaltsamen Ableben seines Auftraggebers, erfahren hätte, auf die Durchführung der Tat verzichtet hätte. Warum noch arbeiten und trotz präziser Planung die immer vorhandenen unkalkulierbaren Risiken eingehen, wenn der Auftraggeber die vereinbarte zweite Hälfte des Honorars nicht mehr zahlen und die bereits geleistete Anzahlung nicht mehr zurückverlangen kann?

Ich merke, dass ich inkonsequent bin und jetzt doch angefangen habe zu spekulieren. Dank des Leichtsinns von Mrs. X kam alles anders.

Abgesehen davon, dass ich diese Art Arbeit schon seit vielen Jahren nur noch in seltenen Ausnahmefällen eigenhändig erledige, würde ich – geschähe mir so etwas heute – zähneknirschend die zweite Hälfte des Honorars abschreiben. Nicht nur das. Ich würde versuchen, mit dem Kollegen Kontakt aufzunehmen. Er hat schließlich den gleichen Verlust erlitten wie ich. Ich würde mich verhalten, wie es selbständige Handwerker auf einer Baustelle tun, die eines Morgens erfahren, dass ihr Auftraggeber Pleite gegangen ist:

fluchen und zusammen einen trinken gehen.

Doch damals war ich jünger, dümmer, gieriger und noch längst nicht in der Komfortzone meiner reiferen Jahre angelangt. Das heißt, ich war nicht nur angepisst.

Ich war stinksauer.

Eine unbestimmte Zeit verbrachte ich in meinem Mietwagen bei heruntergekurbeltem Seitenfenster mit Atemübungen, um nicht um mich ballernd die halbe Inselbevölkerung zu liquidieren, was ja zutiefst unproduktiv gewesen wäre und nur noch weiteren Ärger provoziert hätte.

Als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, versuchte ich herauszufinden, wer jetzt mit der zweiten Hälfte des eigentlich mir zustehenden Honorars herumlief.

Ich war schon damals recht technikaffin. Deshalb hatte ich das Autoradio des Mietwagens mit ein paar Handgriffen um zusätzliche Frequenzen erweitert. Ein Eingriff, der sich genau so leicht wieder rückgängig machen ließ. Zudem ist mein Spanisch ganz passabel. Es war also kein Problem, den lebhaften Funkverkehr der Guardia Civil abzuhören. Hier erfuhr ich, dass der eiligst von Gran Canaria eingeflogene Comandante seinen ihm zugeordneten Subteniente nach kurzer Lageschilderung mit einem einzigen Wort seine Theorie des Tathergangs erläuterte: „Anarchisten!“

„Terroristen?“, so der Subteniente. In der in Frageform gekleideten Antwort des Unteroffiziers war in komprimierter Form die komplette Kulturgeschichte militärischer, respektive quasimilitärischer Verhältnisse zwischen Befehlshabern und den ihnen untergeordneten Rängen enthalten.

Befehl ist Befehl.

Was der Chef sagt, ist heiliger als alle heiligen Schriften zusammen, selbst dann, wenn er nicht in der Lage ist, Zucker und Salz am Geschmack zu unterscheiden.

Trotzdem konnte der Comandante das rektal verabreichte Zäpfchen des Subteniente natürlich nicht unkommentiert lassen, sondern erwiderte: „Anarchisten, Terroristen. Ist das nicht dasselbe?“

„Jawoll – Comandante.“

Für den Bruchteil einer Sekunde war ich irritiert.

Der Unteroffizier sagte „jawoll“ – auf Deutsch – nicht „si!“ oder „comprende“. Den Hauch eines Augenblicks lang dachte ich, sie wüssten, dass ich ihren Funkverkehr abhörte, aber dann wurde mir klar, dass der Subteniente ein noch nicht außer Dienst gestellter Veteran des Bürgerkriegs sein musste, in dem sich Generalissimo Franco von den Deutschen bekanntermaßen nicht nur hatte beraten lassen.

Die an ein Eifersuchtsdrama gemahnenden Hinweise seien eine perverse, aber leicht zu durchschauende Tarnung der „republikanischen Schweine“, erläuterte der Vorgesetzte gönnerhaft. Das würde letztlich auch die Spurenlage beweisen.

Ich überlegte kurz, ein Bekennerschreiben einer antiimperialistischen Befreiungsfront für die Autonomie der Kanarischen Inseln zu verfassen, wusste aber nicht, ob es die nicht möglicherweise sogar gab. Da meine Niedertracht nicht so weit ging, zu den ohnehin entstandenen Kollateralschäden ohne Not im Nachgang noch weitere hinzuzufügen, verwarf ich diesen Gedanken wieder. Wer gegen die Diktatur Francos opponierte, hatte es auch ohne böse Scherze schon schwer genug.

Dann folgte im Funkverkehr der beiden Guardia Civil-Offiziere der entscheidende Hinweis: Der Killer von Teguise hatte seine beiden Opfer mit dem reichlich geflossenen Blut des jungen Weinbauern signiert.

Mit einem großen roten R.

Eine elektrisierende Botschaft.

R wie Roberto.

Ein R war das für ihn typische Zeichen, was natürlich nur Insider wussten. Für die Ermittler würde es wahlweise rebelión, revolución, resistencia oder rata (Ratte) bedeuten.

Zwar musste Roberto inzwischen ebenfalls von der unglücklichen Parallelität der Ereignisse erfahren haben, doch er wusste mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, nach wem er umgekehrt suchen musste.

Ich dagegen schon.

Roberto war trotz seiner jungen Jahre bereits eine Legende. Jeder Regisseur hätte ihm sofort Probeaufnahmen angeboten, um zu sehen, ob er neben seinem strahlenden, alle für sich einnehmenden Aussehen auch noch ein Minimum an schauspielerischen Fähigkeiten vorzuweisen hätte. Und vielen wäre selbst das egal gewesen. Eine Rolle hätte er selbst dann bekommen, wenn seine Stimme wie die von Donald Duck geklungen hätte. („Dann wird der Bursche halt synchronisiert.“)

Es ist für einen Killer immer schlecht, wenn jeder sein Gesicht nach einem flüchtigen Blick wieder erkennt und vor allem Frauen – ohnehin oft die aufmerksameren Beobachter – sich dieses Antlitz ganz unwillkürlich tief eingeprägt hätten. Aber Roberto war Profi genug und hatte sicherlich alles Notwendige unternommen, um ungesehen in die Pension hinein- und wieder herauszukommen. Er würde sogar dafür gesorgt haben, dass ihn noch nicht einmal ein zufälliger Zeuge in Teguise oder auch nur im Inselinneren gesehen hatte. Als exzellenter, zuverlässiger und vor allem kaltblütiger Auftragsmörder war er ohnehin nur in jenen Kreisen bekannt, in denen die von ihm angebotene Dienstleistung nachgefragt wurde. Wie alle in der Branche wusste auch er, sollte er erst einmal in der Kartei irgendeiner x-beliebigen Polizeibehörde auftauchen und sei es lediglich als zweitklassiger Ladendieb, er wäre seinen Job los – zumindest die lukrativen Aufträge.

Aber er war wie die meisten von der Natur mit einem umwerfenden Aussehen bevorteilten Menschen extrem eitel. Es musste sehr schwer für ihn sein, wenn man das Plus einer blendenden Erscheinung so gut wie nie ausspielen darf. Wie schon betont, für Killer gilt: Unauffälligkeit ist Trumpf. Je langweiliger und nichtssagender einer wirkt, desto leichter tut er sich mit dieser Arbeit. Filme, die uns brillante Auftragsmörder vom Schlage eines Alain Delon zeigen, gehen deshalb so gut wie immer meilenweit an der Wirklichkeit vorbei.

Um diesen Widerspruch irgendwie auszugleichen, hatte es sich Roberto, der sich mit Delon die Merkmale dunkler Haare und blau-grauer Augen teilte, angewöhnt, seine Taten wie Kunstwerke anzusehen und sie, wie es die meisten Künstler tun, zu signieren.

Vermutlich hatte er Lanzarote längst verlassen.

Für mich wäre das nur im äußersten Notfall infrage gekommen. Es ist nicht nur eine Sache der Ehre, sondern der simplen Vernunft geschuldet, tunlichst lange und möglichst unauffällig in der Nähe zu bleiben. Natürlich nicht dort, wo es von Ermittlern wimmelt, sondern dort, wo man sich, etwa als Urlauber, schon zuvor aufgehalten hat. Nirgendwo sonst erfährt ein Profi mehr über den Stand der Ermittlungen als unter vielen tausend Touristen, deren Erholungsalltag auf einmal durch ein höchst aufregendes Ereignis zusätzliche Farbe bekommen hat. Touristen wie auch Einheimische, jeder dieser Menschen ist ein potenzieller Spion. Selbstverständlich muss man die Spreu vom Weizen trennen, aber es ist nun mal so, nach einer solchen Tat wird darüber geklatscht, was die mitunter magere Faktenlage auch hergeben mag. Da hat eine von der Freundin eines anderen, die jemanden bei der Polizei kennt, was gehört und so können sich mitunter in einem wüsten Meer von falschen Einschätzungen, Theorien und Gerüchten kleine Info-Perlen verbergen, die sich als extrem nützlich erweisen können.